Apocalypse Mallorca

Rector Street, New York City: Hier, im Stadtteil Lower Manhattan direkt neben der Wallstreet, residiert Daniel Libeskind hoch oben in einem altmodischen Wolkenkratzer. Besucher müssen am Eingang die obligatorische und lästige Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen. Dann geht es mit dem Fahrstuhl nach oben ins 19. Stockwerk.

Von hier aus laufen die Fäden zusammen für Libeskinds Projekte in aller Welt: ein Unterhaltungs- und Einkaufszentrum für Las Vegas, ein Theaterkomplex für Dublin, das militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden, die Stadtuniversität Hong Kong. An den Wänden hängen seine Neuentwurf für das ehemalige World Trade Center. Libeskind gilt als eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der internationalen Architekturszene. Zu seinen wichtigsten Projekten gehören der Masterplan für Ground Zero in New York und das Jüdische Museum Berlin.

Nichts scheint an seinen expressiven Bauten gewöhnlich zu sein: zickzackförmige Grundrisse mit labyrinthischen Räumen, schiefen Ebenen und spitzwinklig zulaufenden Wänden, die ein beklemmendes Gefühl der Enge und Orientierungslosigkeit beim Betrachter hinterlassen; gekippte Böden, auf denen man das Gefühl hat umzustürzen und schräge Decken mit unzähligen kleinen Lichtschlitzen.

Doch nur wenige wissen, dass der 1946 in Polen geborene Libeskind ein Atelier- und Galeriehaus entworfen hat – ein Bauwerk, das zugleich ein Gegenmodell zu den pompösen Atelierpalästen eines Makart, Stuck oder den geometrisch funktionalen Meisterhäusern eines Walter Gropius’ darstellt. Auf dem ehemaligen Tennisplatz der Künstlerin Barbara Weil steht Libeskinds wuchtiger, expressiver Entwurf. Nicht in Tokio, Paris oder Sydney befindet sich der Privatbau, sondern auf Mallorca in Port d’Antratx.

Das beschaulich-mondäne kleine Fischerdorf im äußersten Südwesten der Balearen-Insel gilt als Treffpunkt der Schickimickis und Reichen. Seinen Ruf verdankt es den reizvollen Berghängen, die mit Luxusvillen zugebaut sind. Hier wohn(t)en Claudia Schiffer und Sabine Christiansen; Heino, Udo Lindenberg und Michael Douglas speis(t)en in lauschigen Innenhöfen bei Gourmet-Romantik mit abendlicher Fackelbeleuchtung. Nebenan versucht Boris Becker sein Handicap mit den kleinen weißen Hartbällen zu verbessern. Pauschaltouristen und Ballermänner sucht man vergeblich. Wer die enge, gewundene Küstenstraße von Port d’Antratx weiter in Richtung der Halbinsel La Mola entlang fährt, kommt an der Deutschen Bank-Filiale vorbei, am „Matratzenlager“, an der Immobilienzweigstelle von „Engel & Völkers“, an kleinen Bodegas und internationalen Designer-Boutiquen. Es gibt einen Yachthafen, auf der anderen Seite der Bucht liegt ein Rentnerparadies, sagen die Einheimischen spöttisch, mit Villenappartements für all diejenigen, die über das entsprechende Kleingeld verfügen. Und dann plötzlich taucht der Libeskindsche Bau auf, der so gar nicht in diesen Ort der Stars und Sternchen passen will, die hier abseits der wö-chentlichen Talkshowroutine einmal auspannen wollen. Ein macht-volles, aus Beton gegossenes weißes Gebäude ragt in den bewölkten blauen Himmel.

Wie in all seinen bisherigen Entwürfen zeigt sich auch auf Mallorca Libeskinds Begeisterung zur Beton gewordenen Symbolik. Seine architektonische Urzelle und das eigentliche Meisterwerk ist das 1998 fertiggestellte Felix-Nuss-baum-Haus in Osnabrück. Nicht nur deshalb, weil es Libeskinds er-ster realisierter Entwurf war, sondern weil Form und Inhalt hier eine schlüssige Symbiose eingehen zwischen Architektur und der tragischen Biographie des Malers Felix Nussbaum, der während der NS-Herrschaft ermordet wurde.

Wie beim Jüdischen Museum in Berlin oder dem Imperial War Museum North in Manchester haben sich Libeskind und seine Mitarbeiter in Port d’Antratx für einen symbolischen, skulpturalen Gebäudekörper entschieden: Der zweigeschossige zylindrisch gestaltete Bau erinnert an einen Plattenspeicher und dokumentiert Libes-kinds geradezu obsessiven Hang zur Dramatik. Das Studio Weil wirkt wie eine gekrümmte Schild-mauer, in die ein riesiges Loch gebrochen wurde, wie eine Wunde, ein auf den Kopf gestellter Krater mit ausgefransten Rändern, der durch eine außen gelegene Treppe vom anderen Gebäudeteil getrennt ist. Eine „Open Gallery“, so Libeskind, einem Ein-schussloch ähnlich, vielleicht als Anspielung auf die Zerbrechlichkeit unserer Welt? Darin hängen Weils zwei bis drei Meter großen Skulpturen, eine Art öffentliches Schaufenster und Werbefläche zugleich. „Mnemonic Cartwheels“, nennt der Architekt seine Version eines zeitgemäßen Künstlerateliers und zitiert dabei den 1233 in Palma de Mallorca geborenen Philosophen Ramon Llull, der ein System konzentrischer Kreise zur Erklärung der Welt verwendet hatte.

Im Innern des Gebäudes hat man das Gefühl, Fremder und Entdecker zugleich zu sein. Der Grundriss ist alles andere als quadratisch, praktisch, modern. Stets kann man sich im Studio verirren, es gibt keinen Zentralpunkt, keinen zentralen Raum, um dem sich alles gruppiert. Stattdessen überall Verwinkelungen, Schrägen und Lichtschlitze, hinter jeder Wand lauert eine neue Perspektive. Nichts an diesem Ort scheint festgefügt. Auf 300 Quadratmetern lebt und arbeitet hier die US-Künstlerin Barbara Weil an ihren zerbrechlich anmutenden Gemälden und Plastiken.

750.000 Euro haben Werkstatt und Ausstellungsräume gekostet (Libeskinds Honorar nicht mitgerechnet), an denen die mallorcinischen Arbeiter über drei Jahre in Port d’Andrax gearbeitet haben. Das Studio Weil ist Blickfang und Fremdkörper, alles andere als eine unauffällige, von Akazien und Steinmauern umgebene Wochenendvilla. Mit all seinen Schrägen, Dunkelstellen und Lichtschlitzen steht er für Urbanität und Experiment auf Ballermann 6. Libeskinds Gebäude sind selber „Ausstellung“ und wollen besichtigt werden.

http://www.studioweil.com

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