Daß überhaupt aus soviel fotografischem Zeitgeist ausgewählt werden konnte, verdankt die Leiterin des Museums ihren Vorgängern, wo Jean-Christophe Ammann seit 1991 zehn Jahre und später Udo Kittelmann gleichbedeutend mit Malerei, Skulptur, Zeichnung, Film und Videoinstallationen die Fotosammlung zusammengetragen haben, die auszeichnet: „Dabei war für die Sammlungsstrategie stets das Bild selbst prägend. Nicht allein der Zusammenhang des Gesamtwerkes der Künstlerinnen und Künstler steht im Vordergrund, sondern jeweils die beispielhafte Bildqualität und der fotografische Ausdruck.“ Diese Ausstellung ist die erste von zwei vorgesehenen Sammlungsausstellungen (2012) und parallel zur Sonderausstellung in der Auswahl stark auf den Menschen, sein Porträt auch über das Gesicht hinaus, bezogen.
Zu sehen sind Serien oder ganze Werkgruppen von 23 Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeiten die verschiedenen Fotografieansätze seit den späten 50er Jahren bis heute aufgreifen. Natürlich sind – neben dem thematischen Bezug bei der Gesamtauswahl – auch im einzelnen Korrespondenzen gewählt worden, wie beispielsweise die Fotos der französischen Fotografin Bettina Reims sehen lassen, deren Akt- und Modefotografien, die einst so viel Skandal hervorriefen, eine Schnittstelle von Mode und Kunst besetzen.
Bleiben wir gleich in der großen Eingangshalle, wo die linke Seite eine riesige, aus 90 einzelnen Color Copy Prints bestehende Fotowand des Japaners Nobuyoshi Araki zeigt, die dieser eigens für das MMK und diese Ausstellung zusammenstellte. Unter den Buntfotos sieht man das Datum, Jahr, Monat, Tag ihrer Entstehung eingedruckt. Groß und bunt und natürlich mit all den gefesselten Schönen versehen, von denen uns schon Ammann einreden wollte, daß diese Gefesselten und Nackten – das muß man dazu sagen, denn erst so ergibt sich der entsprechende voyeuristische Kontext – ihre Fesselung und die Darstellung auf dem Foto als ’Befreiung` empfanden, als Befreiung aus ihrer in Japan sehr strikten Frauenrolle. Das ist für uns bis heute ein großes Fragezeichen und langweilt uns inzwischen – ehrlich gesagt.
Araki hat in der Eingangshalle nur eine Berechtigung, wenn man die Größe seines Konvoluts als Auswahlkriterium nimmt, das wohl im Museum alle anderen Künstler überflügelt. Inhaltlich nicht. Araki gehört nach Tokio. Das wird im Nebenraum deutlich. Denn dort zeigen ganz andere Bilder, wie sehr er sich mit dem Gesicht dieser Stadt zu allen Tageszeiten beschäftigt, wie sehr er die Veränderungen und Stimmungsschwankungen zu fassen sucht, wie auch in der gezeigten 54-teiligen Serie „Tokyo Comedy“ von 1997. Hier sieht man auch – eine gute Idee – in einer langen Vitrine, daß seine Tokio- Fotos Eingang fanden in Bücher, die jährlich mit anderer Thematik erscheinen, dort gerne gekauft werden, sozusagen Kult sind und wo die Bewohner einen ganz anderen Bezug gewinnen als der hiesige Besucher.
Warum wir dennoch noch bei Araki bleiben, hat mit einer Entdeckung zu tun, die für uns dann zu vielen Überlegungen führte. Es gibt nämlich in dieser Vitrine mit den Büchern und Fotos, ein älteres Bild einer Katze, die, so wie es Katzen bei geliebten Herrchen und Frauchen tun, sich quer über die Arbeitspapiere gelegt hat, auf den Rücken, die Augen vor Zärtlichkeit verdreht, den Bauch zum Streicheln preisgebend und die Pfötchen so sanft eingerollt, daß man das laute Schnurren geradezu hört. Eine solche Haltung nimmt eine Katze nur bei völligem Vertrauen dem Menschen; hier dem Fotografen ein. Das kann man nicht inszenieren. Im Gegensatz zu all den Menschen, die in den anderen Fotos auf ihr Geschlecht oder die Brust oder den Mund reduziert sind und nur noch Teil einer Inszenierung, aber nicht eines lebendigen Geschehens, geschweige denn Lebens sind.
Das fällt auf, weckt das Interesse und dann sieht man auf einmal auf der anderen Vitrinenseite schockiert das Bildnis einer, derselben toten Katze, inmitten eines Blumenmeers, aber in der Haltung eben genauso wie tote Katzen es auszeichnet, lange ausgestreckt sich in die Ewigkeit verabschiedet habend. Schön und traurig. Aber ein solches Bild hatte man doch gerade schon gesehen? Nur war es nicht die Katze, sondern das Antlitz seiner toten Frau, die schon 1991 an Krebs starb, hier verewigt im Blumenmeer. Die Katze Chiro gehörte Arakis Frau, erfährt man dann, und hat bis zum Sommer 2009 überlebt. Ihr sind mindestens zwei von Arakis Büchern – Katze in der Großstadt und ihr Totenbuch – gewidmet und man kann sich vorstellen, was ihr Leben und nun ihr Tod dem Fotografen bedeutet haben. Und stellt fest, daß einen das weitaus mehr interessiert, als diese brutalen, auf edel inszenierten Fotos der gefesselten Nackten.
Geht man dann noch mal zurück, zur großen Fotowand, sieht man den Tierfreund Araki bei der Feinarbeit. Eines der Bilder zeigt seinen Garten mit dem Wassergetier wie Krokodile, auch Echsen und sonderbare Dinosaurier und Weltraumgeschöpfe. Kein Wunder. Sie sind aus Plastik. Und genauso solche kleinen Untiere sitzen nun nah der Scham einer Schönen oder krabbeln über den Bauch oder gucken auch einfach nur zu. Ein Schelm also, dieser Araki, der in Tokio und in Frankfurt am Main einen Status genießt, den er sicher selbst genießt und deshalb gerne viele weitere großen und kleinen Fotografien nach Frankfurt schickt.
Doch, es gibt auch anderes. Viel zu viel, so daß es die Zeilen sprengt. Wir sind immer glücklich, wenn wir von Jeff Wall „Odradek“ sehen, das heißt: „Unikat, Táboristskí 8, Prague July, 1994. Wer es nicht kennt, der muß unbedingt den daneben stehenden Text lesen, sollte vorher aber einfach ins Bild gucken. Dann versteht er nämlich den Text von Kafka, der Grundlage des Bildes ist und ihm den Titel gibt, einfach besser. Und er versteht das Bild besser. In einem Leuchtkasten, wie es Art des Künstlers ist, sieht man auf einen geschmuddelten Hauseingang, auf dessen Treppe ein junges Mädchen niedersteigt. Unser Blick fällt aber vor allem auf das Undurchdringliche links neben der Treppe, von dem man annimmt, hier geht es zum Keller. Schluß. Gucken Sie selbst. Es lohnt.
Die Porträts von Thomas Ruff sind auch da und die hiesigen Damen Barbara Klemm und Abisag Tüllmann glänzen mit ihren Reportagenfotos. Anja Niedringhaus zeigt das Kriegsgebiet des Balkans von 1993 bis 2000. Larry Clark steuert viele Porträts bei, die einmal rund um die Zeit des Vietnamkrieges entstanden (1963-1971) sowie großformatige Porträts von fünf Teenagern aus dem Jahr 1991, von denen Mario Kramer, der Kustos der Sammlung und Kurator dieser Ausstellung sagt: „Nun ist es der eher distanzierte Blick auf die Jugendkultur einer sehr viel jüngeren Generation und deren Adoleszenz. Die Serien erscheinen wie Sreentests für Larry Clarks späteren Film Kids (1995).“ Interessant auch die 16-teilige Serie des Berliner Künstlers Tobias Zielony aus den Jahren 2009/2010, die beweisen, daß sich die Politiker in den Städten um diese gelangweilten, sich selbst als 08/15 stilisierenden Jugendlichen kümmern müssen. Denn man sieht förmlich in den Bildern wie aus Nichtdazugehören und Langeweile Halligalli und kriminelle Energie entsteht. Auf den Fotos noch nicht. Aber morgen sicher. Also nicht nur ein Thema für die Politiker, sondern für die Gesellschaft. Und das sind wir. Schön, daß Fotos auch noch aufrütteln können. Potentiell, wo man heute doch alles zeigen darf, auch viele schauen, aber wenige Konsequenzen ziehen.
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Sonderausstellung: bis 9. Januar 2011
Sammlungsausstellung: bis 25. April 2011
Die vielen Veranstaltungen zur Sonderausstellung bitte der Webseite entnehmen.
Katalog: THE LUCID EVIDENCE. Fotografie aus der Sammlung, hrsg. von Susanne Gaensheimer, Mario Kramer, Verlag für Moderne Kunst, Nürnberg 2010
Man könnte befürchten, daß der eine oder andere potentielle Besucher, den gewaltigen Katalogklotz kauft, aber den Besuch gleich läßt, nach Hause fährt, Urlaub nimmt und nun genügend Zeit hat, sich mit den Fotografien und Texten zu beschäftigen, die eines auszeichnet, daß man – wenn man genug hat – , den Klotz beiseite legt und wieder aufschlägt, wenn sie das Hirn durch andere Medien oder ein wenig Luft erholt hat. Tatsächlich ist ein Museum, das von oben bis unten voller Fotografien hängt, in der Rezeptionsmöglichkeit sehr einseitig, weil eine Ermüdung – Augen sowie Geist – eintritt, die durch die Gleichform des Mediums, nicht durch die Fotos selbst evoziert wird. Mit einem Wort: kaufen Sie den Klotz. Mit einem weiteren Wort: gehen Sie trotzdem hin.
Katalog: NOT IN FASHION. Mode und Fotografie der 90er Jahre, hrsg. von Susanne Gaensheimer, Sophie von Olfers, Kerber Verlag 2010
Während die Ausstellung nach Künstlern ’geordnet` ist, ein herkömmliches Prinzip bei Ausstellungen, sucht man dieses im Katalog vergeblich, flucht auch erst mal, wenn man ein bestimmtes Bild nicht findet, entdeckt dann, daß hier die ’Ordnung` der Bilder chronologisch erfolgt, also die Jahr ab 1990 kontinuierlich zeigen, was einen völlig anderen Blick ergibt, wird also zunehmend begeisterter für diese Präsentation und findet am Schluß, man müßte mit dem Katalog in der Hand durch die Ausstellung wandern und die Bilder in den Künstlerräumen dann noch einmal auf ihren Zeitbezug mit anderen Fotografen überprüfen. Beim ewigen Suchen nach Bildern fiel dann ein didaktischer Trick auf: durch das unentwegte Blättern sah man auf einmal Bilder, die man noch nie sah, obwohl man doch gerade in der Ausstellung war. Das ist immer so. Die Aufmerksamkeit nimmt ab, aber sie nimmt wieder zu, wenn der Kontext, wie hier, ein anderer ist. Sehr zu empfehlen also.
Internet: www.mmk-frankfurt.de