Die Regisseure Andreas Kriegenburg und Nicolas Stemann hatten beide dieselbe Idee, nämlich, die Hauptfiguren ihrer Inszenierungen mehrfach zu besetzen. Bei Stemann sind es zwei Hauptfiguren, Karl und Franz Moor, die in „Die Räuber“ von Friedrich Schiller in Gestalt von vier jungen Männern erscheinen. Kriegenburg bringt in seiner Kafka-Inszenierung „Der Prozess“ den Helden, Josef K., achtfach auf die Bühne. Von dieser Gemeinsamkeit ausgehend, bewegen sich die Inszenierungen jedoch in völlig gegensätzliche Richtungen.
Zu Beginn der Vorstellung „Der Prozess“ ist die Bühne durch den Eisernen Vorhand gesichert wie ein Gefängnis. Eine kleine Tür öffnet sich, und eine seltsame Gestalt kommt heraus, ein etwas schüchterner junger Herr in schwarzem Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Sein Gesicht ist weiß geschminkt, er hat ein schmales Oberlippenbärtchen und trägt sein Haar brav gescheitelt. In der Hand hält er ein ordentlich gefaltetes Kleiderbündel, und nachdem er es auf dem Boden abgelegt hat, bittet er freundlich einen Zuschauer in der ersten Reihe, auf das Bündel aufzupassen. Um sicher zu gehen, dass nichts passiert, bittet der Herr einen zweiten Zuschauer, auf den ersten aufzupassen, und so entwickelt der freundliche junge Mann eine Strategie, nach der alle im Zuschauerraum einander überwachen und voneinander überwacht werden.
Der freundliche junge Herr, er ist einer der acht Josef K.s, verschwindet wieder hinter der Tür, der eiserne Vorhang hebt sich, und das Publikum bricht in Ausrufe des Staunens und der Bewunderung aus.
Andreas Kriegenburg hat auch das Bühnenbild entworfen: Ein riesiges Auge, auf dessen Iris sich Stühle, Tische, eine Schreibmaschine und ein schmales Bett im Stil der 1920er Jahre befinden. Hier lebt Josef K., der irdischen Justiz oder der göttlichen Gerechtigkeit ins Auge gefallen und von ihr fixiert; oder vielleicht hat Josef K. sich parasitär in diesem Auge eingerichtet wie ein Schaden bringendes Insekt.
Das Kunstwerk ist vielseitig interpretierbar und auf jeden Fall faszinierend anzusehen, zumal es sich auch noch ständig verändert. Die Iris ist eine Drehscheibe, die sich kreisend bewegen und sich von der Horizontalen in die Vertikale aufrichten kann. Dann hangeln sich die Josef K.s akrobatisch an Tischen und Stühlen entlang zu ihren Sitzplätzen oder dem Liegeplatz auf dem Bett.
Im zweiten Teil sind die Möbel verschwunden. Aus der Iris ragen nur noch einige Stangen heraus, an denen die Josef K.s sich hinaufziehen, an denen sie sich festklammern und über denen sie schaukelnd hängen wie die Ziffern einer Uhr, bis schließlich nur noch ein Josef K. übrigbleibt, hingerichtet oder ermordet, nachdem er am Anfang aus dem Bett heraus ohne Anklage verhaftet wurde.
Das Ensemble, die acht Josef K.s, besteht aus vier Schauspielerinnen und vier Schauspielern. Alle sind gleich gekleidet, gleich geschminkt und frisiert und alle agieren mit der eckigen Eleganz von Stummfilmstars mit ausdrucksstarken Gesichtern bei fast unbewegter Mimik nach dem Vorbild von Buster Keaton. Aber stumm ist diese aus acht individuellen Persönlichkeiten bestehende Einheit nicht. Sie sprechen unentwegt, erzählen Kafkas Roman, beschreiben Schauplätze, Personen und Situationen, oder sie verwandeln sich in die Figuren, denen Josef K. begegnet, wobei auch die Frauen, von Kostümbildnerin Andrea Schaad mit Kleidern und Röcken in dezenten Brauntönen ausgestattet, trotzdem Josef K. sind, mit seinem Schnurrbart und seiner Frisur.
Wenn die Josef K.s nicht auf der Drehscheibe herumkraxeln, formieren sie sich zu skurrilen Gesamtbildern, stehen Schlange, um das Fräulein Bürstner abzuküssen oder liegen ihr zu Füßen und pusten den Rock der Angebeteten hoch, sodass Fräulein Bürstner dasteht wie Marilyn Monroe in der berühmten Filmszene.
Andreas Kriegenburg hat gemeinsam mit dem Dramaturgen Matthias Günther eine meisterhafte Textfassung erstellt, in der alles Wesentliche des Romans von Franz Kafka enthalten ist. Das Schöne ist, dass die Inszenierung das Buch nicht ein für alle Mal abhandelt, sodass es nicht mehr gelesen werden muss. Im Theatertreffen- Blog las ich, dass einer der Blogger, dem Kafka in der Schule vergrault worden war, sich, aufgrund von Kriegenburgs Inszenierung, erneut mit Kafkas Texten auseinandersetzte und dort tatsächlich die Komik entdeckte, die im Deutschunterricht verschwiegen und negiert worden war.
Die Komik in Kriegenburgs Inszenierung ist sehr subtil und leise. Die Joseph K.s sind so liebenswert, dass es unmöglich wäre, über ihr Unglück zu lachen; aber das Unglück ist als solches gar nicht erkennbar. Es versteckt sich hinter völlig absurden Situationen, die, kaum merklich und dennoch unausweichlich, auf die Katastrophe am Schluss hinführen.
Walter Hess, Sylvana Krappatsch, Lena Lanzemis, Oliver Mallison, Bernd Moss, Annette Paulmann, Katharina Schubert und Edmund Telgenkämper sind ein grandioses Team. Sie verkörpern den Gesamt-Josef K., und jede und jeder Einzelne von ihnen ist das Original. Wie ihr Äußeres und ihre Bewegungen einander gleichen, so stimmt auch ihre Sprechweise überein. Sie sprechen meistens leise, immer höflich und zurückhaltend, sehr kontrolliert und trotzdem melodiös. Manchmal sprechen sie auch alle gemeinsam. Das klingt dann aber nicht wie ein Chor, sondern eher so, als müssten alle Josef K.s dringend etwas sagen, das dann von allen gleichzeitig geäußert wird.
Einmal tritt auch ein Josef K. an Mikrofon und artikuliert ein Gemisch aus Lauten, das mit der perlenden, fließenden, nagenden, knarzenden Musik von Laurent Simonetti korrespondiert, von der die Inszenierung begleitet wird.
Annette Paulmann als Maler Tintorelli liefert mit großen Gesten einen furiosen Redeschwall, bei dem sie nicht nur artistisch mit Worten jongliert, sondern auch mit dem Sinn hinter den Worten und dem Hintersinn von Begriffen wie „Der scheinbare Freispruch“ und „Die Verschleppung“.
Wie Kafkas Dichtung sich interpretieren ließe und dass sie sich überhaupt nicht eindeutig interpretieren lässt, hat Kafka selbst in seinem Gleichnis vom Türhüter und den dazugehörigen Auslegungen vermittelt. Kriegenburg lässt mehrere Geistliche auftreten, die aufeinander folgend, einander den Priesterschal weiterreichen, und aus ihren diversen Erklärungen des Rätsels ergibt sich jeweils wieder ein neues Rätsel.
Ein bemerkenswerter, unvergesslicher Theaterabend.
Aber ich hörte auch Menschen im Publikum sagen, dass ihnen das nun zu verwirrend sei. Diesen ZuschauerInnen hat vielleicht Nicolas Stemanns handfeste Inszenierung von Friedrich Schillers Jugenddrama „Die Räuber“ besser gefallen.
Als „Wortkonzert“ hat Stemann das Stück konzipiert. Die psychologische Gestaltung der Charaktäre war dabei unwichtig
Die vier Protagonisten Philipp Hochmair, Daniel Hoevels, Felix Knopp und Alexander Simon sind das Quartett, das sowohl den bösen Franz als auch den guten Karl Moor verkörpert.
Kostümbildnerin Esther Bialas hat die Franze durch unterschiedliche Pullunder kenntlich gemacht, die immer dann ausgezogen werden, wenn der Chor sich in die Karls verwandelt.
Ob Karl oder Franz, der Chor steht meistens aufgereiht an der Rampe und donnert Schillers Texte pathetisch ins Parkett. Die Lautstärke variiert gelegentlich, der Vortrag ist immer verständlich artikuliert, immer monoton, und lässt an Lehrer der ganz alten Schule denken, die einer Klasse den Schiller ins Gehirn rammen wollen, und damit das klappt, werden einzelne Textstellen wiederholt.
Manchmal sprechen die Schauspieler solo und beweisen, dass sie auch sehr differenziert mit Sprache umgehen können, jedenfalls, solange sie sich in der Gruppe befinden. In den Einzel- und Duo-Szenen sind weder Karl noch Franz noch Spiegelberg überzeugend.
Ganz auf verlorenem Posten irrt Maren Eggert als Amalie über die riesige Bühne, die von Stefan Mayer nicht wirklich ausgestattet wurde. Amalie singt Schillers Text zu einer süßlichen Schlagermelodie, und die Arme wird am Schluss nicht von ihrem Geliebten umgebracht, denn der ist gar nicht anwesend, wenn Amalie erzählt, wie sie stirbt. Auf diese Weise verläppert das Stück eher, als dass es endet.
Als Gewinn bringend empfand ich Christoph Bantzer, Katharina Matz und Peter Maertens, die, in historischen Kostümen, die zum Untergang verurteilte alte Kultur verkörpern.
Christoph Bantzer als alter Vater des feindlichen Brüderpaars ist sehr anrührend und ganz zurückgenommen und verinnerlicht in seinen Klagen über sein Unglück. Als der alte Moor, aus dem Turm befreit, schließlich recht lächerlich im Hemd und mit löchrigen Strümpfen dasteht, verfeinert Christoph Bantzer seine Darstellungsweise noch und fügt ihr einen Hauch Parodie hinzu.
Katharina Matz und Peter Maertens spielen ein rührendes Dienstbotenpaar, und haben nicht nur Texte des Dieners Hermann, sondern auch die Antrittsrede des Kosinsky bei den Räubern zugeschlagen bekommen. Katharina Matz und Peter Maertens bewältigen die Konfusionen, in die sie dadurch geraten, mit diskreter Eleganz und feinem, bezauberndem Humor.
„Der Prozess“ von Franz Kafka, Regie Andreas Kriegenburg, eine Produktion der Münchner Kammerspiele und „Die Räuber“ nach Friedrich Schiller, Regie Nicolas Stemann, Thalia Theater Hamburg und Salzburger Festspiele, waren im Rahmen des Theatertreffens 09 im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.