Das Orchestersterben geht weiter – Die Deutsche Orchestervereinigung berichtet über steigende Arbeitsplatzverluste und Tariflücken bei den deutschen Orchestern

Orchestergraben.
Orchester im Graben. Quelle: Pixabay

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Deutschland ist ein Land mit außergewöhnlich vielen Theatern und Orchestern. Das ist zum Teil ein Ergebnis der deutschen Kleinstaaterei. Jeder kleine Fürst hielt sich ein Theater, ein Opernhaus, ein Ballett. Das deutsche Bürgertum tat, gestützt auf die wachsende Wirtschaftsleistung in der industriellen Revolution, ein übriges und gründete Stadttheater, Philharmonien und Opernhäuser. Hinzu kamen nach 1945 zahlreiche Rundfunkorchester in Regie der Alliierten oder der Landesregierungen. So entstand ein Schatz, den die Bundesregierung auch in einer Art Guinessbuch der Rekorde, der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit, verzeichnet sehen möchte. Der Antrag für die Aufnahme der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft in die Liste soll 2018 gestellt werden. Wird nun diese »Landschaft» als Referenz für den Titel besonders gefördert und finanziert? Punktuell geschieht das hier und da. Doch im Widerspruch zum schönen Schein schrumpft dieser Schatz kontinuierlich.

Schwund bei Orchestern und Planstellen. Ost-West-Gefälle verstärkt sich

In ihrer Jahrespressekonferenz Ende Januar stellte die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) fest, dass von 1992 bis 2018 die Zahl der öffentlich geförderten Orchester von 168 auf 129 gesunken ist. 39 Orchester sind von der Landkarte verschwunden – rund ein Viertel. Die Musikerplanstellen sanken von 12 159 auf 9 746, um 2 413 Stellen. Das entspricht der Belegschaft eines Großbetriebes. 2017 wurden 70 Stellen gestrichen gegenüber 9 im Vorjahr. Der Verlust beschleunigt sich. Besonders hoch war der Schwund im »Osten»: von 5 032 auf 3 133. 1 900 Musiker gleich 37,7 Prozent wurden arbeitslos. Im Westen waren es 514 – 7,2 Prozent. Das West–Ost–Gefälle verstärkt sich. In den vergangenen zehn Jahren wurden im Westen 0,8 Prozent der Stellen gestrichen (52 Stellen), im Osten 7,1 Prozent (259 Stellen).
2017 wurden die Landeskapelle Eisenach und die Thüringen Philharmonie Gotha fusioniert. Vorangegangen waren allein in Thüringen die Fusion der Orchester in Altenburg/Gera, Saalfeld/Rudolstadt, Greiz/Reichenbach und Nordhausen/Sondershausen. In Mecklenburg/Vorpommern mussten die Orchester Greifswald/Stralsund und Neubrandenburg/Neustrelitz fusionieren. Weitere Fusionen und Kürzungen drohen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Die Staatskapelle Halle soll nach dem Willen der Stadt weitere 30 Stellen verlieren. Auch aus dem Kampf um die Rundfunkgebühren und ihre Verteilung entsteht innerhalb der Sender ein Druck, bei den Rundfunkorchestern Stellen zu sparen, zum Beispiel beim Westdeutschen Rundfunk. Die Orchesterfusionen beeinträchtigen nicht nur die Beschäftigung der Musiker und ihre Arbeitsbedingungen, sondern auch die Qualität der Orchester. Vor der Fusion der SWR-Orchester Baden-Baden/Freiburg (diese bereits Fusionsopfer) und Stuttgart warnten Dirigenten und Musiker vor dem Verlust deren exzellenten Klangs, doch das kümmerte die Verantwortlichen nicht.

Notlagen-Tarifverträge und Tariflücken

Die von Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften wurden nicht nur durch die Zerschlagung der Industrie, sondern auch durch die Schließung von Theatern, Orchestern, Kinos, Bibliotheken und Museen in öde Halden verwandelt. Die Bienen bleiben weg.
Der Druck der Länder und Kommunen auf Einsparung von Stellen spiegelt sich auch in der Lohnentwicklung wieder. Um ihren Arbeitsplatz zu retten, verzichten viele Musiker, ganze Orchester, im Falle des Anhaltischen Theaters Dessau sogar die gesamte Belegschaft, auf einen Teil ihres Lohns, sei es durch Einfrieren des Gehalts oder durch Verzicht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, meist geregelt in einem Haustarifvertrag. Die Gehälter liegen dann bis zu 30 Prozent unter dem Tariflohn, zum Teil nur knapp über dem Mindestlohn. Von den 129 Orchestern zahlen 39 die Gehälter nicht nach dem Flächentarifvertrag. Von diesen 39 liegen 27, mehr als zwei Drittel, im Osten. Vor allem in »Ostdeutschland» haben viele Orchester »Notlagen-Tarifverträge», wie die DOV es nennt. Zwar folgt die Bezahlung der Musiker im allgemeinen der Steigerung der Tarife im öffentlichen Dienst, aber auch das mit Augenzwinkern, denn laut Tarifvertrag folgen sie der Steigerung im öffentlichen Dienst »sinngemäß» – Abweichungen sind erlaubt.
Angesichts der Milliarden-Haushaltsüberschüsse infolge höherer Steuereinnahmen hält die DOV die Zeit für gekommen, die Tariflücke zwischen Tariflohn und Ist-Lohn zu schließen. Das ist zum Beispiel möglich, wenn ein Haustarifvertrag ausläuft. Doch noch immer werden Haustarife unter dem Flächentarif vereinbart wie in der jüngst verschmolzenen Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach, wo nur 80 Prozent des Flächentarifs gezahlt werden.
Auf die Nachfrage, auf welche Summe sich die Tariflücke im Bundesgebiet beläuft, gibt die DOV keine Auskunft. Allein im Freistaat Sachsen wurde sie auf jährlich 12 Millionen Euro beziffert.

Lohnraub und Reallohn

In Zeiten günstiger Konjunktur können die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften bei Tariferhöhungen eine Erhöhung des Reallohns durchsetzen. In der DOV wird jedoch die Entwicklung des Reallohns nicht berechnet. Der Geschäftsführer Gerald Mertens schätzt sie als positiv ein. Zweifel sind jedoch angebracht. 2009 trat ein neuer Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) in Kraft. Auf einen Vergütungstarifvertrag einigten sich die DOV und der Deutsche Bühnenverein erst 2013. Bis dahin wurden Anpassungen an die Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst im allgemeinen zurückgestellt. Die Musiker hatten deshalb Anspruch auf Nachzahlungen für die Jahre 2010 bis 2013 in Höhe von etwa zwei Monatsgehältern. Da die Arbeitgeber, der Deutsche Bühnenverein sowie die Länder und Kommunen, dies ablehnten – der TVK verlangt ja nur eine »sinngemäße» Anpassung – ließ sich die Gewerkschaft DOV auf den »Kompromiss» ein, nur ein Gehalt nachzuzahlen, mit Ausnahme jener wenigen Orchester, in denen der Intendant die volle Nachzahlung vorher zugesagt hatte. Der Lohnraub wurde vom Verfasser auf 19,2 Millionen Euro berechnet (jungeWelt vom 29.4.2014). Betroffen waren etwa 5900 Musiker. Der hohe Organisationsgrad von 90 Prozent, auf den die DOV stolz ist, nützte wenig, wenn die DOV nicht die Macht der Organisation einsetzte, um die volle Nachzahlung zu erzwingen. Wie sich im Orchesterbereich der Reallohn im Vergleich zum Durchschnitt der Lohn- und Gehaltsempfänger in der Bundesrepublik entwickelt, wäre eine Untersuchung wert. Bei seiner Berechnung würde sich der Lohnraub in den Jahren 2010 bis 2013 auswirken. Vergleicht man die Steigerungsraten des Reallohns, wo stehen da die Orchester?

Nicht öffentlich finanzierte Orchester sind auf sich selbst angewiesen

Nicht in der Statistik enthalten sind bisher die nicht öffentlich finanzierten »privaten» Orchester, deren Musiker zum großen Teil auf Mindestlohn-Niveau spielen. Für jene Orchester fühlt sich keine Gewerkschaft verantwortlich – eine Grauzone.
Ungeachtet der finanziellen Probleme ist am Einfallsreichtum und an der Leistung der Orchestermusiker nicht zu zweifeln. Sehr erfolgreich werben sie Kinder und Jugendliche für klassische Musik. Für ihre Ausstrahlung sprechen die vom Statistischen Bundesamt ermittelten 5,2 Millionen Konzertbesucher sowie weitere 5,4 Millionen Besucher der Musikfestivals.
Das Orchestersterben und die fortgesetzte Arbeitsplatzvernichtung bei Theatern und Orchestern sind jedoch schlechte Empfehlungen für die UNESCO-Kommission. Was wäre, wenn die Kommission den Antrag zurückstellte mit der Auflage, die Schließung von Theatern und Orchestern zu stoppen und die Arbeitsplätze zu erhalten?
Mit der Aufnahme in die Liste fänden die Sparkommissare bestätigt, dass der erreichte Zustand richtig ist. An der Sparpolitik wird sich nichts ändern, denn die wird von der Haushaltspolitik diktiert, wenn nicht starker Widerstand dagegen gesetzt wird. Somit wäre die Aufnahme der Theater- und Orchesterlandschaft in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit ein Feigenblatt, das es erlaubt, nach innen und nach außen die Widersprüche zu verschleiern. Die Offiziellen werden ihren Erfolg preisen, während im Hintergrund über Stellenabbau und Lohnverzicht verhandelt wird.

Vorheriger ArtikelRennen, Rennwagen und Rennfahrer von 1894 bis 2018 – Annotation zum Buch „Geschichte des Motorsports“ von Jörg Walz
Nächster Artikel„Nicht genug!“