Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es gibt viel zu sehen auf der von Volker Hintermeier ausgestatteten Bühne. Schon beim Hereinkommen kann das Publikum hinter einem durchsichtigen Vorhang im Halbdunkel Unmengen von Gegenständen ausmachen. Die Flut der Dinge ist nicht aufzuhalten. Über den Köpfen der Zuschauenden ist eine rote Leine gespannt, an der eine Haarbürste, ein Topflappen und Babyspielzeug hängen.
Wenn Linda Pöppel den Vorhang beiseite schiebt, wird es auf der Bühne nicht viel heller, aber die Stimmung ist eher heimelig als düster, wie in einem voll gestellten Trödelladen. Zwischen Möbelstücken, Musikinstrumenten, einer Batterie Weinflaschen und zahlreichen größeren und kleinen Gegenständen steht in der Mitte ein Empfangstresen, hinter dem sich die Mutter (Barbara Schnitzler) räkelt.
Die Musicbox ganz hinten an der Wand funktioniert. Im Verlauf des Stücks werfen drei junge Leute dort Münzen ein, bringen sie zum Leuchten und Klingen und tanzen mit Albert-Camus-Masken zur Musik.
Regisseur Jürgen Kruse hat das karge Personal des Stücks ein bisschen aufgestockt. Anne Makosch, eine der jungen Frauen, erscheint auch als „Kommisarinerynis“, die beständig sehr konzentriert mit einem Besen Strohhalme hin und her kehrt. Einmal darf sie einen roten Farbfleck auf das Bettlaken sprühen, an dem Martha (Linda Pöppel) und ihr Bruder Jan (Manuel Harder) spielerisch zerren. Das gelbe Absperrband der Polizei vor der Bühne weist überdeutlich darauf hin, dass es sich hier um einen Tatort handelt.
Albert Camus fand den Stoff für sein Stück in einem Zeitungsartikel, in dem über einen Mord in einem tschechischen Dorf berichtet wurde. Die Geschichte ist absurd genug, um in Camus’ Weltbild zu passen: Ein Mann, in der Fremde reich geworden, kehrt nach zwanzig Jahren in sein ödes Heimatdorf zurück, wo seine Mutter und seine Schwester ein Gasthaus betreiben und wohlhabende Reisende ermorden und ausrauben. Die Frauen erkennen den Sohn und Bruder nicht, und er zögert den Augenblick hinaus, in dem er seine Identität preisgeben und Mutter und Schwester zu Wohlstand und Glück verhelfen will. Er zögert so lange, bis es zu spät ist.
2008 hat Gil Mehmert „Das Missverständnis“, ebenfalls in den Kammerspielen, mit sparsamen Mitteln sehr prägnant inszeniert. Auch in dieser Inszenierung war Jans Frau Maria, die erst ins Gasthaus kommen soll, wenn ihr Mann sich zu erkennen gegeben hat, wie eine Geistererscheinung an seiner Seite. Maria hat Angst um Jan, hat ihm von dem Versteckspiel abgeraten und ist in Gedanken bei ihm, von ihm unbemerkt, während das Publikum sie sieht.
Bei Jürgen Kruse scheint Jan seine Frau auch dann nicht zu bemerken, wenn sie real anwesend ist. Die AkteurInnen reden nicht miteinander. Meistens stehen sie an der Rampe und richten ihre Worte ans Publikum, dem sie vorrangig demonstrieren, was ein Missverständnis ist.
Das Wort Missverständnis kommt im Stück einmal vor, während es hier vielfach erscheint, oft zusammenhanglos und, eben missverständlich, mit verstellten Buchstaben. Auch andere Worte werden verdreht ohne dass dies zu bemerkenswerten Neuschöpfungen führt. Manchmal wird die Wortstellung in Sätzen so verändert, dass sich die Sprache wie deutsch von Ausländern anhört, und manchmal spricht die Mutter mit französischem Akzent. Manuel Harder flicht gelegentlich Schlagerzitate in seine Texte ein und bekam in der B-Premiere einen Lacher, weil er seine Frau als „Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren“, titulierte. Sonst wurde nicht gelacht, und zweimal verließen einige ZuschauerInnen den Saal. Manuel Harder sagt als Jan: „Diese Stunde ist nicht leicht“, und ein Zuschauer stimmte ihm lauthals zu.
Nicht nur eine, sondern knapp zwei Stunden dauert die Vorstellung, und die schleppen sich spannungslos dahin. Irgendwann taucht über der Bühne ein seltsames Gebilde auf, vielleicht einer der Planeten des kleinen Prinzen, senkt sich herab und entschwindet wieder.
Die Musik ist zusammengetrödelt wie das Bühnenbild. Neben französischen Chansons ein bisschen Wolf Biermann, „Mr. Tambourine Man“ auf deutsch, der rosarote Lampion von France Gall, und immer wieder fassen sich alle ganz plötzlich an den Händen und singen: „Fahrende Musikanten, das sind wir“. Dies ist einer der beiden Running Gags. Der andere ist der häufige Zwischenruf „Existenzialismus!“ von Jürgen Huth in der Rolle „der alte Knecht“, im Programmheft als „Alterstummerdienerknecht“ bezeichnet.
Bis auf Wort- und Satzverdrehungen und viele Wiederholungen ist an der Übersetzung von Guido G. Meister kaum etwas geändert. Jan kommt allerdings nicht nach zwanzig, sondern nach 19,99 Jahren nach Hause zurück.
Die SchauspielerInnen wechseln zwischen gekünstelter Sprechweise und Konversationston und haben, aufgrund der vielen Verfremdungseffekte, kaum Chancen, die von ihnen verkörperten Personen mehr als rudimentär zu skizzieren.
Trotzdem gelingt es Alexandra Finder, die wachsende Besorgnis von Maria und ihre Verzweiflung und ihr Entsetzen am Schluss ganz verhalten und anrührend zum Ausdruck zu bringen.
Auch Linda Pöppel setzt bemerkenswerte Akzente im Inszenierungschaos. Ihre Martha ist eine Kämpferin, überzeugt von ihrem Recht auf ein besseres Leben. Sie verschließt sich vor dem Mitleid mit ihren Opfern ebenso wie vor ihrer eigenen Verbitterung und setzt ihre Träume dagegen. Am Ende geht sie voller Zorn und Empörung in den Tod.
Diese schauspielerischen Leistungen vermögen jedoch den Abend nicht zu retten. Der Regisseur, der hier in seiner ganzen Allmacht präsent ist, serviert das Stück als einen Wust von Kleinteilen, die weder Sinn noch bedenkenswerten oder auch nur vergnüglichen Unsinn ergeben.
„Das Missverständnis“ von Albert Camus hatte am 3. Dezember Premiere in den Kammerspielen. Nächste Vorstellungen: 25.12.2017 sowie 03. und 13.01.2018.