Grand mit Tieren

Stanley Dodds © Stanley Dodds
Gemeinsam erzählten sie die Geschichte vom Stier Ferdinand. Der eine mit den Worten des amerikanischen Autors Munro Leaf, die er übersetzt und sich mundgerecht gemacht hat, der andere mit Noten für Violine von Alan Ridout. Das Instrument war immer genau auf die Gefühle gestimmt: Anfangs waren die Klänge samten und lieblich wie die Blumenwiese, auf der Ferdinand unter der Korkeiche saß. Sie wurden frecher und lauter, wenn von den herumtobenden Stierbrüdern die Rede war, und scharf und schrill, als sich Ferdinand eines Tags auf eine Biene setzte und vor Schmerz brüllend durch die Gegend raste. Und alle kleinen und großen Besucher konnten mitempfinden. Gleichzeitig konnten sie lernen, was alles in einer Geige steckt, wenn ein Meister spielt. Eine vergnügliche Melodie begleitete Ferdinands Fahrt nach Madrid in die Stierkampfarena, wo er mit spanischem Feuer empfangen wurde. Denn die Wahl der Männer, die gekommen waren, um einen rabiaten Kandidaten für den Stierkampf zu holen, war prompt auf den rasenden Ferdinand gefallen. Weil der jedoch das Brennen des Bienenstachels längst vergessen hatte, mochte er nicht kämpfen, sondern sehnte sich nur noch nach seiner Blumenwiese. Die Geige schluchzte, wurde fröhlicher, beschwingter und illustrierte so Ferdinands Heimreise. Für die überschaubare Geschichte und ihre Interpretation gab es herzlichen Beifall.
Im zweiten Teil des Programms wurde »Paddigton Bärs erstes Konzert« offeriert. Mitwirkende: fünfzehn Philharmoniker, mehrere Streich- und verschiedene Blasinstrumente, eine Harfe und zwei Schlagzeuge. Den Taktstock und das Ganze im Griff hatte Stanlay Dodd. Gespielt wurde nach Noten von Herbert Chappell. Am Lesepult stand wiederum Hans-Jürgen Scharf und erzählte, was sich der Engländer Michael Bond ausgedacht hat: Paddington Bär kann sich auf sein erstes Konzert nicht richtig freuen. Denn für die Eintrittskarte wird zwar der volle Preis verlangt, aber nur die unvollendete Symphonie eines gewissen Herrn Schubert geboten. Allerdings gibt es einen Bonus: die Überraschungssymphonie von Herrn Haydn. – Nach einem Konzertbesuch ist man schlauer als vorher. Die Besucher der Familienkonzerte wissen das. Auch Paddington Bär hatte verstanden, was es mit der Unvollendeten auf sich hat und warum Herr Haydn einen gewaltigen Paukenschlag in seine Partitur schrieb. Und so steht zum Schluss eins fest: Wenn Paddington Bär groß ist, wird er Dirigent. Ein guter Vorsatz, denn Nachwuchs ist allüberall gefragt. 
Damit die Musiker nicht in dünn besetzten Sälen spielen müssen, kümmern sich auch Kulturradio rrb, das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) und Moderator Christian Schruff speziell um den Hörernachwuchs. Seit Jahren gestalten sie gemeinsam eine Konzertreihe für Kinder ab 6 Jahren, mit der sie das ganz junge Publikum an die klassische Musik heranführen. Besonderen Anklang finden Veranstaltungen, die Schüler oder ganze Schulklassen einbeziehen, und solche, in denen auch bekannte Melodien anklingen. Insofern erfüllte das 63. Kulturradio-Kinderkonzert, das sich unter dem Motto Tierischer Tag und dem Dirigat von Yoel Gamzou auf die Suite »Les animaux modèles« von Francis Poulenc konzentrierte, nicht alle Erwartungen. Laut Programmzettel lautmalt der französische Komponist einen Sonnenaufgang, eine mittägliche Stimmung und erzählt dazwischen Fabeln – also Geschichten, in denen Tiere fühlen, denken und reden können wie Menschen. Es geht um einen verliebten Löwen, streitende Hähne – das hört man. Mit dem »Mann zwischen zwei Lebensaltern«, dem »Tod und der Holzfäller« sowie den schwurbeligen Erläuterungen von Christian Schruff wissen die Kinder weniger anzufangen. Der konnte es schon besser. Und deshalb werden die meisten Besucher wiederkommen. 
Eine fantaisie zoologique gab es auch im Konzerthaus Berlin. Im Rahmen einer Woche mit ausschließlich französischer Musik standen am Kindertag der »Karneval der Tiere« von Camille Saint-Saëns auf dem Programm und ein Kammerorchester sowie zwei Damen an zwei Klavieren bereit, den kuriosen Zug seltsam kostümierter Viecher fröhlich zu begleiten. 4791 Individuen zogen vorbei. Loriot hat sie genau gezählt und »das kulturelle Ereignis von erregender Einmaligkeit« mit einem bezaubernden Text gewürdigt. Kongenial vorgetragen vom Schaupieler Otto Mellies vertiefte er das musikalische Erlebnis. Und dank der fantasievollen Illustrationen von Peter Schmidt-Schönberger, die über eine große Leinwand liefen, konnten sich die Besucher ein genaues Bild machen von »der fünf Meter hohen Pyramide aus 77 gutgewachsenen braunen Hühnern und dem Hahn im Napoleonkostüm auf der Spitze«, von Kängurus, Kolibris, Krokodilen und dem »Kuckuck im schlecht sitzenden Federkleid«, von den Cancan tanzenden Schildkröten, den Elefanten, die sich nach der Melodie des Elfentanzes von Berlioz wiegten, von klappernden Fossilien und dem legendären Schwan. C’est magnifique. 
Musik versteht man – egal welche Sprache man spricht. Der Satz wurde beim Rendezvous am Gendarmenmarkt vielfach bestätigt. Regelmäßig stellt das Konzerthaus ein Kartenkontingent für Flüchtlinge bereit. 775 waren am Kindertag Frankreich zu Gast. Eltern und Kinder bewunderten das Haus, malten und bastelten mit anderen Besuchern, probierten Instrumente aus und nahmen schließlich auf ihren reservierten Plätzen im ausverkauften Saal Platz. Die Wiederholung des »Karnevals der Tiere» wurde für die ausländischen Gäste gestenreich ins Arabische übersetzt. Da in beiden Sprachen erzählt wurde, entstanden Längen, durch die die Episoden der fantastischen Musik von Saint-Saëns wie Musikeinlagen wirkten. Der plötzlich zähe Fluss der Suite irritierte die Musiker. Der erfahrene Bühnenarbeiter Loriot hätte bestimmt einige Sätze gestrichen. Gegen Ende des Konzerts wurde das Auditorium unruhig. Eine Einführung in die ungewohnte europäische Konzertform scheint für das arabische Publikum angebracht. Auch die einheimischen Kinder und Jugendlichen werden von Lehrern und Musikpädagogen auf Konzert- oder Opernbesuche eingestimmt. Das Konzerthaus erwägt weitere Formen der Integration von Migranten, etwa die Mitwirkung im Publikumsorchester. Das Haus steht offen. Chapeau.
Anmerkung:
Dieser Text wurde in Ossietzky, 6/2016 erstveröffentlicht.
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