Am Vorabend des Sieges – Zur Lage in dem von den USA geführten Krieg gegen Vietnam im Frühjahr 1975

Mitte Dezember 1967. In Nordvietnam ist die zweite Reisernte des Jahres im Gange. Zum Schutz gegen den amerikanischen Kugelhagel tragen die Bauern der Deltaprovin Huong Yen einen dicken Strohschild auf dem Rücken. © Foto: Irene Feldbauer

Berlin, BRD (Weltexpress). Im Frühjahr 1975 zeichnete sich die Niederlage der USA im Krieg gegen Vietnam, den sie seit 1965 in Südvietnam mit über einer halben Million Bodentruppen führten, ab. Die am 2. März 1972 zwischen der Demokratischen Republick Vietnam und der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams (FNL) auf der einen Seite mit den USA und ihrer südvietnamesischen Marionettenregierung unterzeichneten Pariser Friedensabkommen hatten die USA und Saigon systematisch Sabotiert. Das geschah, obwohl das Abkommen durch eine Internationale Vietnamkonferenz gebilligt worden war, an der die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sowie Ungarn, Polen, Kanada und Indonesien teilnahmen. In Artikel 1 mussten die USA, was sie bis dahin verweigert hatten, „Die Unabhängigkeit, Souveränität, Einheit und territoriale Integrität Vietnams, wie sie in den Genfer Abkommen über Vietnam von 1954 anerkannt wurden“, anerkennen. Sie mussten, was sie bis dahin ebenfalls verweigert hatten, in Artikel 2 nicht nur einen am 27. Januar 1972 um 24 Uhr Greenwich-Zeit beginnenden Waffenstillstand mit den kämpfenden Parteien im Süden vereinbaren, sondern in Artikel 3 auch das Verbleiben der Streitkräfte beider Seiten dort, wo sie sich befanden, akzeptieren. Das bedeutete die Anerkennung der befreiten Gebiete Südvietnams als von den Befreiungsstreitkräften kontrolliertes Territorium. Das schloss de facto ein, anzuerkennen, dass an der Seite Befreiungsstreitkräfte auch Nordvietnamesen kämpften.

Artikel 5 verpflichtete die USA, innerhalb von sechzig Tagen „alle Truppen, Militärberater und das militärische Personal einschließlich des technischen Militärpersonals und des im Zusammenhang mit dem Befriedungsprogramms tätigen Militärpersonals sowie Waffen, Munition und Kriegsmaterial“ abzuziehen. Diesem Personenkreis untersagte Artikel 4 bereits, sich in die inneren Angelegenheiten Südvietnams einzumischen. In Artikel 6 wurden die USA verpflichtet, ebenfalls binnen sechzig Tagen alle ihre Militärstützpunkte auf zu lösen. Das betraf auch alle in Südvietnam stehenden Streitkräfte der Verbündeten der USA aus SEATO-Staaten sowie aus Südkorea. Die Artikel 9 bis 14 enthielten Bestimmungen zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Volkes in Südvietnam. Beide Seiten, also die von der FNL gebildete Provisorische Revolutionäre Regierung (PRR), der von ihr gegründeten Republik Südvietnam RSV und die Saigoner Regierung, sollten unmittelbar nach dem Waffenstillstand „Konsultationen im Geist der nationalen Versöhnung und Eintracht, der gegenseitigen Achtung und der gegenseitigen Nichteliminierung durchführen, um einen nationalen Rat der nationalen Versöhnung und Eintracht“ zu bilden, der „freie und demokratische allgemeine Wahlen“ vorbereiten sollte.

Mit Inkrafttreten des Waffenstillstands in Südvietnam wurden die USA verpflichtet, die gesamten militärischen Aktivitäten ihrer Boden-, Luft- und Seestreitkräfte gegen das Territorium der Demokratischen Republik Vietnam einzustellen und die Verminung der vietnamesischen Gewässer zu beenden. Die USA verpflichteten sich zur sofortigen Minenräumung.

Artikel 15 sanktionierte die Wiedervereinigung Vietnams und legte fest: Sie „soll Schritt für Schritt mit friedlichen Mitteln auf der Basis von Diskussionen und Abkommen zwischen Nord- und Südvietnam ohne Zwang oder Annexion durch eine der beiden Parteien und ohne ausländische Einmischung herbei geführt werden“. In diesem Zusammenhang bestätigte das Abkommen ausdrücklich den in den Genfer Abkommen von 1954 festgelegten provisorischen Charakter der militärischen Demarkationslinie am 17. Breitengrad. Zur Realisierung des Abkommens wurde in dem Pariser Vorort La Celle-Saint Cloud eine Konsultativkonferenz der beiden südvietnamesischen Seiten eingerichtet.

USA und ihre Saigoner Marionetten sabotierten die Pariser Abkommen

Die Pariser Abkommen stellten eine katastrophale Niederlage der amerikanischen Vietnampolitik dar. Mit ihrer Einhaltung hätte Washington noch halbwegs das Gesicht wahren und sich vertragsmäßig aus Vietnam zurückziehen können. So war Frankreich 1954 verfahren. Anders die USA. Um neuen militärischen Niederlagen zu entgehen, zogen sie nach zahlreichen Verzögerungsmanövern zwar ihre noch verbliebenen Truppen ab, kamen aber ihren weiteren Verpflichtungen nicht nach. Sie ließen ihre Militärberater und andere Militärexperten in Stärke von 25.000 Mann in Südvietnam, die ihre Tätigkeit als „Zivilisten“ fortsetzten. Die USA verletzten die Bedingungen über den Ersatz militärischen Materials, der beiden Seiten gestattet war. Bereits in der Zeit vom 28. Januar bis zum 10. Juli lieferte das Pentagon der Saigoner Armee zusätzlich 696 Flugzeuge, 1.100 Panzer, 800 Geschütze, 204 Kriegsschiffe und weitere militärische Ausrüstungen, darunter chemische Kampfstoffe und Unmengen Munition.

Die Armee des Saigoner Präsidenten Thieu

sollte zu neuen Kampfhandlungen gegen die Befreiungsarmee befähigt werden, zu denen sie auch schon bald überging. Wie die PRR in einer im Januar 1975 veröffentlichten Dokumentation nachwies, führte die Saigoner Luftwaffe im Zeitraum vom Januar 1973 bis Januar 1975 29.897 Luftangriffe auf die befreiten Gebiete bzw. über ihnen Erkundungsflüge durch. 48.354 mal beschoss ihre Artillerie deren Territorium und 59.794 mal drangen ihre Bodentruppen ein. Insgesamt wurde der Waffenstillstand durch Saigon 532.154 mal verletzt. Bei „Befriedungs“-Operationen wurden Zehntausende Menschen, wie in den Jahren vorher, meist Frauen, Kinder und ältere Menschen getötet oder verletzt. Die Saigoner Behörden verweigerten nicht nur die Freilassung von rund 200.000 eingekerkerten Menschen, sondern warfen weitere 60.000 Personen, die sich für die Verwirklichung der Pariser Abkommen einsetzten, in die Gefängnisse. Die Leitung der Saigoner Militär- und Geheimdienst-Operationen lag unverändert in den Händen der Militärs des Pentagon bzw. der CIA, deren Zentralen sich nun in der USA-Botschaft befanden. In den Stützpunkten von Da Nang, Nha Trang, Bien Hoa und Can Tho, die wie alle anderen amerikanischen Basen nicht aufgelöst, sondern der südvietnamesischen Armee übergeben worden waren, bildeten US-Konsulate die Kommando-Zentralen. Der „U.S. News & World Report“ schrieb am 4. Februar 1974, die Saigoner US-Botschaft bilde das „Ost-Pentagon“, ein „gefechtsbereites Zentrum, das sich in nichts von einem Kommandoposten aus der Zeit unterscheidet, als die Amerikaner noch am Kampf teilnahmen.“

Präsident Thieu betrieb, ermuntert von den USA, in aller Öffentlichkeit die Sabotage der Pariser Abkommen. Am 9. März 1973 erklärte er seine Regierung und seine Armee „zur einzigen in Südvietnam“. Am 12. Oktober drohte er, wer sich als „Neutralist oder Pro-Kommunist bezeichnet, überlebt keine fünf Minuten“. Am 28. Dezember 1973 kündigte er an: „Es wird keine Wahlen geben, keinen Frieden, und die Konferenz von La Celle-Saint Cloud wird niemals zu einer politischen Lösung führen.“ Am 16. April 1974 verließen die Vertreter Saigons die Konferenz, die damit abgebrochen wurde

Die letzte Offensive in Vietnam

Proteste gegen die Verletzung der Pariser Abkommen seitens der RSV und der DRV, Appelle eine friedliche Reglung nicht zu blockieren und Warnungen, dem nicht länger tatenlos zu zusehen, verhallten ungehört. Angesichts dieser Situation begann die Befreiungsarmee, sich ab Oktober 1974 auf ihre letzte große Offensive vorzubereiten, der als Ziel gesetzt war, das Thieu-Regime zu stürzen und ganz Südvietnam endgültig zu befreien. Sie wurde von dem RSV-General Van Tien Dung geleitet. Zwischen dem 4. und 18. März 1975 gingen die Truppen in drei Gruppierungen zeitlich gestaffelt im Norden, im zentralen Hochland und nördlich von Saigon zum Angriff über. Die Wucht der Offensive und ihre moralische Wirkung ergaben sich daraus, dass die Befreiungsstreitkräfte bedeutend stärker als vorher in modernen Gefechtsformationen angriffen und der Gegner die Luftüberlegenheit verlor.

Das zeigte sich am 11. März beim ersten Angriff auf den schwer befestigten Stützpunkt Be Me Thuot im Norden. Nach intensivem Artilleriebeschuss stießen Panzer mit aufgesessener Infanterie vor und nahmen die Festung in nur vier Stunden ein. Dieser Handstreich war möglich, weil die Bevölkerung der Region mit einem Aufstand den RSV-Einheiten den Weg bahnte. Der AFP-Korrespondent Paul Léandri bestätigte in einem Bericht, dass „die lokale Bevölkerung eine entscheidende Rolle bei der Vertreibung der Regierungstruppen aus dem zentralen Bergland gespielt habe“ („Le Monde, 2. April 1975). Die Polizei des Regimes rächte sich, in dem sie ihn am 14. April auf offener Straße ermordete.

Bei ihrem weiteren Vormarsch vernichteten die Befreiungskämpfer mehrere Truppenteile oder setzten sie außer Gefecht. Nach der Einnahme von Quang Tri drangen sie auf die alte Kaiserstadt Hue vor, die ihnen am 25. März fast kampflos in die Hände fiel, da die Südvietnamesen in wilder Panik nach Da Nang flohen, um sich dort auf Schiffe der 7. Flotte zu retten. Der Zerfall des Regime zeichnete sich bereits ab. Einheiten der Saigoner Armee lösten sich auf, viele ihrer Soldaten zogen plündernd durch die Straßen. Marines der Marionettenarmee vergewaltigten Frauen und schossen sich den Weg zu den Schiffen am Kai frei. Am 29. März befand sich die einst als uneinnehmbar propagierte riesige Luftwaffen- und Marinebasis in der Hand der RSV-Truppen, die eine große Zahl von Waffen erbeuteten, darunter Dutzende Flugzeuge und etwa 200 Panzer.

Die amerikanische Militärführung versuchte, wie einst die Goebbels-Propaganda, ihre Saigoner Marionetten zum Widerstand bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone durch Angstparolen vor den „Viet Cong“ anzustacheln. Die Armeezeitschrift „The Arms and Strips“ titelt einen ihren Gräuelberichte: „Mindestens eine Million Südvietnamesen wird von den Roten ermordet werden.“ Die Parolen griffen jedoch kaum noch, zumal die Befreiungskämpfer gefangene Saigoner Soldaten oft einfach laufen ließen und sich das herum sprach. Die Guerilleros spazierten offen auf den Straßen, auf denen die Saigoner flohen. „Sie schwätzten mit den Dorfbewohnern und erzählten Witze, sie winkten den Soldaten der Südregierung zu, die sich in Lastwagen über den Highway One, die Hauptstrasse, zurückzogen. Ein handgefertigtes Plakat am Wege erklärte: ‚Sieg ohne Blutvergießen’“. Wo die Soldaten nicht flüchteten, ergaben sie sich. Ganze Truppenteile lösten sich auch einfach auf.

Thieu räumte überstürzt das zentrale Hochland, um die Front zu verkürzen und Saigon besser verteidigen zu können. Außerdem versuchte er, die USA zum Wiedereinsatz ihrer Truppen zu bewegen. Die Befreiungsarmee drang nun über das zentrale Hochland auf die Hauptstadt des Marionettenregimes vor. Es begann die letzte Etappe der letzten Offensive, die General Dung unter der Bezeichnung „Ho Chi Minh-Kampagne“ führte.

Am 8. April stieg der südvietnamesische Pilot, Leutnant Nguyen Thanh Trung, vom Luftwaffenstützpunkt Bien Hoa mit einer Northrop F-5 E auf und bombardierte den Präsidentenpalast. Anschließend landete er auf einem Flugplatz der Befreiungstruppen. Trung erhielt den Dienstgrad eines Hauptmanns der Befreiungsarmee und begann deren Piloten an erbeuteten A 37 auszubilden. An der Spitze von fünf dieser Maschinen flog er am 28. April einen Angriff auf den Flugplatz Than Son Nhut. Am Boden breitete sich lähmendes Entsetzen aus, als die Typen A 37 – also „eigene“ herabstießen und Bomben abwarfen. Sie zerstörten nur die Hangars, verschonten die Pisten, um sie nach der Einnahme des Flugplatzes selbst benutzen zu können.

Am 9. April wurden die ersten Stellungen im Vorfeld des Verteidigungsringes von Saigon angegriffen, der Flugplatz Than Son Nhut lag bereits in Reichweite der Artillerie der Angreifer. Am 19. April unterbreitete die PRR nochmals ein Friedensangebot. Einzige Bedingung, sie verlangte den Rücktritt Thieus. Es erfolgte keine Antwort.

Anmerkungen:

Siehe die Beiträge

im WELTEXPRESS.

Gerhard Feldbauer schrieb zum Thema mit seiner Frau „Sieg in Saigon – Erinnerungen an Vietnam“, Pahl Rugenstein Nachf., Bonn 2005, zweite Aufl. 2006, und „Vietnamkrieg“, PapyRossa, Köln 2013, zweite Auflage 2023

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