Im Zeichen der Euro-Krise hat der Kultursektor, der es ja auch in finanziell besseren Zeiten nicht immer leicht hat, umso mehr zu leiden. Gerade in kleineren Städten trifft es Theater-, Opern- und Konzerthäuser hart. Dabei verzeichnet man besonders in Griechenland, als dem vermeintlichen Epizentrum der Krise, einen steigenden Bedarf an kulturellen Angeboten.
Umso erfreulicher, dass zumindest hier die Europäische Union ein gutes Zeichen setzt: Das European Union Youth Orchestra besteht aus bis zu 140 jungen NachwuchsmusikerInnen aus allen (inzwischen) 28 Mitgliedsländern der Europäischen Union, die zweimal pro Jahr auf Tour gehen. In diesem Frühjahr ging es nach Abu Dhabi, wo keine Geringeren als Vladimir Ashkenazy am Pult und EUYO-Alumni und Starcellist Gartier Capucon mit dem Orchester auftraten. Der Tourauftakt fand in Thessaloniki statt, wo es, neben der Musik, vor allem um Begegnung ging.
Gelebte Politik im Zeichen der Musik
Dominik aus Deutschland, Babis aus Griechenland, Patrycia aus Spanien sowie Vilém und Radka aus der Tschechischen Republik haben einen straffen Zeitplan. Als Mitglieder des EUYO sind sie nicht zum Baden nach Griechenland gekommen, sondern absolvieren während ihres einwöchigen Aufenthalts in Thessaloniki ein beachtliches Programm: Proben, ein Konzert abends, zwei am nächsten Vormittag für Kinder und Jugendliche sowie ein abendlicher Auftritt in einem Nachtclub. Nebenbei erklären sie Gruppen von Schülerinnen und Schülern, was genau sie da für Instrumente haben und wie die funktionieren.
Auf meine Fragen nach ihrer Einstellung zu Europa, ob dies ein Thema war, als sie für das Orchester vorgespielt haben und ob sie sich als Europäer fühlen oder nicht, ernte ich zunächst verwirrte Blicke. „Es geht eigentlich nur um die Musik“, sagt Babis, Musiklehrer aus Athen. „Es ist einfach ein gutes Orchester. In Graz, wo ich studiere, spielen wir permanent mit Leuten aus der ganzen Welt, also ist das für mich normal“, ergänzt Patrycia, Cellistin aus Madrid. Soviel europäische Selbstverständlichkeit überrascht mich und Charlotte, PR-Frau sowie organisatorischer Dreh- und Angelpunkt des Orchesters, sieht mir meine Enttäuschung an: „Wir sagen, dass das Orchester eine Metapher dafür ist, wie die EU funktionieren sollte. Es erzeugt Harmonie und zeigt das Beste aller europäischen Nationen.“
Das klingt schon eher nach einer druckreifen Antwort, wobei es nicht die theoretische Idee ist, die dem Orchester seine besondere Aura verleiht, sondern der zwanglose Umgang der MusikerInnen untereinander. Politik ist Nebensache. Vielmehr setzen sie um, was in Brüssel so verzweifelt herbeigesehnt wird: Direkter Austausch, Begegnungen und ein (professionelles) Miteinander. „Wir sehen viel, wenn wir auf Reisen sind“, sagt Kontrabassist Dominik, der sich eher als Bayer denn als Deutscher definieren würde. „Und dabei tauschen sie sich aus“, ergänzt Charlotte. „Wir sitzen hier nicht rum und diskutieren Politik. Das würde keinen Sinn ergeben. Aber ich beobachte, wie sie kulturell voneinander lernen. Sie stellen sich Fragen, z.B. über die vielen Graffitis, die wir hier in Griechenland sehen, und sie bekommen Antworten. Und dann beginnt ein interkultureller Dialog.“
Auf Tuchfühlung mit Musik und Europa
Am Bühnenausgang des Megaron, des großen Musikbaus in Thessaloniki, tummeln sich die EUYO-Mitglieder am direkt angrenzenden Meer. Nach einem regulären Konzert am Vorabend hat das European Youth Orchestra Schulen aus der Stadt eingeladen, um sich eine Veranstaltung anzuschauen, die ihnen nicht nur die klassische Musik, sondern auch Europa auf unbefangene Weise näher bringen soll. Eine Moderatorin stellt die einzelnen Nationen des Orchesters vor. Frenetischer Applaus für die griechischen Musiker, vereinzelte Buhrufe für die Deutschen. Selbst bei jungen Griechen unter 16 macht sich die Krisenpolitik der Bundesregierung bemerkbar.
Dann aber spricht die Musik und löst den politischen Alltag in Wohlklang auf. Ein Junge und ein Mädchen aus dem Publikum werden auf die Bühne geholt, platzieren sich auf dem Dirigentenpult, schwingen den Taktstock und MusikerInnen aus der ganzen EU reagieren auf ihre Bewegungen. Die Aktion erfährt ihre Symbolik vor allem vor dem Hintergrund, dass man in einem Land, wo die Jugendarbeitslosigkeit die 60%-Marke überschritten hat, bereits von einer verlorenen Generation spricht. Nach dem Konzert teilen sich die Musiker auf und präsentieren einzelnen Schülergruppen ihre Instrumente. „Das haben die sich selbst ausgedacht“, erklärt Charlotte, während die Kinder gebannt auf die Geigen und Celli starren oder sich über die grotesken Töne freuen, die man mit Blasinstrumenten erzeugen kann.
Kein Europa ohne die Europäer
Das EUYO ist eine Talentschmiede, die künstlerische Professionalität verbindet mit einem Verantwortungsbewusstsein für Kultur und Gesellschaft. Fernab der politischen Bühnen in Brüssel, Berlin oder London, leben die jungen Musikerinnen und Musiker eine Realität, die exemplarisch steht für das, was Europa sein könnte. In der Interaktion untereinander herrschen keine Widersprüche zwischen den diversen nationalen/regionalen Identitäten und der europäischen Idee. „Wenn ich in Spanien bin, fühle ich mich als Europäerin und wenn ich im Ausland bin als Spanierin“, erklärt Cellistin Patrycia beim Interview. Deutlich wird dabei vor allem eines: Politik ist nicht einfach ein Verwaltungsakt, sondern entsteht erst im gelebten Miteinander.
Weder Brüssel noch die verschiedenen Nationalstaaten werden ein europäisches Miteinander oktroyieren können. Schlussendlich sind es die europäischen Völker selbst, die einen gemeinsamen Weg finden müssen. Das European Youth Orchestra zeigt dabei, dass Einheit sich nicht über eine Währung definiert, sondern ein Prozess ist, der geleitet wird von gemeinsamen Handlungen und Austausch. Die europäische Verwaltung sollte sich darauf konzentrieren, Strukturen zu schaffen, die ebendies begünstigen.