Berlin, Deutschland (Weltexpress). In diesem Jahr gab es zum Abschluss der Autorentheatertage in der Langen Nacht nur zwei Uraufführungen. Das ebenfalls von der Jury ausgewählte Stück „In Stanniolpapier“ von Björn SC Deigner verschwand unter dem Zugriff des Regisseurs, der dem Deutschen Theater einen Skandal bescherte und ihm ein ganz neues Schmuddelimage verliehen hat.
Für mich begann die Lange Nacht mit „Eine Version der Geschichte“ von Simone Kucher. Das Stück war im vorletzten Jahr beim Stückemarkt des Theatertreffens zu erleben als szenische Lesung, eingerichtet von Bettina Bruinier. Sieben Schauspieler*innen und ein kleines Mädchen, alle nur schemenhaft anwesend, hatten die Geschichte der Geigerin Lusine vorgestellt, die plötzlich mit ihren armenischen Wurzeln und dem Völkermord an den Armeniern konfrontiert wird.
Eine Realisation des Stücks als Hörspiel ist denkbar, aber aufgrund der szenischen Lesung hatte ich es mir auf einer riesigen Bühne gewünscht, auf der die zarten, poetischen Dialoge Raum haben zum Schweben, die Stimmen der Ermordeten von überall her kommen und in den Nachgeborenen Erinnerungen wach werden lassen, damit eine verdrängte Geschichte endlich erzählt wird.
In Marco Millings Inszenierung vom Schauspielhaus Zürich gab es das Stück auf kleinem Raum, in der Box. Die sechs Schauspieler*innen waren dazu noch in einen Glaskasten eingesperrt. Es gab viel flackerndes Licht, Blackouts und hart abgeschnittene Sätze. Da blieb nichts in der Schwebe und die Poesie blieb auf der Strecke.
Aus dem Spiel mit den Geistern der Vergangenheit wurde ein Dokumentarstück, dem es an Material fehlt.
Beste Unterhaltung mit geistreichen Bosheiten bescherte das Burgtheater mit „Europa flieht nach Europa“ von Miroslava Svolikova. Die Autorin wurde im letzten Jahr bei den Autorentheatertagen für ihre Stücke „die hockenden“ und „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“ mit dem Hermann-Sudermann-Preis ausgezeichnet.
In Svolikovas neuem Stück ist die gesamte Geschichte des Abendlandes enthalten. Das ist viel Stoff, aber weil die Details bekannt sind, genügen kurze Hinweise.
Zu Beginn hat Europa den Stier getötet, von dem sie entführt wurde. In beiden Händen hält sie sein Herz und verspricht, dass die von ihr soeben begangene Bluttat die letzte an diesem Ort sein werde. Hier will sie ein Land gründen, in dem Frieden und Gerechtigkeit herrschen und in dem es keine Unterdrückung gibt, keine Armut und niemals Krieg.
Dorothee Hartinger präsentiert die von humanistischen Idealen beseelte Europa mit einer unerschütterlichen Naivität und distanziert sich gleichzeitig durch einen leicht ironischen Unterton von ihr ohne sie zu verraten. Diese Europa ist kein Mensch, sondern eine Idee, unveränderlich und wahrhaftig um ihr Leben kämpfend, während ihre Kinder gegen alle Regeln verstoßen.
Wenn sie nicht weiter wissen, wenn sie erschöpft sind von ihrem Kolonialismus, ihren Kreuzzügen, Klassenkämpfen und unzähligen Kriegen, dann rufen die missratenen Kinder nach ihrer Mutter. Die ist immer für sie da, auch wenn sie deutlich an Stärke und Überzeugungskraft verliert, sich manchmal selbst nicht mehr zu glauben scheint. Immer noch macht sie Versprechungen, die sie nicht einhalten kann. Längst hat sie die Übersicht verloren. Erreicht hat sie nichts, obwohl sie alles versucht hat.
Am Ende ist Europa ausgelaugt und zu Tode erschöpft, und ihre Kinder begreifen, dass sie mit der Mutter sich selbst umbringen. Noch sind sie nicht tot, aber nur noch eine vage Hoffnung hält sie am Leben.
Franz-Xaver Mayr hat den satirischen Abgesang auf die Idee des Guten, Wahren und Schönen kabarettistisch und temporeich in Szene gesetzt. Sven Dolinski, Alina Fritsch, Marta Kizyma, Valentin Postlmayer und Marie-Luise Stockinger sind, in wechselnden Rollen, die ungeratenen Kinder. Sie sind bockig, widerspenstig, bösartig, manchmal aber auch brav und folgsam, wie Kinder eben sind. Sie spielen ja auch nur. Mit Worten gelingt ihnen das kreativ und voller Entdeckungsfreude. Selbstverständlich streiten sie auch miteinander, und dann nehmen sie Waffen in die Hand, aber das ist doch nur ein Spiel. Ganz entzückende Menschen sind diese Kinder Europas, nur leider entsetzlich dumm.
Europa steht immer im Zentrum, majestätisch wie eine Königin. Miroslava Svolikova hat eine grandiose Frauenrolle erschaffen und Dorothee Hartinger gestaltet sie anbetungswürdig, zeigt facettenreich die Entwicklung dieser Gestalt von der begeisterten Heldin bis zur dahin siechenden Märtyrerin. Angesichts der unerwarteten Verwirrungen und Katastrophen, in die sie hineingerät, verliert Europa manchmal sogar ihre Naivität und Dorothee Hartinger ihre leichte Ironie. Zum Niederknien!
Den dritten Beitrag zur Langen Nacht der Autor*innen bekam das Publikum nicht zu sehen. Dem Regisseur Sebastian Hartmann hatte es offenbar missfallen, das Stück so zu inszenieren, dass der Ursprungstext bei der Aufführung erkennbar und sinngemäß interpretiert ist. Bei Uraufführungen ist das eigentlich ganz selbstverständlich, aber dass er einen Autor wichtiger nehmen sollte als sich selbst, den Regisseur, das war für Hartmann wohl nicht hinnehmbar.
„In Stanniolpapier“ von Björn SC Deigner beruht auf Interviews mit einer ehemaligen Sexarbeiterin. Die Frau bezeichnet ihr Leben, trotz Gewalterfahrungen, als gelungen und sieht sich selbst als eine Art Gesprächstherapeutin und Sozialarbeiterin. Eine zweite Stimme berichtet kritisch, ohne die Aussagen der Frau jedoch in Zweifel zu ziehen.
Das Stück ist hoch aktuell. Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob Sexarbeit ein unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft ist und deshalb stärker zu integrieren sei oder ob sie, wie in Schweden, verboten werden sollte.
Nicht in Deigners Stück enthalten sind Details über Sexualpraktiken. Vermutlich deshalb hat Sebastian Hartmann den Text weggelassen und auch die Spielszenen nicht realisiert.
Hartmann lässt eine Stunde und vierzig Minuten lang zwei nicht mehr junge Männer, meistens nackt, über eine ebenfalls meistens nackte junge Frau herfallen. Manchmal scheint die Frau fliehen zu wollen, sucht dann aber immer wieder die Nähe der Männer. Ob sich der Ort des Geschehens, eine Art Käfig in einem größeren Gebäudekomplex, in einem Bordell befindet, die Männer sich also einer Prostituierten bedienen, oder ob es sich um einen privaten Raum handelt, in dem drei Personen ihre sadomasochistische Beziehung ausleben, wird nicht deutlich.
Damit das Publikum die passende Voyeursperspektive wahrnimmt, spielen die Akteur*innen nicht auf der Bühne, sondern sind in Großaufnahmen auf zwei Leinwänden zu sehen, live gedreht mit Videokameras.
Fluten von rotem Licht lassen schwüle Stimmung aufkommen, und dröhnender, ohrenbetäubender Beat demonstriert, dass es da richtig hart zur Sache geht. Richtig harte Männer besorgen es der Frau aber so richtig.
Bilder der nackten Frau erscheinen in Großaufnahme, sämtliche Details ihres Körpers werden dem Publikum angeboten und aufgedrängt. Und dann, als Gebrauchsanweisung, demonstrieren die Männer, wie dieser Frauenkörper zu benutzen ist.
Was aussieht wie ein Porno, ist in Wirklichkeit Kunst. Der Regisseur hat seine Phantasien in Bilder umgesetzt. Die muss er nicht auch noch kommentieren. Die sprechen für sich.
Manches ist auch komisch, z.B. wenn Frank Büttner sich immer wieder mit grimmigem Gesicht drohend in die Brust wirft wie ein kampfbereiter Gorilla. Oder wenn Linda Pöppel aus Deigners Text herausgerissene Worte schreit als wolle sie Lust oder Leid oder gar nichts zum Ausdruck bringen und dabei so absurde Kombinationen formuliert wie „Mutter Flasche“.
Ganz verzichtet hat Hartmann nicht auf Deigners Text. Er hat sogar eine Passage gefunden, die er an den Anfang seiner Inszenierung gestellt hat. Da geht es um Kindesmissbrauch. Die kommentierende Stimme berichtet davon, und Deigner hat das etwas heikel formuliert. Gerade deshalb passt es hervorragend in Hartmanns Konzept: „legt ihr die hand um die hüfte und lässt sie gelegentlich tiefer rutschen (…) er schiebt das kleid hoch, das kurze. und die durchsichtige bluse, die muss auch weg.“
Manuel Harder, sein Gesicht in Großaufnahme, erzählt das, böse Grimassen schneidend, genüsslich als sadistisches Gruselmärchen.
Kindesmissbrauch, dargeboten als Schmierentheater. Ich hätte wirklich aufstehen und vor die Bühne kotzen sollen.
Die Jury der Autorentheatertage hat sich in einer Stellungnahme von Sebastian Hartmanns Stückfassung distanziert und sie als „sinnverdrehend“ bezeichnet. Björn SC Deigner und der S. Fischer Verlag distanzierten sich ebenfalls. Im Programmheft wurde das Wort „Uraufführung“ gestrichen. Die Zuschauer*innen bekamen den Text von Deigner ausgehändigt.
Als ich die zweite Lange Nacht am Ende der Autorentheatertage besuchte, hatte sich der Skandal bereits herumgesprochen. Trotzdem, oder deshalb, blieb der Run auf Karten für Hartmanns „In Stanniolpapier“ aus. Der Zuschauerraum der Kammerspiele war etwa zur Hälfte besetzt. Ein gutes Dutzend Personen ging während der Vorstellung hinaus.
Irgendwann, nach mehr als einer Stunde, gab ich – zu Recht, wie ich später erfuhr – die Hoffnung auf, dass noch etwas anderes passieren würde als diese öde blöde nachgestellte Sexakrobatik und begab mich auf den Heimweg. Gehofft hatte ich, dass die Sexarbeiterin am Ende Feierabend machen, ihre Kohle kassieren und noch wenigstens einen zusammenhängenden Satz sagen würde. In der Realität tun Prostituierte so etwas, aber in den Männerphantasien aus der untersten Schublade ist alles ganz anders.