Andererseits sind da zwei Bildschirme, auf denen Gesichter erscheinen, vielfach vergrößert, sodass jede Pore der Haut, jedes Fältchen, erkennbar ist und selbstverständlich auch der Ausdruck der Augen und die kleinsten Facetten der Mimik.
Das ist die Perspektive von Alceste, dem Menschenfeind, der angeekelt ist von der Gesellschaft, weil er den Menschen in die Gesichter schaut und dort die Täuschungen und Lügen erkennt.
Für das Publikum jedoch bedeutet der Blick auf die Leinwandgesichter keine Entlarvung.
Keine und keiner der AkteurInnen fällt aus der Rolle, und wenn die eine oder andere Figur im Stück lügt oder die Wahrheit sagt, dann geschieht das als überzeugende schauspielerische Leistung, gleichgültig ob dabei nur ein Gesicht zu sehen oder die Körpersprache in die Aussage mit einbezogen ist.
Nahezu sämtliche Dialoge werden via Bildschirm übermittelt. Dabei sehen die Beteiligten einander nicht an, sondern ihre nebeneinander erscheinenden Gesichter sind frontal dem Publikum zugewandt. Die SchauspielerInnen gehen sparsam mit ihrer Mimik um und artikulieren die gereimten Molière-Texte, ins Deutsche übertragen von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens, präzise und zurückgenommen. Dem Publikum wird also nicht etwas aufoktroyiert, sondern es darf die Geständnisse und Auseinandersetzungen belauschen und detailliert beobachten.
Jörg Pose als Alceste gelingt die Gratwanderung, als selbstgerechter Querulant dennoch sympathisch und rührend zu erscheinen. Alceste liebt Célimène, und in seiner Verwirrung und Verblendung will er die Geliebte dazu bringen, seine Menschenfeindschaft zu übernehmen, womit er Célimène der Reize berauben würde, mit denen sie ihn gefangen hält.
Die Klatschtante Arsinoé (Verena Reichardt) würde Alceste liebend gern in die Einsamkeit folgen. Arsinoé macht sich, ebenso wie Alceste, unbeliebt, indem sie Lügen aufdeckt und unangenehme Wahrheiten verkündet. Die Liebeserklärung, die peinlich und übermächtig aus ihr herausbricht, wird jedoch von Alceste kühl zurückgewiesen.
So rollt die unverstandene Arsinoé weiter mit elegant übereinandergeschlagenen schwarz bestrumpften Beinen im Rollstuhl herum, singt Alexandras Erfolgsschlager und bleibt bei dem Wort Zigeunerjunge hängen wie eine kaputte Schallplatte. Eine einsame Frau, die ganz unpassend und völlig vergeblich um Aufmerksamkeit buhlt.
Der Dichter Oronte begnügt sich mit einer Krücke, um seine inneren Leiden sichtbar machen. Alexander Simon gestaltet Oronte wundervoll manieriert genialisch, aber eben auch als einen Wahrheitssucher, der sich, weil er den Schmeicheleien, mit denen er bedacht wird, nicht glaubt, an den Wahrheitssager Alceste wendet. Dessen vernichtendes Urteil über seine Poesie will Oronte dennoch nicht hinnehmen. Hiermit hat Alceste wieder einmal gegen die gesellschaftlichen Spielregeln und sogar gegen geltendes Recht verstoßen.
Judith Hofmann ist eine hinreißende Célimène, verführerisch und warmherzig, leichtsinnig und klug, raffiniert und unbefangen. Sie versteht es, alle Herzen zu erobern. Zwar spielt sie mit ihren Verehrern, führt sie an der Nase herum, verbreitet heimlich Bosheiten über sie, aber sie bringt ihnen auch Anteilnahme und aufrichtiges Verständnis entgegen.
Célimènes Salon, den Bühnenbildnerin Anne Ehrlich wie ein hölzernes Schmuckkästchen gestaltet hat, ist ein Zuhause für die Einsamen, die sich dort immer wieder einfinden.
Da ist Philinte (Helmut Mooshammer), befreundet mit Alceste, ein abgeklärter Zyniker, der unglücklich in die junge Eliante verliebt ist.
Eliante (Caroline Dietrich), schön und selbstbewusst, liebt Alceste, bewundert aber auch Célimène und respektiert deshalb deren Beziehung zu Alceste.
Dann sind da noch die beiden Marquis: Acaste (Claudius Franz), sehr naiv, ein bisschen begriffsstutzig und überaus eitel, und Clitandre (Markwart Müller-Elmau), in dem, unter jovialen Gehabe, eine ganze Menge Bosheit steckt.
Die Gesellschaft löst sich auf, als am Ende Célimène als unmoralische Person entlarvt wird, von der alle sich hintergangen und verraten fühlen.
Es ist ein harter Schlag für Célimène, auf einmal allein zu sein und neben den weniger wichtigen Verehrern auch Alceste zu verlieren. Doch trotz allen Unglücks erscheint auch der Anflug eines spitzbübischen Lächelns auf ihrem Gesicht. Célimène wird sich mit neuen Gästen zu trösten wissen. Wirklich verloren wirken die Anderen mit ihrer moralischen Entrüstung.
„Der Menschenfeind“ von Molière, eine Übernahme vom Thalia Theater Hamburg, hatte Berlin-Premiere am 12.12. in den Kammerspielen. Weitere Vorstellungen: 18. und 22.12. und 08., 09. und 22.01.2010.