Noch verbirgt sich die Sonne hinter dem Ostufer des Genfer Sees. Ob sie wohl ahnt, welchen Empfang man ihr vom lang gezogenen Steg der „Bains des Paquis“ aus bereiten wird? An diesem frühen Morgen ist es die Musikergruppe mit dem passenden Namen „Sonne von Afrika“, die sie im Rahmen der traditionellen „Aubes Musicales“-Konzerte schwungvoll über den Horizont des Seeufers geleiten will. Mit heißen Rhythmen aus Guinea, aufmunternd und anspornend zugleich.
Zeremoniell stilvollen Erwachens
Bis endlich nach kurzem Morgenrot der rötlich strahlende Feuerball die Oberfläche des Sees mit flimmernden Lichtreflexen überschüttet, die auch die gegenüber liegenden prächtigen Häuserfassaden in gleißendes Licht tauchen. Genf erwacht. Diesmal auf unverwechselbare Art in einer Mischung aus liturgischer Feierlichkeit und afrikanischer Ausgelassenheit.
Teilstück solch stilvollen Erwachens bildet auch die Wasserfontäne des Jet d’Eau. Jenes sich in allmorgendlichem Zeremoniell immer wieder neu erschaffende Wahrzeichen der Stadt. Auf die Minute genau erhebt sie sich per Knopfdruck bei einer Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern 140 Meter hoch über die Wasseroberfläche. Sanft gestreichelt vom Morgenwind, der sich vom Montblanc herüber bis hinunter ins Tal bewegt. Insgesamt ein Morgen, der mit seinen immer deutlicher sichtbaren landschaftlichen Reizen den Geist der Schöpfung zu atmen scheint.
Variante der Reformation
Als der viel beschworene „Geist von Genf“? Fast möchte man sich bereits mit dieser Antwort zufrieden geben, wären da nicht – ausgestreckten Zeigefingern ähnelnd – die beiden wuchtig aufragenden Türme der Kathedrale. Deren Botschaft könnte darin bestehen, bei der Suche nach dem Geist von Genf nicht die Hinterlassenschaften der Reformation zu übersehen, die in ihrer speziellen Form des Calvinismus von hier aus ihren Ausgang nahm. Jene asketische Variante religiösen Neubeginns, unter anderem entworfen zu dem Zweck, störenden katholischen Schnickschnack aus dem Weg zu räumen. Und dabei als Preis für diesen religiösen Übereifer auf jegliche weltlichen Sinnenfreuden zu verzichten.
Da stehen sie nun, die Protagonisten dieses speziellen Flügels Reformation. Übergroß in Stein gemeißelt an der „Mauer der Reformatoren“ im Parc des Bastions. Herausragend Johannes Calvin, dessen rigide Moral das Genfer Stadtleben für viele Jahrzehnte prägte. Als die selbstbewusste Alternative zu der lange erduldeten Bevormundung durch die Katholische Kirche. Aber führte sie auch den lang ersehnten Geist der Freiheit mit sich, wie er sich von Wittenberg aus über die protestantische Welt verbreitete? Nicht so ganz, wie der Bildersturm jener Zeit beweist, vor dem selbst die ehrwürdige Kathedrale der Stadt nicht verschont blieb.
Sinnenfreude in der Kunst
So musste sich der Geist von Genf in späteren Zeiten neu orientieren. Und tat dies mit den Mitteln der Kunst, die bei weniger straffen moralischen Zügeln in der gesamten Stadt Facetten eines neuen Selbstverständnisses hervorbrachte. Besonders in der Architektur, aus der sich – wie beispielsweise am repräsentativen Opernhaus – die aufkeimende Sinnenfreude deutlich herauslesen lässt. Oder auf verspielte Art im „Kiosque des Bastions“, einem denkmalgeschützten Konzertpavillon mit Kaffeehausatmosphäre, ausgerechnet in Blickweite zur „Mauer der Reformatoren“.
Symbolisch für den Durchbruch dieses freiheitlichen Geistes steht aktuell das Museum für zeitgenössische Kunst. Eröffnet vor etwa zwanzig Jahren in den geräumigen Hallen einer Fabrik, gilt das MAMCO, wie es respektvoll genannt wird, heute als „einer der wichtigsten Ausstellungsorte für die Gegenwartskunst in der Schweiz“. So jedenfalls sieht es Kunstexpertin Jennifer Ng Chin Yue bei ihrer engagierten Führung durch die Kunstsammlungen und Installationen des Hauses. In bunter Verspieltheit und doch zugleich streng komponiert erstrahlen die leuchtenden Neonbuchstaben des Künstlers Maurizio Nannucci, fantasieanregend verteilt über die einzelnen Stockwerke des Treppenhauses.
Endstation Sehnsucht in Carouge
Weniger stilisiert geht es dagegen zu in Carouge, der ländlichen Vorstadt von Genf. Endstation Sehnsucht für alle, die in ungezwungener Atmosphäre für ein paar gemütliche Stunden Entspannung suchen außerhalb der „kleinsten Metropole der Welt“. Jenseits all der Banken und Geldinstitute, durch die sich Genf in die Liga der acht größten Finanzplätze der Welt emporgearbeitet hat. Wie anders dagegen das kleine Carouge, in das der Geist des Großkapitals noch nicht vorgedrungen ist.
Stattdessen erfreut ein malerischer Wochenendmarkt die Gemüter mit spätsommerlicher Blütenpracht. Und ebenso sind es die kleinen Lädchen, Galerien und Cafés, die zum Stöbern und Entspannen einladen. Geradezu verführerisch die Chocolaterie Martel in der Rue du Marché mit ihren aromatisch duftenden Pralinenkreationen. Oder das Cinéma BIO, ein gediegenes Traditionskino mit seiner kleinen Bar direkt am Marktplatz gleich gegenüber dem Café du Marché.
Genfer Konvention
Und doch verliert sich der Geist von Genf offenbar nicht in der Vorstadtidylle. Will er sich auch finden lassen jenseits der Rhone genau am anderen Ende der Stadt? Denn hier ragt, prächtig wie eh und je, das Palais des Nations empor, die Fassade stilvoll eingerahmt von den Flaggen aller 193 Länder der Weltgemeinschaft. Einst zwischen den Weltkriegen der Sitz des Völkerbundes, heute hingegen der prominenteste Ableger der Vereinten Nationen nach der UNO-Zentrale in New York.
Endlich am Ziel? Denn hier, so Stadtführer Ariel Hämmerle, hat der Geist von Genf seine eigentliche Heimstatt gefunden, reichlich ausgestattet mit historischer Bedeutsamkeit und weltweiter Strahlkraft. Denn nirgendwo anders wurde der Weltfrieden eindringlicher beschworen als hier. Und wenn sich denn Kriegshandlungen als unvermeidbar herausstellen sollten, so die Genfer Konvention, dann zumindest im Geist von Henri Dunant. Flankiert durch ernsthafte humanitäre Maßnahmen, von denen selbst Feinde und Kriegsgefangene nicht ausgenommen sein dürften.
Feierlaune am See
An diesem Sommerwochenende jedoch ist bei allem Einsatz für den Weltfrieden erst einmal Feiern angesagt. Schon Tage zuvor ging es während der Fetes de Geneve überaus jahrmarktmäßig zu an den mit Buden und Fahrgeschäften vollgestellten Ufern des Sees. Bis eine unbändige Feierlaune – Calvin hin und her – von der ganzen Stadt Besitz ergriffen hat. Immer lautere hysterische Schreie verraten, zu welchem Zeitpunkt eines der modernen Hochgeschwindigkeits-Karussells die zwischen Himmel und Erde schwebenden Insassen ohne Vorwarnung durcheinander wirbelt.
Eine Festtagsstimmung, die schließlich nur noch überhöht wird von dem einstündigen Feuerwerk, wie es in dieser Intensität selten erlebt wird. Als eine elegante Choreographie, die den See immer wieder einbezieht in das opulent aufsprühende Farbschauspiel, das in stets neuen Variationen aus den Tiefen des Wassers heraus zu erwachsen scheint. Begeisternd und stimmungsvoll zugleich. Abschließend vielleicht sogar die verdiente Belohnung dafür, dem Geist von Genf in seinem unverwechselbaren Facettenreichtum auf die Spur gekommen zu sein?
Reiseinformationen “Genf”:
An- und Einreise: Günstig mit Lufthansa direkt von Frankfurt nach Genf; Einreise mit Personalausweis oder Reisepass
Reisezeit: Ganzjährig je nach Sommer- oder Wintersaison. Die Stadt zeigt sich von ihrer schönsten Seite von Frühjahr bis Herbst.
Unterkunft: Hotel Cornavin: www.fassbindhotels.ch; Beau Rivage: www.beau-rivage.ch (150. Jubiläum mit historischer Ausstellung);
Essen und Trinken: Cottage Café: www.cottagecafe.ch; La Perle du Lac: www.laperledulac.ch; Café du Marché Carouge: www.cafedumarchecarouge.ch
Touristik: Es empfiehlt sich die Geneva Transport Card für alle Verkehrsmittel sowie der Geneva Pass für alle Museen
Museen: Museum für Moderne Kunst: www.mamco.ch; Ethnographisches Museum: www.meg-geneve.ch; Patek Philippe Museum (Uhrensammlung): www.patekmuseum.com
Auskunft: Geneva Tourism, Rue du Mont-Blanc 18, Tel. +41-22-9097070, buchs@geneva-tourism.ch, www.geneva-tourism.ch
Reiselektüre: Margit Brinke, Peter Kränzle, City/Trip Genf, Reise Know-How, Bielefeld 2014/15, ISBN 978-3-8317-2416-1, 9,95 Euro
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Die Recherche wurde unterstützt von Geneva Tourism.