Es ist einem Unzufriedenen unmöglich, dem Menschen, welcher ihm am nächsten steht, nicht Mitschuld an der Unzufriedenheit zu geben. Noch einmal Tolstoi. Es ist kein ruhiger „Russischer Sommer für Lew Tolstoi (Christopher Plummer). Seine Frau Sofia (Helen Mirren) gibt ihm, den sie innig liebt, dreizehn Kinder geboren hat und dessen Arbeit sie unterstützt hat, Mitschuld an ihrer Unzufriedenheit. Ein neues Testament will er aufsetzen. Tolstois Freund Vladimir Tschertkow (Paul Giamatti) drängt ihn dazu, sein Werk dem russischen Volk zu vermachen, statt die Rechte bei Sofia zu belassen. Leise Ironie klingt im deutschen Verleihtitel an. Mit gefrorenem Lächeln sitzen sich Sofia und Tschertkow, der auf Tolstois Nachruhm bedacht ist, gegenüber. Die Sonne lacht, Sofia stürmt vor Zorn und in dem jungen Schriftsteller Walentin (James McAvoy) erwachen Frühlingsgefühle für das hübsche Hausmädchen Mascha (Kerry Condon). Und der große Lew Tolstoi? Er wird zur Nebenfigur, obwohl die Kameras, Michael Hoffmanns und der allgegenwärtigen Reporter im Film, immer ihn suchen. Sie finden die anderen, Sofia, Vladimir und Tschertkow. Der Tolstoi des Films ist lieber Beobachter als Beteiligter. Als er nicht mehr nur zusehen kann und sich zum Handeln genötigt fühlt, ergreift er die Flucht. Mit Tochter Alexandra (Anne-Marie Duff) steigt er in den Zug. Zur letzten Station, Astopow.
Tolstois Anwesen, auf welchem sein „Russischer Sommer“ vergeht, sieht so russisch aus, dass man sich in einer Theaterkulisse wähnt. Hinter dem Haus muss der Kirschgarten liegen und die Kleinbürger kommen zu Besuch. Der Hauch des Kulissenhaften passt in kurioser Fügung zu der Theatralik Sofia Tolstois. Die Räume werden ihr zu Bühnen, auf denen sie halb ohnmächtig niedersinkt, wie eine Ibsen-Heldin zur Feuerwaffe greift oder furiengleich Sätze äußert, die zu überspannt sind, um ernst genommen zu werden. Dabei ist es ihr bitter ernst, ihre Wut auf den Gatten berechtigt. Dass Sofia nicht aus ihrer Haut kann, nahezu zwangsläufig in überspanntes Gebaren gleitet, wird zu ihrer stillen Tragödie. Manche ihrer Tiraden sind gekünstelt, die Tränen sind echt. In stummer Gegenwehr zum melodramatischen Gemüt ihrer Mutter verbirgt Alexandra ihre Gefühle unter kühler Strenge. Dass er die Tochter auf seiner Reise mitnimmt, ist eine skurrile Konsequenz seiner Liebe zu Sofia. Nicht vor der Frau flüchtet er, sondern vor ihrem aufbrausenden Temperament. Es mahnt ihn an die geforderte Änderung seines Testaments, dessen Ungerechtigkeit Tolstoi innerlich bewusst ist. Auf der Flucht vor der gefühlten Schuld und derjenigen, die ihn daran erinnert, will er nicht rasten. Bis die ewige Ruhe ihn einholt. „Wir sind am Ende der Welt.“, sagt Alexandra bei der Ankunft in Astapowo. Es ist das Ende von Tolstois Welt, des letzten klassischen russischen Literaten seiner Zeit. Mit dem jungen Walentin Bulgakov beginnt eine neue Ära, die der Moderne.
Zusammensein ist für Lew und Sofia schmerzlicher, als Abschied zu nehmen. „Ein russischer Sommer“ endet ohne dramatische Todesszenen. Zu sehr wurde dergleichen im großartigen Spiel Helen Mirrens ironisiert, als das der Tod auf jenem Provinzbahnhof zum Melodram werden dürfte.„The last Station“ heißt Hoffmanns Film im Original, die letzte Station im Leben Tolstois. Eine ironische Doppeldeutigkeit, passend zu Hoffmanns verspielter Filmbiografie, die einer Tragikkomödie näher steht als einem Drama. Mangelnden Tiefgang will man ihm nicht vorwerfen. „Ein russischer Sommer“ braucht diese Milde, um seine Leichtigkeit zu bewahren. Alles verstehen heißt, alles verzeihen. Auch das Worte des Dichters.
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Deutscher Titel: Ein russischer Sommer
Originaltitel: The last Station
Land/ Jahr: Deutschland 2009
Genre: Filmbiografie
Kinostart: 21. Januar 2010
Regie und Drehbuch: Michael Hoffmann
Darsteller: Helen Mirren, Christopher Plummer, James McAvoy, Paul Giamatti, Anne-Marie Duff
Laufzeit: 113 Minuten
Verleih: Warner Bros.
FSK: Ab 6
Internet: www.einrussischersommer-derfilm.de