Nach einer weiteren halben Stunde verabschiede ich mich von meinen Gastgebern, denn ich möchte, so kurz meine Zeit auch bemessen ist, noch ein wenig mediterrane Atmosphäre tanken, bevor der Tag zu Ende geht.
Die großzügige Strandpromenade lädt zum Verweilen ein, aber ich richte meine Schritte unbewusst in die kleinen Gassen der Altstadt. Eine geheimnisvolle kleine unbekannte Welt ist es, die sich nun vor mir auftut.
Ein Flohmarkt mit Kunst und Krempel, verwinkelte Ecken, pittoreske Menschen: la France profonde.
In der Nähe des Opernhauses setze ich mich in ein Straßencafé und bestelle einen Pastis. Was für ein eigentümliches Gebäude, eine Mischung aus orientalischer Pracht, Jugendstil und Gotik. Puristen werden anhand solcher Worte natürlich die Nase rümpfen, aber die Atmosphäre des entspannt zu Ende gehenden Tages lässt solche Kleinigkeiten völlig unwichtig werden.
Es ist immer noch wie im Film: Der Kellner ist kaum größer als der Tisch an dem ich sitze und nuschelt seinen im südlichen Slang vorgetragenen Standardsatz herunter. Aber er ist entspannt und freundlich, und auch wenn er mir statt dem bestellten Pernod einen Ricard serviert, genieße ich die federleichte, spätsommerliche Atmosphäre (remember: im November!), die Farben der Häuser, das Treiben auf der Straße. Die Luft ist angenehm mild, die Passanten wirken „très relaxés“ und der Anblick der ganz eigenartig gestalteten Oper und überhaupt alles, stimmen mich sehr glücklich.
Zum kompletten Genuss fehlt jetzt nur noch, wie in alten Zeiten, „une cloppe“, eine Zigarette. Aber auch in Frankreich sind die Zeichen der Zeit mittlerweile auf rauchfrei gestellt: Als ich vor zwanzig Jahren das letzte mal französischen Boden betrat, gab es an jeder Straßenecke ein „Café Tabac“, durfte in Bars und Restaurants geraucht werden. Heute muss man Verkaufsstellen von „Rauchwaren“ mit der Lupe suchen und selbst auf der überdachten Freiluftterrasse meines Cafés ist das Rauchen verboten.
Man kann in Nizza ganz leicht viel Geld ausgeben, viele hochpreisige Eigentumswohnungen und Villen stehen in den Schaufenstern der Häusermakler zum Verkauf an. Auch sind Boutiquen der allerfeinsten Kategorie keine Seltenheit, urige Restaurants mit noch urigeren Preisen gibt es fast an jeder Ecke.
Keineswegs ist es aber so, dass in Nizza nur Schöne und Reiche wohnen.
In einem schmalen autofreien Durchgang zum Justizgebäude verrichtet eine junge, maximal pigmentierte und verhärmt wirkende Frau ein sehr menschliches Bedürfnis, während eine andere laut deklamierend ihre Siebensachen zusammenklaubt und zum Aufbruch drängt.
Als ich wenig später ein öffentliches „Pissoir“ aufsuche verstehe ich den Grund für die unangenehme Offenheit: An einem großen Platz gelegen versteckt es sich ein paar Stufen unter der Straße. Im Jugendstil eingerichtet, wirkt es sehr gepflegt, allerdings herrscht strikte Vorkasse, was ein energischer Mensch hinter einer Glasscheibe einem weiteren „Gast“ mit großer Gestik und vielen Worten vermittelt. Keine 30 Cent, keine Erleichterung. Am Ende meines Besuches gebe ich im 50, weil ich noch eine Auskunft benötige.
Denn es wird leider schon wieder Zeit sich Richtung Flughafen zu orientieren und so bekomme ich die Auskunft, mich wieder zum „Gare routière“ zu begeben.
Dass ich auch gleich in der Nähe einsteigen könnte, sagt er mir nicht, aber ich denke daran, dass auch in Berlin kaum ein Passant weiß, auf welcher Route der Flughafenbus genau verkehrt.
Ich bewege mich somit wieder zurück in die weite Großzügigkeit der prachtvollen Promenade und auch hier: an jeder zweiten Ecke ein Clochard wie aus der französischen Bilderfibel, nur Barett und Baguette fehlen zum Klischee.
Den Vogel schießt aber ein mittelalter Mann ab, der sich völlig befreit von den Sorgen des Diesseits, auf dem mit Palmen gesäumten Mittelstreifen bequem gemacht hat. Am Ohr einen Cassettenrekorder, eine „Kräuterzigarette“ rauchend, hat er sich so raumgreifend hingelagert, das seine barfüßigen Beine bis auf die Busspur ragen. Wer nun annimmt, der Verkehr würde ins Stocken geraten oder etwa ein Polizist oder Busfahrer würde deswegen einen Aufstand anzetteln, der liegt falsch.
Mit stoischer und anscheinend oft geübter Ruhe lenkt „Monsieur Le Conducteur“ seinen weiß-blauen Omnibus um die, im Grunde ja nicht weiter störenden, Füße des tiefenentspannten Mannes, der sich dann aber doch aufrichtet seien Gehwerkzeuge in den Schneidersitz überführt und weiter genüsslich an seinem Pfeifchen saugt.
Wieder angekommen am Flughafen Nizzas, bin ich immer noch benommen vom besonderen Zauber dieses Tages. Später am Abend, zurück im nasskalten Berlin, stapfe ich durch Pfützen im Dunklen nach Hause und weiß, das ich von diesem Tag noch lange zehren werde.
Merci pour cette journée incroyable.