Und wen stellten sie an die Spitze der Untersuchungskommission, dem diese schmähliche Aufgabe zu teil wurde? Weder einen britischen Holocaustleugner noch einen deutschen Neo-Nazi, nicht einmal einen iranischen Fanatiker, sondern keinen geringeren als einen jüdischen Richter, der den sehr jüdischen Namen Goldstone (ursprünglich Goldstein) trägt. Und nicht nur einen Juden mit einem sehr jüdischen Namen, sondern einen Zionisten, dessen Tochter Nicole eine begeisterte Zionistin ist, die einst „Aliya machte“ – also nach Israel einwanderte – und fließend Hebräisch spricht. Und nicht nur einen jüdischen Zionisten, sondern einen Südafrikaner, der gegen die Apartheid opponierte und ins neue Verfassungsgericht berufen wurde, als dieses Apartheidregime entmachtet wurde.
Alles, um die moralischste Armee der Welt zu diffamieren, die gerade den gerechtesten Krieg in der Weltgeschichte geführt hat!
Richard Goldstone ist nicht der einzige Jude, der von der weltweiten antisemitischen Verschwörung manipuliert wird. Während der drei Wochen des Gazakrieges demonstrierten mehr als 10 000 Israelis immer wieder gegen den Krieg. Sie wurden photographiert, als sie Poster mit der Aufschrift trugen: „Schluss mit den Massakern in Gaza!“, „Schluss mit den Kriegsverbrechen!“ „Israel begeht Kriegsverbrechen“, „Das Bombardieren von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen,“, sie sangen unisono: „Olmert, Olmert, `s kommt der Tag – auf dich wartet man in Den Haag!“
Wer hätte je geglaubt, dass es so viele Antisemiten in Israel gibt?!
Die offizielle israelische Reaktion auf den Goldstone-Bericht wäre zum Lachen, wenn die Sache nicht so bitter ernst gewesen wäre.
Abgesehen von den „üblichen Verdächtigen“ (die Journalisten Gideon Levy, Amira Hass und ihresgleichen), war die Verurteilung des Berichtes einmütig, absolut und extrem – von Shimon Peres, dem Befürworter jeder Scheußlichkeit, bis hin zum letzten Schreiberling der Print-Medien.
Keiner, wirklich keiner, hat sich mit dem Inhalt des Berichtes selbst befasst. Keiner untersuchte die detaillierten Schlussfolgerungen. Da klar war, dass dies ein antisemitisches Geschmier ist, ist das ja nicht nötig. Tatsächlich war es auch gar nicht nötig, diesen Bericht auch nur zu lesen.
Die Öffentlichkeit in all ihren Teilen stand wie ein Mann auf, um das Komplott zurückzuweisen, wie sie es in Jahrtausenden der Pogrome, der spanischen Inquisition und des Holocaust gelernt hat. Eine Belagerungsmentalität, die Ghettomentalität.
Die instinktmäßige Reaktion in solch einer Situation ist Leugnung. Es ist einfach nicht wahr. Es hat sich so nie zugetragen. Es ist nur ein Sack voller Lügen.
An sich ist es eine natürliche Reaktion. Wenn ein Mensch mit einer Situation konfrontiert ist, mit der er nicht zurecht kommt, ist Leugnung die erste Zuflucht. Wenn Dinge nicht geschehen, dann muss man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen. Grundsätzlich gibt es keinen Unterschied zwischen den Leugnern des armenischen Völkermords, den Leugnern der Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und den Leugnern der Gräueltaten aller Kriege.
Von diesem Standpunkt aus kann gesagt werden, dass Leugnung fast „normal“ ist. Aber bei uns hat sich dieses Leugnen zu einer Kunstform entwickelt.
Wir haben eine besondere Methode: wenn etwas geschieht, mit dem wir uns nicht auseinander- setzen wollen, lenken wir die Aufmerksamkeit auf irgend ein besonderes Detail, etwas völlig Marginales, und bestehen darauf, darüber zu diskutieren, prüfen es von allen Seiten, als ginge es um Tod und Leben.
Nehmen wir den Yom Kippur Krieg. Er brach aus, weil Israel nach dem Krieg von 1967 ein Narrenschiff geworden war, berauscht von Siegesgesängen, Siegesalben und dem Glauben der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee. Golda Meir behandelte die arabische Welt mit offener Verachtung und wies die Friedensannäherungen von Anwar Sadat zurück. Die Folge davon war, dass mehr als 2000 junge Israelis getötet wurden, und wer weiß, wie viele Ägypter und Syrer.
Und was wurde wütend diskutiert? Die „Unterlassung“. „Warum wurden die Reservesoldaten nicht beizeiten einberufen? Warum wurden die Panzer nicht im voraus in Marsch gesetzt?“ Menachem Begin donnerte in der Knesset, in Hülle und Fülle wurden Bücher und Artikel darüber geschrieben, und eine juristische Untersuchungskommission wurde ernannt.
Der erste Libanonkrieg war eine politische Dummheit und ein militärisches Versagen. Er dauerte 18 Jahre, führte so zur Entstehung der Hisbollah und machte diese zu einer regionalen Macht. Und was wurde diskutiert? Ob Ariel Sharon Begin getäuscht habe und er für dessen Krankheit und schließlich seinen Tod verantwortlich war.
Der zweite Libanonkrieg war von Anfang bis Ende eine Schande, ein überflüssiger Krieg, der eine unglaubliche Zerstörung und wildes Morden verursachte und Hunderttausende unschuldiger Zivilisten in die Flucht trieb – ohne dass Israel einen Sieg erlangte. Und worüber wurde debattiert? Und wofür wurde eine Untersuchungskommission ernannt? Über die Art und Weise, wie genau die Entscheidungsabläufe, die zum Krieg geführt hatten, abgelaufen waren. Gab es einen angemessenen Prozess der Entscheidungsfindung? Gab es eine geordnete Stabsarbeit?
Über den Gazakrieg gab es überhaupt keine Debatte, weil alles ganz und gar perfekt war. Eine brillante Kampagne. Eine großartige politische und militärische Führung. Wir haben zwar die Bevölkerung des Gazastreifens nicht überzeugen können, ihre Führer zu stürzen; es gelang uns zwar nicht, den gefangenen Soldaten Gilad Shalit zu befreien; die ganze Welt verurteilte uns zwar – aber wir töteten eine Menge Araber, zerstörten ihre Umwelt und lehrten sie eine Lektion, die sie nicht vergessen werden.
Nun sind wir in einer tiefschürfenden Debatte über Goldstones Bericht. Nicht über seinen Inhalt – Gott bewahre. Was gibt es da zu diskutieren? Über was also? Über den einen Punkt, der wirklich wichtig ist: Hat unsere Regierung richtig gehandelt, als sie sich für einen Boykott der Kommission entschied? Vielleicht wäre es besser gewesen, an seinen Überlegungen teilzunehmen? Hat unser Außenministerium so töricht wie immer gehandelt? (Unser Verteidigungsministerium benimmt sich natürlich niemals töricht). Zehntausende Wörter wurden über diese welterschütternde Frage in die Zeitungen, das Radio und das Fernsehen geschüttet, und jeder Kommentator, der noch etwas auf sich hält, gab seinen Senf dazu.
Warum also boykottierte die israelische Regierung die Kommission? Die wirkliche Antwort ist ganz einfach: sie wussten sehr wohl, dass die Kommission, jede Kommission, die Schlussfolgerung ziehen würde, die die UN-Kommission zog.
Tatsächlich sagte die Kommission nichts Neues. Fast alle Fakten waren schon vorher bekannt: die Bombardements ziviler Wohngebiete, die Anwendung von Flechettes (Granaten voll kleiner Pfeile) und des weißen Phosphors gegen zivile Ziele, die Bombardierung von Moscheen und Schulen, die massive Behinderung von Rettungsmannschaften, bei der Bergung von Verletzten, das Töten von fliehenden Zivilisten, die weiße Fahnen trugen, die Anwendung von menschlichen Schutzschilden u.a. Die israelische Armee erlaubte Journalisten nicht, in die Nähe des Kampfes zu gelangen. Aber der Krieg wurde weitgehend von internationalen Medien in all seinen Details dokumentiert. Die ganze Welt sah es in Echtzeit an den Fernsehschirmen. Es gibt so viele übereinstimmende Zeugnisse, dass jeder vernünftige Mensch seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen kann.
Wenn die Offiziere und Soldaten der israelischen Armee vor der Kommission Zeugnis abgegeben hätten, wäre dies vielleicht auch von deren Blickwinkel – der von Angst, Chaos, Mangel an Orientierung bestimmt war, zu einem gewissen Grad beeindruckt gewesen – und die Schlussfolgerungen wären vielleicht etwas weniger schwerwiegend gewesen. Aber die wichtigste Schlussfolgerung hätte sich nicht verändert. Schließlich war die ganze Operation auf der Vermutung aufgebaut, dass es möglich wäre, die Hamasregierung im Gazastreifen zu stürzen, in dem man der zivilen Bevölkerung unerträgliches Leid zufügte. Der Schaden an der Zivilbevölkerung war kein „Kollateralschaden“, ob vermeidbar oder unvermeidbar, sondern ein Hauptbestandteil der Operation selbst.
Außerdem war die gesamte Kriegsführung darauf ausgerichtet, dass für unsere Kräfte möglichst eine Null-Opfer-Rate dabei heraus kommen sollte – um jeden Preis sollten eigene Opfer vermieden werden. Das war die aus dem Zweiten Libanonkrieg gezogene Schlussfolgerung unserer Armee, die unter der Führung von Gabi Ashkenazi stand. Die Ergebnisse sprechen für sich selbst: je 200 tote Palästinenser auf jeden einzelnen israelischen Soldaten, der von der anderen Seite getötet wurde – ein Verhältnis von 1400:6.
Jede wirkliche Untersuchung hätte unvermeidlich zum selben Schluss kommen müssen wie die Goldstone-Kommission. Deshalb gab es keinen wirklichen israelischen Wunsch nach einer ernsthaften Untersuchung. Die „Untersuchungen“, die stattgefunden haben, waren eine Farce. Die verantwortliche Person, der Armee-Chefadvokat, der Kippa tragende Brigadegeneral mit Namen Amichai Mandelblit, hatte die Verantwortung für diese Aufgabe. In dieser Woche wurde er zum Generalmajor befördert. Die Beförderung und der Zeitpunkt sprechen Bände.
Es wird also keine Chance geben, dass die israelische Regierung verspätet eine wirkliche Untersuchung eröffnen wird, wie dies von israelischen Friedensaktivisten gefordert wird.
Um glaubwürdig zu sein, müsste es den Status einer staatlichen Untersuchungskommission haben, wie sie vom israelischen Gesetz definiert wird und von einem Richter des Obersten Gerichtes geleitet sein. Diese Untersuchungen müssten in aller Öffentlichkeit sowohl der israelischen als auch der internationalen Medien durchgeführt werden. Es müssten die Opfer, die Bewohner des Gazastreifens, eingeladen werden, um gemeinsam mit den Soldaten, die am Krieg beteiligt waren, Zeugnis abzulegen. Es müsste jede der Anklagen, die im Goldstone-Bericht erscheinen, im Detail untersucht werden. Es müssten die ausgegebenen Befehle und Entscheidungen vom Stabschef bis hinunter zur Zugebene kontrolliert werden. Es müssten Berichte der Luftwaffenpiloten und Dronenoperateure studiert werden.
Diese Liste genügt, um klar zu machen, dass solch eine Untersuchung nicht durchgeführt werden kann noch durchgeführt werden wird. Stattdessen wird die weltweite israelische Propagandamaschine fortfahren, den jüdischen Richter und die, die ihn ernannt haben, zu diffamieren.
Nicht alle israelischen Anklagen gegen die UN sind grundlos. Warum untersucht die Organisation die Kriegsverbrechen im Gazastreifen (und im früheren Jugoslawien und in Darfur – Untersuchungen, an denen Goldstone als Hauptankläger teilnahm) und nicht auch die Aktionen der USA im Irak und Afghanistan und der Russen in Tchetchenien?
Aber das Hauptargument der israelischen Regierung ist, dass die UN eine antisemitische Organisation und die Menschenrechtskommission doppelt anti-semitisch sei.
Israels Beziehungen zur UN sind sehr komplex. Der Staat wurde auf Grund einer UN-Resolution gegründet; und es ist zweifelhaft, ob er genau zu diesem Zeitpunkt und unter jenen Umständen zustande gekommen wäre, hätte es nicht solch eine Resolution gegeben. Unsere Unabhängigkeitserklärung gründet sich hauptsächlich auf diese Resolution. Ein Jahr später wurde Israel als UN-Mitglied akzeptiert, trotz der Tatsache, dass den damals 750 000 palästinensischen Flüchtlingen nicht erlaubt wurde, zurückzukehren.
Aber diese Flitterwochen endeten sehr schnell in Verbitterung. Ben Gurion sprach mit Verachtung über UM-Schmum (UM ist die hebräische Version von UN, die Vorsilbe „Schm“ drückt Verachtung aus). Seitdem hat Israel systematisch fast jede einzelne UN-Resolution, die es betraf, verletzt, und beschwerte sich, dass es eine „automatische Mehrheit“ der arabischen und kommunistischen Länder gab, die gegen Israel seien. Diese Haltung wurde verstärkt, als am Vorabend des Krieges von 1967 die UN-Truppen im Sinai auf Befehl von Gamal Abd-al-Nassar überstürzt abgezogen wurden. Und natürlich durch die (später annullierte) UN-Resolution, dass Zionismus gleich Rassismus sei.
Jetzt gewinnen diese Argumente wieder an Geltung. Es wird gesagt, die UN sei anti-israelisch, was (natürlich) antisemitisch bedeutet. Jeder, der im Namen der UN handelt, ist ein Israelhasser. Zum Teufel mit den UN! Zum Teufel mit dem Goldstone-Bericht!
Doch ist dies eine beklagenswerte, kurzsichtige Politik. Die allgemeine Öffentlichkeit hört weltweit von diesem Bericht und erinnert sich an die Bilder, die sie während des Gazakrieges auf ihren Fernsehschirmen gesehen hat. Die UN erfreut sich weltweiter Achtung. Seit der Operation „Geschmolzenes Blei“ ist Israels Ansehen gesunken, und mit diesem Bericht wird es noch tiefer sinken. Dies wird praktische Konsequenzen haben – politisch, militärisch, wirtschaftlich und kulturell. Nur ein Narr – oder ein Avigdor Lieberman – kann dies ignorieren.
Wenn es keine glaubwürdige israelische Untersuchung geben wird, wird die Forderung an den UN-Sicherheitsrat gerichtet werden, die Angelegenheit vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Barack Obama wird dann entscheiden müssen, ob er solch eine Resolution mit einem Veto verhindert – ein Schritt, der den USA schweren Schaden zufügen würde und für das Obama von Israel einen hohen Preis fordern würde.
Wie schon gesagt wurde: UM-Schmum könnte sich in ein UM-Bumm verwandeln.
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Anmerkungen:
Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs und Christoph Glanz übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der am 19.09.2009 erstellte Text wurde zurerst unter www.uri-avnery.de veröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.