Gewinnerin ist: „Mehr Meer“ von Ilma Rakusa aus dem Droschl Literaturverlag – Serie: Der Schweizer Buchpreis und die Buch.09 in Basel (Teil 1/4)

Buchdeckel zu „Mehr Meer“ von Ilma Rakusa

Hintergrund für den mit 50 000 Schweizer Franken wohl dotierten Schweizer Buchpreis, den die LiteraturBasel und der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV ausrichten, ist es, die entstehende Literatur, die gerade erschienenen Bücher, stärker im Bewußtsein der Bevölkerung zu verankern, diese also als Leser anzusprechen, die sich an der aktuellen Literatur orientieren sollen. So sind von „Nach Hause schwimmen“, Verlag Hanser, des letztjährigen Siegers, Rolf Lappert, allein in der Schweiz über 17 000 Exemplare verkauft worden, eine sehr hohe Zahl für ein gebundenes Buch. Noch wichtiger aber sind die aus den Buchpreisen resultierenden Übersetzungen. Von daher hat die Preisträgerin Ilma Rakusa, deren Namensnennung als Gewinnerin des Schweizer Buchpreises auf der Baseler Buchmesse einen sehr langen und sehr herzlichen Beifall erhielt, völlig recht, wenn sie sagte: „Der Preis freut mich außerordentlich, durch den Preis wird Aufmerksamkeit für das Buch erreicht, es in weitere Sprache zu übersetzen: Ungarisch, Slowenisch, Italienisch, Französisch, Englisch.“ und damit auch auf den Inhalt ihres Werkes verwies, das durch das Aufwachsen und Leben in diesen Ländern eine europäische Dimension habe, und von dem sie nun weiß: „Das Buch wird sein Leben leben.“.

Tatsächlich sind die Übersetzungen deutschsprachiger Werke vorwiegend ins Englische, die den großen geschäftlichen Erfolg der deutschsprachigen Buchpreise (wann folgt Österreich?) ausmachen, die nun das Mißverhältnis von aus dem Englischen ins Deutsche gebrachte Titel zwar nur leicht verbessern, aber immerhin der deutschen Literatur wieder mehr Weltgeltung geben können. Was nun „Mehr Meer“ angeht, ist dies wirklich ein Buch Mitteleuropas, weil die Lebensspuren die Autorin, 1946 in der Slowakei von ihrer ungarischen Mutter geboren und Tochter eines slowakischen Vaters über die Stationen Budapest und Ljubljana erst einmal nach Triest führen, wo sie auf Italienisch aufwächst und wo sie das Meer kennenlernt, von dem sie nie mehr genug bekommen kann und sich immer „Mehr Meer“ wünschen wird, – einer wunderfein ausgedrückten Sehnsuchtsmetapher – was in diesem Buch, von ihr als „Erinnerungspassagen“ untertitelt, in 69 solcher poetischen Erinnerungsfetzen, in Impressionen, Gedichten, Realitäten wie Tagebucheinträge, Träume und anderem Lebenssubstanz gewinnt. Ein Aufwachsen nach dem 2. Weltkrieg, das später Zürich und damit das Deutsche zum Lebensmittelpunkt hat, von dem aus das Studium in Paris, das damals noch dem Orgelspiel galt, genauso so selbstverständlich erscheint, wie ihre Slawistikstudien in Zürich, Ungarn, Polen, St. Petersburg und dem heutigen Vilnius/Litauen. Denn nach der jugendlichen Lektüre von Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ – das ging Ilma Rakusa flott über die Lippen, während wir immer noch automatisch „Schuld und Sühne“ denken, einfach, weil das Buch damals so hieß – sei ihr der Drang nach Osten inhärent, betonte sie bei ihrer Dankesrede.

Heute kann man sagen, daß Ilma Rakusa ein Leben lebte, das auf die heutige Existenz Europas schon vorbereitete, von dem wir allerdings stärker den Begriff des Habsburger Reiches historisch in den Mund nähmen, für den der Osten mit Galizien und Josef Roth genauso steht wie Nobelpreisträger Elias Canetti, 1905 als Sohn von Spaniolen, also jüdischer Herkunft, an der Grenze Bulgariens geboren, in England, Frankfurt, Wien und Zürich aufgewachsen und der nach dem lebenslangen Exil in England zurückging nach Zürich und dort auch starb. Auf ihn verwies niemand und auch nicht auf die Nobelpreisträgerin und Trägerin des Franz-Werfel-Preises, Herta Müller, im deutschsprachigen Banat Rumäniens geboren und dort auch aufgewachsen sowie auf die Trägerin des Deutschen Buchpreises 2009, Kathrin Schmidt, in der DDR widerständig aufgewachsen und wie Herta Müller heute in Berlin, dem neuen Schmelztiegel, lebend.

Wenn wir diese in Basel nicht angesprochenen Zusammenhänge hier aufführen und wichtig nehmen, hat dies mit der Funktion der Sprache zu tun, die der deutschen Sprache, die man bei Mehrsprachigkeit oder Meinungsunterdrückung einfach subtiler erlernt und sie auch subtiler anwendet, woraus eine große sprachliche Kraft erwächst, wie sie den Büchern der hier Genannten anzumerken ist, wo Sprachbilder aufblühen, von denen man gar nicht wußte, daß es sie im Deutschen gibt, wo Worte gesellschaftliche Widerstände überwinden, ein eigenes Reich errichten, in dem auch andere durch Lesen nun wohnen dürfen und insgesamt eine derartige Bereicherung der deutschen Poesie ergeben, die man dankbar zur Kenntnis nimmt, weil derzeit das Deutsche angesichts der überhandnehmenden Anglizismen und der allgemeinen Geschwätzigkeit arg gebeutelt wird und man sich staunend vor Augen führt, warum der vielsprachige Canetti lebenslang auf Deutsch schrieb: Es war für ihn die Sprache der Liebe und des Geheimnisses, weil seine Eltern in Bulgarien Deutsch sprachen, – was sie aus Wien kannten, wo sie sich kennengelernt hatten -, wenn sie nicht wollten, daß die Kinder und die Hausangestellten sie verstünden.

Nun sind wir weit abgekommen von der Verleihung des diesjährigen Schweizer Buchpreises an Ilma Rakusa für ihr „Mehr Meer“, das Tagesgeschäft ist, und worüber wir im Folgenden gleich noch berichten werden. Aber der Anlaß war es wert, dieses Buch und diese Autorin in einen größeren Zusammenhang zu stellen, der angesichts von Geschäftigkeit, Marktgeschehen und öffentlichen Ereignissen wie der Buchpreisverleihung leicht aus dem Blick gerät, daß es um das introvertierte Lesen geht, daß es sich um ein Sprachgeschenk handelt, die Schriftsteller uns mit ihren Büchern anbieten, in ihre Welt einzutauchen und die Sprache als die Vermittlung zum anderen, zu ihren Erfahrungen und Weltsichten neu zu erfahren und damit uns des Deutschen in poetischer Anwendung, zu der Exil und Unterdrückung in besonderer Weise führen können, lebendig zu versichern. Fortsetzung folgt.

Die nächste Schweizer Buchmesse, die Buch.2010, findet vom 12. bis 14. November 2010 in Basel statt, diesmal wieder auf dem Messegelände der Messe Schweiz in Halle 4.1

www.schweizerbuchpreis.ch

www.buch09.ch

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