Berlin, Deutschland (Weltexpress). Der im „Weltexpress“ (Ausgabe v. 22. Juni) wieder gegebene Beitrag Willi R. Gettéls „Sahra I., die Himmlische oder Es ist so gekommen wie es kommen musste“ veranlasst mich, frei nach Fontane, nachzuschauen, was ich in meinem „Nähkästchen“ zu Gregor Gysis Rolle und einigen seiner Parteigänger finde. Es begann damit, dass er im Oktober 1989 an der Spitze einer Gruppe von „Reformern“ das Politbüro absetzte und selbst die Parteiführung übernahm. Bei dem später gern „Sturm aufs große Haus“ genannten Vorgehen handelte es sich quasi um einen Parteiputsch, denn immerhin war die Führung auf dem letzten Parteitag gewählt worden. Bei der Fraktion, die hinter Gregor Gysi stand, handelte es sich um eine Gruppe von leitenden Mitarbeitern des ideologischen Führungszentrum der SED, ihrer Akademie für Gesellschaftswissenschaften, mit Prof. Rolf Reißig (er wurde im Februar 1990 ihr Direktor) an der Spitze. 1 Diese Gruppe hatte 1987 für den Dialog mit der SPD das Positionspapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ ausgearbeitet. Es gelang in der Partei nicht, einen wirksamen Widerstand gegen diese opportunistische Wende zu Stande zu bringen.

Gregor Gysi war mir kein Unbekannter. Er war der Sohn von Klaus Gysi, von 1973 bis 1978 erster Botschafter der DDR nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Italien, mit dem wir -meine Frau Irene und ich – während unserer Arbeit in Rom gute Beziehungen unterhielten. 2 Sein Sohn Gregor war promovierter Jurist und wurde 1988 Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte und verteidigte als Anwalt bekannte Dissidenten der DDR, wie Robert Havemann und Rudolf Bahro aber auch Bärbel Bohley. 3 So wurde Gregor Gysi – auch von mir – zunächst durchaus als ein Mann gesehen, der der SED und der DDR über die schwere Krise hinweghelfen könnte.

Zweifel daran kamen auf, als Gregor Gysi nach einem Besuch bei noch KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow im Januar 1990 nach Rom eilte, um bei Achille Occhetto, dem letzten IKP-Generalsekretär, Erfahrungen bei der dort vor sich gehenden Liquidierung der IKP durch ihre unter der Losung der „Heimkehr zur Sozialdemokratie“ erfolgende Umwandlung in eine sozialdemokratische Linkspartei PDS zu studieren.4 Er scheute sich auch nicht, mit ISP-Chef Bettino Craxi zusammenzutreffen, der schon zu dieser Zeit der Korruption verdächtigt wurde. 5 Der Hintergrund konnte nur sein, dass – wie dann auch bekannt wurde – Gregor Gysi sich mit dem Gedanken trug, das IKP-Modell aufzugreifen und der SPD den Beitritt seiner PDS 6 anzutragen. Aber während die CDU der BRD, wie auch die Liberalen ohne Bedenken ihre ostdeutschen Schwesterparteien vereinnahmten, fehlte der SPD zu solch einem Schritt der strategische Weitblick, mehr wohl noch der Mut. Aber Craxi, der bereits 1986 das Angebot Alessandro Nattas, des ersten Nachfolgers Berlinguers im Amt des Generalsekretärs, zur Vereinigung der IKP mit der ISP zu einer neuen Linken Partei abgelehnt hatte, war auch diesmal nicht bereit. So konnte Gregor Gysi diesbezüglich nicht mit einem entsprechenden Signal aus Rom nach Berlin zurückkehren.

Parteigänger in der DKP

Zunächst wollte er dann erreichen, dass die DKP sich auflösen und ihre Mitglieder einzeln in die PDS eintreten sollten. In der DKP arbeitete das Leitungsmitglied Wolfgang Gehrcke auf eine Auflösung der Partei hin. Er bewirkte, dass etwas 10.000 ihrer zu dieser Zeit rund 30.000 Mitglieder die Partei verließen, von denen jedoch die wenigsten sich bei der PDS einfanden. Zum Lohn dafür erhielt Gehrcke einen Listenplatz der PDS zur Kandidatur für ein Mandat des Bundestages, das er von 1998 bis 2002 und nochmals von 2005 bis 2017 innehatte.

Er wurde ein zuverlässiger Parteigänger der opportunistischen Politik Gysis. 7 1999 griff er dessen Idee zur Annäherung an die SPD auf, die unter Gerhard Schröder 8 in der Regierung gerade die Interessen des Kapitals vertrat. In einem Pamphlet „Was ist neu an der ‚Neuen Linken‘“, das das „ND“ am 9./10. Januar ganzseitig veröffentlichte, bescheinigte er dem Kabinett „strategische Unterschiede“ gegenüber dem vorherigen unter Kohl und plädierte für die Übernahme des wirtschaftlichen Konzepts der SPD vom „Umbau der Verfügungsverhältnisse“, um dann festzumachen, dass der PDS „bei der Profilierung dieser Richtung“ eine wesentliche Aufgabe zukomme, was der Ausprägung der Partei zu einer „Neuen Linken“ diene, die dringend notwendig sei. Die Katze aus dem Sack ließ Gehrcke dann, als er das Schrödersche Konzept des „besseren Fitmachens für die Globalisierung“ unter einer SPD-Regierung übernahm und dazu die als „moderne Sozialpolitik“ ausgegebene Forderung nach Fortsetzung des Sozialabbaues unterstützte. „Nur die Erhaltung oder Wiederherstellung alter sozialstaatlicher Regelungen zu fordern, ist keine zeitgemäße Alternative“, hieß es. Die PDS müsse „neue eigene Antworten auf veränderte Bedingungen“ geben und sich „glaubwürdig in die beginnende Diskussion um die Neulegitimierung des Sozialismus einbringen“. Das rechnete Gehrcke dann zu den Bedingungen „ein neues Gleichgewicht zwischen hochleistungsorientierter Exportwirtschaft und den regionalen Wertschöpfungskreisen wiederherzustellen“.

Unter Gregor Gysi orientierten sich die „Reformer“ in der SED/PDS an dem auf sozialdemokratische Positionen übergegangenen Gorbatschow, dessen politischer Kurs sich verheerend auf den Ostblock und besonders auf die DDR als ihren bis dahin engsten Verbündeten auswirkte. Zur Haltung Gorbatschows erinnerte ich mich der Gespräche mit dem sowjetischen Botschafter in Kinshasa,9 aus denen hervorging, dass Moskau damals unter allen Umständen den Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn verhindern wollte, während Gorbatschow nun Kohl die DDR zum Verkauf anbot.

Mit der Auflösung der Parteistrukturen vor allem in den Betrieben, wurde die bereits schwer angeschlagene Partei, auf die der Gegner wie gegen das MfS seinen Hauptstoß richtete, nahezu völlig ihrer Aktionsfähigkeit beraubt. Es setzte der Prozess der Umwandlung der SED, später PDS, in eine Linkspartei sozialdemokratischer Orientierung ein.

Hans Modrows „Deutschland einig Vaterland“

Gysis Vorgehen wurde von Regierungschef Hans Modrow (seit November 1989 bis April 1990) flankiert, der fast zeitgleich mit Gregor Gysis Italienreise nach Gesprächen mit Gorbatschow am 1. Februar 1990 in Moskau sein Konzept „Deutschland einig Vaterland“,10 mit dem faktisch die DDR zur Disposition gestellt wurde, unterbreitete. Vor seiner Abreise nach Moskau musste Modrow ein Artikel von Eduard Schewardnadse in der „Iswestija“ vom 18. Januar bekannt gewesen sein: „Europa – von der Spaltung zur Einheit“. Darin ordnete der sowjetische Außenminister die „deutsche Frage“ und die „Reformprozesse in Osteuropa“ in den Zusammenhang eines sich einigenden Europa ein. Aus den Berichten über Modrows Gespräche ging mit keinem Wort hervor, ob die darin aufgeworfenen Fragen erörtert wurden, die zur Aufkündigung der mit der DDR abgesprochenen Vertragsgemeinschaft durch Kohl führten. 11 Aus den Ausführungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau, Gerd König, 12 ging hervor, dass er damit wohl der Linie Gorbatschows folgte, die Politbüro-Mitglied Jakowlew so formuliert hatte: „Es wäre gut, wenn Modrow mit einem Programm der Wiedervereinigung auftreten würde“. 13 Modrow selbst äußerte dazu später: „Kohl behauptet, er habe den Schlüssel zur Einheit aus Moskaus geholt. Wenn das so sein soll, dann habe ich den Schlüssel gefeilt!“.14

Hier ist einzublenden, dasssicher folgendes feststand: Nachdem die DDR von Gorbatschow fallengelassen wurde und damit der wichtigste außen- und militärpolitische Faktor ihrer Existenzsicherung entfiel, war sie nicht mehr zur retten. Doch ihr Anschluss an die BRD hätte nicht in jene kampf- und bedingungslose Kapitulation münden müssen, die von der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére von der ostdeutschen CDU vollzogen wurde, aber bereits unter der Regierung Modrow und der PDS unter Gregor Gysi mit zu verantworten war. 15 Doch Modrow war nicht nur zu dieser Zeit, sondern auch ein Jahr danach nicht in der Lage, den verräterischen Kurs Gorbatschows einzuschätzen. In seinem Buch „Aufbruch und Ende“ 16 schwärmte er, dass „ein herzliches persönliches, aber auch ein konstruktives Arbeitsklima“ herrschte und Gorbatschow für ihn „ein Mensch, der wirklich in großen Maßstäben denkt, der ein sehr komplexes Denken hat“, war und ist (S. 120). Noch 2000 sah er in ihm lediglich „Unaufrichtigkeit“, hatte aber inzwischen immerhin erkannt, dass sich darin seine „wachsende Unfähigkeit, die Prozesse im wohlverstandenen Interesse der UdSSR und der DDR zu beherrschen“ gezeigt habe. 17 Wie immer kein Wort, wie er sich da getäuscht hatte. Gerd König erkannte dagegen schon, dass Gorbatschow‘ Besorgnis, wie es mit der DDR weitergehe, geheuchelt war, während in Wirklichkeit der Vereinigungsprozess „bereits im vollen Gange und die Vereinigung faktisch entschieden war“ (S. 408).

Gorbatschow, ein Verräter ohnegleichen

Blenden wir hier einige Aspekte der Haltung dieses Opportunisten ein, der nicht nur die DDR an Kohl regelrecht verkaufte, sondern auch seine jahrzehntelangen Kampfgefährten der DDR skrupellos der Siegerjustiz der BRD auslieferte. Das alles war Modrow nun schon länger bekannt oder kam ihm später zur Kenntnis, ohne dass er zu dieser Zeit Korrekturen seiner Einschätzungen vornahm.

Beginnen wir mit Gorbatschows öffentlicher Erklärung: „Das Ziel meines ganzen Lebens war die Vernichtung des Kommunismus, dieser unerträglichen Diktatur gegen die Menschen. (…) Als ich mich persönlich mit dem Westen bekannt gemacht hatte, verstand ich, dass ich von dem gestellten Ziel nicht ablassen durfte. Um dieses zu erreichen, musste ich die ganze Führung der KPdSU und der UdSSR ersetzen, und ebenso die Führung in allen sozialistischen Ländern. (…) Nach dem Jahr 2000 wird eine Epoche des Friedens und der allgemeinen Blüte anbrechen.“18

Gorbatschow nahm auch für sich in Anspruch, dass er im Herbst 1989, während er sich zum Staatsbesuch in der VR China befand, zu den Konterrevolutionären auf dem Tian’anmen-Platz (Platz am Tor des Himmlischen Friedens) in Peking sprechen und sie zu ihrem Ziel, die chinesische Führung zu stürzen, ermuntern wollte.19 Die chinesische Führung durchschaute seine Machenschaften und verhinderte das.

Bei einem Besuch an der Grenze zu Westberlin (der „Mauer“) hatte er 1986 ins „Gästebuch“ geschrieben: „Am Brandenburger Tor kann man sich anschaulich davon überzeugen, wie viel Kraft und wahrer Heldenmut der Schutz des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden vor den Anschlägen des Klassenfeindes erfordert. Die Rechnung der Feinde des Sozialismus wird nicht aufgehen. Unterpfand dessen sind das unerschütterliche Bündnis zwischen der DDR und der UdSSR. (…) Ewiges Andenken an die Grenzsoldaten, die ihr Leben für die sozialistische DDR gegeben haben.“

Einen Gipfelpunkt seiner Heuchelei erreichte dieser Renegat, als er 2004 vor Schülern der Hildegard-Wegscheider-Oberschule in Berlin-Wilmersdorf sagte: „Wenn ich mich an die Mauer in Berlin erinnere, spüre ich heute noch Entsetzen über dieses Bauwerk“. 20

Den Gipfel des Verrats an der DDR erklomm Gorbatschow bereits im Juli 1990 bei den letzten Verhandlungen in Archys im Nordkaukasus mit einer Delegation Kohls, bei denen auch die strafrechtliche Verfolgung ehemaliger Führer der DDR zur Sprache kam. Kohl habe Gorbatschow immerhin vorgeschlagen, den Personenkreis zu benennen, gegen den keine strafrechtlichen Verfolgungen eingeleitet werden sollten. 21 Doch der sowjetische Präsident habe erwidert, „die Deutschen würden schon selbst mit diesem Problem fertig“. Selbst Kohl und der anwesende Genscher hätten betreten auf den Präsidenten der UdSSR geblickt. 22

Hätte Gorbatschow Kohl in Archys „eine Liste mit – sagen wir – hundert Namen übergeben, die als ‚Persona grata, als ‚unantastbare‘ gegolten hätten, wäre es der bundesdeutschen Justiz nie möglich gewesen, Verfahren in jenem demonstrierten Schauprozessstil zu inszenieren“.23 Die Auslieferung von Repräsentanten eines mit der UdSSR durch einen Freundschaftsvertrag verbundenen Staates an den Feindstaat war „die Schmierenkomödie eines verantwortungslosen politischen Hasardeurs“. 24

Wie bei Gysi war auch in Modrows „neuem Deutschland“ ganz offensichtlich für die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) kein Platz vorgesehen. Er verschwendete, wie Ellen Weber in ihrer Rezension des Buches von Modrow vermerkte, 25 „keine Gedanken zu den Kampfgefährten der DKP“, die Aufbau und Existenz der DDR „mit großen Opfern (ich denke nur an die von Berufsverboten Betroffenen) begleitet haben.“

Modrows Stellvertretende Ministerpräsidentin Christa Luft fand die Währungsunion „faszinierend“ und „wünschenswert“

Am 18. Mai 1990 wurde zwischen der DDR und der BRD in einem Staatsvertrag beschlossen, am 1. Juli 1990 eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu bilden. Modrows Stellvertreterin und Wirtschaftsministerin, Christa Luft, hatte schon im Vorfeld Kohls Konzept dazu, das der Wegbereitung des Anschlusses der DDR an die BRD nach Artikel 23 GG diente, „faszinierend“ und auch „wünschenswert“ gefunden. 26 Der allgemein dafür verwandte Begriff Währungsunion griff jedoch zu kurz. Die DDR verlor nicht nur ihre Währungshoheit, sondern ebenso ihre Geschäftsfähigkeit über die Wirtschaft einschließlich ihres Außenhandels und aller damit zusammenhängenden Verwaltungsfragen. So übernahm die Treuhandanstalt 7.894 Volkseigene Betriebe mit vier Millionen Beschäftigten, etwa 40 Prozent aller Arbeitskräfte, sowie eine mehr als die Hälfte der DDR umfassende Grundfläche. Dazu gehörten auch Kraftwerke und Bergbauunternehmen, ausgedehnte Ländereien mit land- und forstwirtschaftlichen Betrieben sowie Hotels und Gaststätten bis hin zu Zirkusbetrieben. Praktisch war die Treuhandanstalt damit für den Großteil der DDR-Wirtschaft zuständig. Es war faktisch der wirtschaftlich und währungspolitisch vorweggenommene staatliche Anschluss an die BRD. Der Staatsvertrag legte fest, dass die DM am 1. Juli Zahlungsmittel in der DDR wurde. Nach einem gestaffelten Umtauschkurs wurden den DDR-Bürgern ab 60 Jahre bis zu 6.000, Erwachsenen darunter bis zu 4.000 und Kindern bis 14 Jahren bis zu 2.000 DDR-Mark 1:1 in DM umgetauscht. Darüber liegende Sparguthaben wurden 2:1 abgewertet. Das bedeutete, dass die Regierung der BRD den „Brüdern und Schwestern“, wie die DDR-Bürger immer genannt worden waren, mehrheitlich die Hälfte ihrer Ersparnisse raubte.

Das Bekanntwerden dieser im Staatsvertrag beschlossenen Maßnahmen führte bereits im Vorfeld seines Inkrafttretens in der PDS zu kritischen Auseinandersetzungen darüber, dass die Führung dem zu wenig oder auch keinen Widerstand entgegengesetzt hatte und zwang Gregor Gysi auf der Sitzung des Parteivorstandes Mitte Juni, sich dazu zu äußern. 27 Hier einige Gesichtspunkte des widersprüchlichen Mischmasch von einigen Eingeständnissen, des Relativierens einiger unmittelbar nach der „Wende“ verkündeter Alternativen und in der Substanz an ihrem Festhalten. So versuchte Gysi selbst jetzt Ursachen dieses mit der Währungsunion zu erwartenden Überstülpens des kapitalistischen Systems auf die DDR zu beziehen, in der kein Sozialismus, noch nicht einmal deformierter geherrscht habe, sondern einfach nur „Nichtkapitalismus“. Er musste nun zugeben, dass jetzt „Kapitalismus pur“ komme, beharrte gleichzeitig darauf, dass, um aus den Fehlern der DDR zu lernen, „wir einen guten Schuss bürgerlichen Parlamentarismus gebrauchen“ und eine effizientere Wirtschaft und „marktwirtschaftliche Elemente“. Er erneuerte das Angebot an die SPD, unter „sozialistischen Vorzeichen“ (wie sie die PDS nun vertrat) könne „ein Zusammengehen mit der SPD natürlich ausgesprochen positive Elemente haben“. Zu diesen zählte er ausdrücklich ihren Hang zur „Effizienz der Wirtschaft, ihren Hang zur Demokratie“. Dann beschwichtigend an die Kritiker, einen „Frieden mit dem Kapital“, wie ihn die Sozialdemokratie (das bezog sich auf die Geschichte) gemacht habe, werde die PDS nicht machen. Aber, so entschuldigte er, auch in der DDR sei ja „der erste Versuch einer nicht kapitalistischen Gesellschaft gescheitert, um im nächsten Satz zu loben, dass „der Kapitalismus funktioniert (der Nichtkapitalismus in der DDR eben nicht), dieser „Effizienz“ und eine „relative Demokratiefähigkeit entwickelt“ habe“. Einen Gipfel der Demagogie erklomm er in seiner Rede, über die das „ND“ auf einer ganzen Seite berichtete, in Bezug auf die Währungsunion vor den längst beschlossenen Anschluss an die BRD zu warnen. 28

Das vorgeblich kritische Nachdenken war bald vergessen. Mitte November 1990 – der Anschluss an die BRD war sechs Wochen alt, die volkseigenen Betriebe wurden platt gemacht, Zehntausende hatten ihre Arbeitsplatz verloren. Wissenschaftler wurden abgewickelt (wie die Entlassungen bei ihnen genannt wurden), mit Brötchen für fünf Pfennige das Stück war Schluss, die Mieten war auf das sechs- bis achtfache angestiegen – 29 stand die Frage, gab es nun einen kritischen Rückblick, Erkenntnisse, dass es anders gelaufen war, als man es erhofft hatte? Nichts dergleichen. Modrow hielt weiter an der „demokratischen Umwälzung des Herbstes 1989“ fest. Dass er nichts unternommen hatte, um den Sturm auf das „Stasi-Hauptquartier“ zu verhindern hielt er weiter für richtig. 30 Dass die Polizei gegen Hausbesetzer in der ,Mainzer Strasse in Berlin-Friedrichshain brutal vorging (die Zeitungen sprachen von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“) verurteilte er nicht etwa, sondern meinte nur, das hätte „durch zielstrebiges, gedultiges Bemühen um Dialog“ vermieden werden können. Zwar räumte er ein, dass sich wieder mehr DDR-Bürgerinnen und –Bürger bestimmter „positiver Faktoren“ erinnern, führte aber an „Erfahrungen der DDR“ lediglich an, es habe „keine öffentliche, starke Opposition“ gegeben. Kein Wort dazu, dass er als Ehrenvorsitzender der PDS, wie auch sein Parteichef Gysi nichts unternommen hatte, die Menschen auf der Strasse gegen diesen Anschluss zu mobilisieren. 31 Ich habe selbst an Veranstaltungen dieser Zeit teilgenommen, darunter auch mit Gysi. Der allgemeine Tenor war, so schlimm wird es schon nicht kommen.

Ein waschechter Opportunist

Ein Beispiel dafür, wie bedenkenlos frühere Überzeugungen über Bord geworfen und opportunistische Positionen bezogen wurden, lieferte Professor Lothar Bisky. „The show must go on“ aus der Serie nl-konkret des Verlags Neues Leben war verdientermaßen ein Renner. Es ging Bisky, der als ein brillanter Medienwissenschaftler galt, um „Unterhaltung am Konzernkabel“. Auch sein im gleichen Verlag erschienenes Buch „Geheime Verführer“ war ein Erfolg. In seiner Studie über „Massenkommunikation und Jugend“ 32 war er von „Was tun“33 ausgegangen und hatte herausgearbeitet, dass Lenin sich „ausführlich mit der Entstehung und Verbreitung der sozialistischen Ideologie, mit dem Problem der spontanen Bewußtseinsentwicklung innerhalb der Arbeiterklasse sowie mit dem Charakter sozialistischer Agitation und Propaganda“ beschäftigte. „Wie sozialistisches Bewußtsein“, so verkündete Bisky zu DDR-Zeiten „nicht etwas aus dem Klassenkampf urwüchsig Entstandenes ist, weil der Sozialismus als Lehre nur das Ergebnis angestrengter wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, weil in der kapitalistischen Gesellschaft die bürgerliche Ideologie die herrschende Ideologie ist, kann sich die sozialistische Ideologie nur durchsetzen, indem sie bewußt in den Klassenkampf des Proletariats hineingetragen wird“. Das hatte der Mann tatsächlich geschrieben. Und er hatte betont, dass in der „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ dem Nachweis „des Klassencharakters der Massenkommunikation besondere Bedeutung“ zukomme. Und weiter, die „führende Kraft“ des sozialistischen Aufbaus die Arbeiterklasse ist, die ihre führende Rolle nur durch ihre marxistisch-leninistische Partei erfüllen kann“.

Sicher, der Text war hölzern und phrasenhaft, in der Sache aber richtig, wie es die politischen Auseinandersetzungen 1989/90 verdeutlichten. Mit solchen Nachweisen theoretischer Kenntnisse des Marxismus-Leninismus stieg Bisky zum Kulturspezialisten an der Akademie für Gesellschaftswissenschaft des ZK der SED auf. Nach der „Wende“ warf dieser waschechte Opportunist einstige Anschauungen prinzipienlos über Bord und startete eine steile Karriere, wurde 1991 bis 1993 Landesvorsitzender der PDS in Brandenburg, stieg im selben Jahr bis 2000 und nochmals von 2003 bis 2007 zu ihrem Bundesvorsitzenden auf. Unter seiner Führung fusionierten die PDS und die westdeutsche WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative) zur Partei Die Linke. Zusammen mit Oskar Lafontaine war Bisky von 2007 bis 2010 ihr Vorsitzender. 2009 zog er als Spitzenkandidat in das EU-Parlament ein. Von 2007 bis 2010 war er Vorsitzender der Partei der Europäischen Linken.

Markus Wolf: in den Grauzonen des Selbstverrats und mithin des Verrats 

Im Fahrwasser Gysis und Modrows segelte auch der legendäre langjährige Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, Markus Wolf. 34 Seinem Buch „Spionagechef im geheimen Krieg“ (deutsche Ausgabe München 1997) war zu entnehmen, dass er allen Ernstes bereits 1990 mit dem Gedanken spielte, ein Angebot der CIA anzunehmen und für diese „eine Aufgabe“ bei der Enttarnung eines „Maulwurf“ im KGB zu übernehmen.35 Wolf wollte daraus auch ein gutes Geschäft für sich machen und bestand auf einer „verdeckten Form der Zusammenarbeit“, um „nicht mein Gesicht zu verlieren“. Ein Verlag oder eine Filmgesellschaft sollten ihn zur Vermarktung seines Buches in die USA einladen. Die CIA war jedoch in Zeitnot, und wollte Wolfs sofortige Bereitschaft, „zu beraten“ und „zu helfen“. Daran scheiterte das Vorhaben dann.

Bei der Vermarktung seines Buches ließ Wolf dann linke Verlage außen 36 vor und unterwarf sich, ganz offensichtlich aus Gründen der Honorarhöhe, den Bedingungen des New Yorker Random House. Dem Verlag, der später zu Bertelsmann gehörte, überließ er die Weltrechte und die Filmrechte dazu. Das Buch erschien, von Ghostwritern auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten, in Lizenzausgaben in vierzehn Ländern in elf Sprachen. Für die englischsprachige Ausgabe, die unter dem Titel „The man without a face“ (Der Mann ohne Gesicht) erschien, engagierte Wolf als Ko-Autor nicht etwa einen renommierten linken Publizisten, von denen es in den USA oder Großbritannien nicht wenige gab, sondern die frühere stellvertretende Chefredakteurin des konservativen „Spectator“Anne McElvoy, die von 1988 bis 1992 Korrespondentin der Londoner „Times“ in der DDR bzw. Berlin war.37

Bei ihr wie anderen Helfern, darunter dem langjährigen „Stern“Journalisten Kai Herrmann, bedankte er sich „für Rat, Unterstützung und die … bezeigte Solidarität und Hilfe“ bei der Vorbereitung der Ausgabe. Die damals 31jährige McElvoy, „dankte“ es ihm, indem sie ihn in der „FAZ“ im Juni 1997 durch den Kakao zog, sich als sein “moralischer Fitnißtrainer“ brüstete, ihm „merkwürdig unterentwickelte moralische Maßstäbe“ nachsagte und als „Monstrum“ charakterisierte. Wolf konnte sich trösten, denn mit dem Buch soll er zweistellige Millionenbeträge eingefahren haben.

Als die „Welt am Sonntag“ (WaS), zu deren Themen sonst die Schürung der „Stasi“-Hysterie gehörte, ihm auf ganzen zwei Seiten 38 einen recht wohlwollenden, mit viel, wenn auch verstecktem, Lob geschmückten Beitrag widmete, bescheinigte er ihr dafür, dass der Sozialismus „ein deformiertes System war“ und die Jahre nach dem Untergang der DDR zwar die „vielleicht schwersten“ aber auch „die schönsten“ seines Lebens waren. Er versuchte zwar, das an der Ehe-Idylle mit seiner über zwei Jahrzehnte jüngeren dritten Frau festzumachen, zu der er von sich gab, „ich wusste nicht, dass es ein so erfülltes Leben geben kann.“ Damit das Ganze nicht nach offenem Renegatentum aussieht, bescheinigte ihm die „WaS“ dass „er Kommunist blieb“ und von ihm Verrat „nicht zu haben war. Wirklich nicht?

Gabriele Gast, eine der erfolgreichsten Kundschafterinnen der HVA, sah das anders. 39 Die hochintelligente Wissenschaftlerin arbeitete seit 1973 in der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND), wo sie bis zur Regierungsdirektorin aufstieg. Sie war über eineinhalb Jahrzehnte die wichtigste Quelle der HVA in Pullach und Wolf leitete ihre Tätigkeit viele Jahre selbst. Ihre Enttarnung gelang, weil der Oberst der HVA Karl-Christoph Großmann (nicht verwandt mit dem letzten HVA-Chef Werner Großmann) sie an den BND verriet. Sie wurde zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. 15 Monate wurde sie einer Isolationshaft unterworfen. Vor Gericht musste Gast erleben, dass Wolf sich nicht solidarisch an die Seite seiner Kundschafter stellte, sondern „sich in eine politische Oppositionsrolle innerhalb der DDR zu argumentieren“ und „als Parteigänger Gorbatschows politisch zu profilieren“ suchte. Gast und der frühere MfS-Oberst Eichner enthüllten in diesem Zusammenhang, dass Gysi und auch Modrow hinnahmen, dass die früheren Mitarbeiter der HVA strafrechtlich verfolgt wurden, was gegen das Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes verstieß, während die ostdeutschen Mitarbeiter des BND straffrei ausgingen, weil sie, wie der Bundesgerichtshof urteilte, in Übereinstimmung mit den Gesetzen gehandelt hätten. Ministerpräsident Modrow ließ, so Gast, auf ihre Bitte um Unterstützung mitteilen, sie möge sich doch „an die Kirche als karitative Organisation wenden“. Gregor Gysi hatte die Stirn, ihr zu sagen, „was sie denn eigentlich wolle“, schließlich „hätte ich gegen die Strafrechtsbestimmungen meines Staates verstoßen!“ Kein Wunder, dass es die von Gysi geführte PDS auch hinnahm, dass der Bundestag 1992 rückwirkend alle in Ostdeutschland seit 1945 „wegen politischer Verfolgung“ verurteilten Westagenten rehabilitierte. Damit wurde, so Gast, „der DDR das Recht eines souveränen Staates abgesprochen, sich strafrechtlich gegen Spionage zu schützen“. Außerdem erhielt die Organisation des Hitlergenerals Gehlen „damit sozusagen den nachträglichen Persilschein: Sie ist seit dem 8. Mai 1945 laut diesem ‚SED-Unrechtsbereinigungsgesetz‘ demokratisch völlig legitimiert.“

In den Grauzonen des Verrats bewegte sich Wolf in diesem Buch, als er sich beispielsweise dem „Geist der Wendezeit“ folgend, zu dem wegen Hochverrats zum Tode verurteilten hochrangigen MfS-Mitarbeiter Werner Teske, der zum BND überlaufen und mit seinem Wissen Dutzende in der BRD arbeitende Kundschafter ans Messer liefern wollte, äußerte, das Urteil sei „juristisch nicht zu rechtfertigen“ und seine Vollstreckung 1981 als „unverständlich“ bezeichnete. Seine Wertung wurde 1998 im Prozess der bundesdeutschen Siegerjustiz vor dem Berliner Landgericht gegen den Militärrichter Karl-Heinz Knoche und den Militärstaatsanwalt Heinz Kadien, die das Urteil beantragt bzw. gefällt hatten, zur Beweisführung herangezogen. Gegen die DDR-Juristen wurden vierjährige Haftstrafen verhängt. 40

Die „Frankfurter Rundschau“ gab am 12. April 2002 den früheren Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, wieder der erklärt habe, dass Modrow ihn nach dem „Sturm aufs große Haus“ am 3. Dezember nach Berlin zu einer Beratung im Haus des Ministerrates mit Gregor Gysi, Markus Wolf und dem „ Rest der (SED) Mannschaft“ gerufen habe. Nach dem er (Berghofer) abgelehnt habe, die Führung der SED zu übernehmen, habe Gregor Gysi das dann übernommen. Modrow habe gesagt: „Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige!“ Das müssten, habe Modrow erläutert, Verantwortliche sein, „zu denen es in der Gesellschaft schnell einen Konsens gibt und die Massen sagen, jawohl, das sind die Schuldigen.“ Dazu habe Modrow dann „das Ministerium für Staatssicherheit“ genannt. Wolf habe Einspruch erhoben, aber Modrow ihn beruhigt, „die Aufklärung des MfS halten wir selbstverständlich aus dieser Einschätzung heraus.“ Danach sei Wolf „einverstanden“ gewesen. Laut „Tagespiegel“ vom 13. April 2007 habe Gysi das „Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007“ über seine Anwälte ultimativ aufgefordert, dazu eine Passage in dem Buch nicht mehr zu verbreiten, die besagte, dass er an dem Treffen auf Einladung von Ministerpräsident Hans Modrow am 3. Dezember 1989, teilgenommen habe. Er bestritt, eingeladen oder gar dabei gewesen zu sein. Auch habe er keine Kenntnis über den Inhalt des „angeblichen Treffens“ gehabt. Hier ist anzumerken, dass unabhängig davon, ob die betreffenden Behauptungen der Wahrheit entsprechen oder nicht, die Aussagen von Engelhardt beweisen, dass diese Haltung gegenüber dem MfS von Modrow und seiner Regierung so praktiziert wurde

Einen Höhepunkt seiner Medienstarkarriere, während der er von einer Talkshow zur anderen tingelte, Interviews von „Stern“ bis „Spiegel“ verkaufte und selbst den „Playboy“ nicht aussparte, in einem Dutzend Fernsehsendungen posierte, erlebte er in dem Film „Die Wolfs“, den die ARD in ihrem Hauptprogramm ausstrahlte. Vorgeblich widmete sich der subtilen Antikommunismus ausstrahlende Streifen der Familie des bekannten Schriftstellers und Kommunisten Friedrich Wolf, dem Vater des früheren HVA-Chefs. Auch Markus Wolfs Bruder Konrad, der Filmemacher und einstige Präsident der Akademie der Künste der DDR, fehlte nicht. Vornehmlich diente das Ganze jedoch wieder einmal vor allem dazu, Markus Wolf, der durch die Handlung führte, als „honorigen Kommunisten“ vorzuführen. Dieser wusste längst, dass er in den Medien der Bourgeoisie für eine gute Gage auch etwas bieten musste. Gleich zu Beginn trat er als Freund des bekannten antikommunistischen „Kommunismus-Experten“ Professor Wolfgang Leonhard 41 auf und gab sich am Ende des Films bei einem Familientreffen als Zeuge für die Aussage her, dass die Träger des großen Namens ihre Ideale auf immer verloren hätten und „ganz gewöhnliche Bundesbürger“ geworden seien. Wie „gewöhnlich“, soll hier dahingestellt bleiben.

Im Besitz neuer Erkenntnisse über Markus Wolf habe ich mir noch einmal die „Troika“ vorgenommen, jenes Buch, das 1989, als die Konterrevolution zum Angriff rüstete, im Aufbauverlag der DRR erschien. Angeblich um dieses Buch, aber auch um seine Memoiren zu schreiben, die dann nach dem Sieg der Konterrevolution unter dem bereits erwähnten Titel „Spionagechef…“ erschienen, quittierte er 1986 den Dienst als HVA-Chef. Lagen die Motive nicht tiefer? War er nicht schon zu dieser Zeit, wie er schreibt, dabei, über die „Krankheit des Systems nachzudenken, das wir für Sozialismus hielten“? Stand er nicht schon damals im Sog von Gorbatschows „Perestroika“, die, wie dieser opportunistische Agent des Imperialismus inzwischen bekannte, die Liquidierung der UdSSR, den Verkauf der DDR an die BRD eingeschlossen, zum Ziel hatte. Führte ihn das an die Seite von Gregor Gysi und der Anführer des SED-Parteiputsches von 1989, mit dem der Konterrevolution in die Hände gearbeitet und der reformistische Kurs des Ankommens in der BRD eingeleitet wurde? Fest dürfte heute stehen: Wolf gehört zu denen, die am besten, vor allem am bestdotierten, im imperialistischen System, ankamen.

Sein „Ankommen“ in „Deutschland einig Vaterland“ 42 bewahrte Wolf, wie auch Modrow, dennoch nicht vor der bundesdeutschen Rachejustiz. 1993 wurde Wolf angeklagt und zu sechs Jahren Haft verurteilt, die später aufgehoben wurden. In einem zweiten Prozess erhielt er 1997 eine Bewährungsstrafe. 43

Die Toten der „friedlichen Revolution“

,Entgegen den verbreiteten Lügen, beim Anschluss der DDR an die BRD als „friedlicher Revolution“ habe es keine Toten gegeben, sieht die Realität auch hier anders aus. Die Verlierer der Geschichte wurden nicht, wie der damalige Justizminister der BRD, Kinkel erklärte, in Lager gesperrt, sondern ins soziale Abseits gedrängt. 44 Das hieß, dass Unzählige mit Berufsverbot belegt, ihre Menschenwürde mit Füßen getreten, gegen sie eine unsägliche Lügen- und Hetzkampagne geführt, Tausende von Gericht gezerrt und verurteilt wurden. Über die Zahl derer, die dem nicht stand hielten, denen die Kraft fehlte, zu widerstehen, die Hand an sich selbst legten, liegen keine Angaben vor. Einer Studie der Zeitschrift „Icarus“ der Gesellschaft für Bürger- und Menschenrecht (GBM) in Heft 3 und 4/ 2006 war zu entnehmen, dass ,, die Zahl dieser Toten in die Zehntausende geht, wenn sie nicht gar, wie intern angenommen wird, die Einhunderttausend erreichte. Laut „AFP“ töteten sich bereits im Jahr nach der Einverleibung der DDR in Ostdeutschland 4.294 Menschen selbst. ,Die Opfer waren Arbeiter und Genossenchaftsbauern, Lehrer, Ingenieure und Journalisten, Ärzte, Künstler und Wissenschaftler, von den Massenentlassungen Betroffene, obdachlos gewordene, Kinder, die die Demütigungen ihrer Eltern nicht ertrugen. Der Suizidexperte Udo Grashoff berichtete, dass von 1989 bis 1991 die Selbstmordrate in den neuen Bundesländern um rund zehn Prozent anstieg. Wie viele von den über 11.000 Menschen, die in der Bundesrepublik jährlich Selbstmord begingen, Opfer der „Wende“ waren, ist nicht bekannt.

Autoren der Studie waren u. a. der bekannte Faschismusforscher der DDR, Prof. Manfred Weißbecker, der Ökonom Prof. Harry Nick, der Pfarrer Dr. Dieter Frielinghaus, die Schauspielerin Käthe Reichel und der Rechtsanwalt Peter Michael Diestel.

Weißbecker schrieb über seinen Kollegen an der Jenenser Universität Prof. Gerhard Riege, dem als Mitglied des Bundestages in dem „hohen Haus“ blanker antikommunistischer Hass entgegenschlug. In ihm entäußerte sich ein „Ungeist, der noch Schlimmeres als Keim in sich trägt“, urteilte Gerhard Haney, einer der Kollegen Rieges. „Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen“, schrieb Prof. Riege bevor er am 15. Februar 1992 den Freitod wählte.

Hier ist anzumerken, dass Riege das Einzige dieser Opfer ist, zu dem sich Modrow öffentlich äußerte. An Hand des Bundestagsprotokolls über eine Rede Rieges enthüllt er mit Zitierungen die abgrundtiefen antikommunistischen und DDR-feindlichen Hetztiraden, die die Rede Rieges begleiteten, und die den „sensiblen Riege“ in den Freitod trieben. Modrow, das muss hier sachlich gesagt werden, enthielt sich der sich hier (wie auch bei anderen Gelegenheiten) bietenden klaren persönlichen Abrechnung mit diesem menschenfeindlichen System und beschränkte sich darauf, dass das Redeprotokoll „nicht nur die Arroganz im Hause, mit der Riege und seine Kolleginnen und Kollegen von der PDS/Linke Liste behandelt wurden“ offenbarte, sondern auch „Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis mancher Abgeordneter“ gestatte.

Zurück zur Studie der Zeitschrift „Icarus“, die anführte, dass zu den Opfern gehörten: der Grafiker Thomas Schleusing vom Jugendmagazin „Neues Leben“, sein Kollege, der sensible Zeichner und Gestalter Christoph Ehbets, bekannt u. a. durch seine Cover beim VEB Deutsche Schallplatte. Der Vizepräsident des DTSB Franz Rydz, der Minister für Bauwesen der DDR Wolfgang Junker, der Raubtierdresseur Hanno Coldam (Heinz Matloch) der international bekannten Löwen-Gruppe des VEB Zirkus Aeros, der hervorragende Neurowissenschaftler der DDR Prof. Armin Ermisch, nach dem ein internationaler Preis für herausragende Nachwuchswissenschaftler benannt ist. Der weltberühmte Schauspieler Wolf Kaiser, der sich seine Menschenwürde nicht nehmen ließ und dafür in den Tod ging. Als einen „ungekrönten Monarchen der Schauspielzunft“ würdigte ihn Eberhard Esche in seiner Grabrede.

Nicht nur SED-Mitglieder waren unter den Opfern. Unter ihnen befanden sich die Jugendbildungsreferentin der Evangelischen Akademie Meißen, Anne-Kathrin Krusche, und der frühere Abgeordnete der sächsischen CDU Herbert Schicke, der Arbeitsmediziner und Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Lichtenberg, Dr. Rudolf Mucke, der weder der SED noch der FDJ angehört hatte. Das MfS hatte 1976 Anwerbungsversuche wegen „dekonspirativen Verhaltens“ aufgegeben. Die „Ehrenkommission“ der Berliner Charité hielt seine Weiterbeschäftigung  dennoch für „unzumutbar“. Dem Hochschullehrer Hans Schmidt, dessen hohes theoretisches und international anerkanntes Wissen die Wirtschaftsuniversität Wien würdigte, wurde – wie unzähligen anderen DDR-Wissenschaftlern – „wegen mangelnden Bedarfs und mangelnder fachlicher Qualifikation“ gekündigt. Als ,sein Henker agierte der Nazikriegsverbrecher Prof. Wilhelm Krelle, den es nach dem Anschluss der DDR  als Gründungsdekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an die Humboldt-Universität Berlin (HUB) gespült hatte. Diesem als SS-Sturmbannführer in Griechenland an Kriegsverbrechen beteiligten, mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der BRD ausgezeichneten Prof, Krelle, verlieh die Präsidentschaft der HUB auch noch die Ehrendoktorwürde. Prof. Krelle erklärte öffentlich, er werde „Dr. Schmidt unter allen Umständen von der Humboldt-Universität entfernen.“ Nach einem vierjährigen zermürbenden und entwürdigenden Rechtsstreit um seinen Arbeitsplatz, der für den Schwerbehinderten nicht ohne gesundheitliche Folgen blieb, nahm sich Dr. Schmidt am 8. Mai 1996 durch einen Sprung aus dem 13. Stockwerk seiner Hochhauswohnung das Leben. Prof. Krelle verstarb im Juni 2004 wohlpensioniert im Alter von 88 Jahren als einer der unzähligen für ihre Teilnahme an faschistischen Kriegsverbrechen in der BRD nicht zur Verantwortung gezogenen Naziaktivisten. Die Leitung der HUB widmete ihm ein „ehrendes Gedenken“.

In der Studie wird geschildert,wie im Januar 1992 in den frühen Morgenstunden Polizisten die Wohnung des Ehepaares Fuchs in der Grunauer Straße 12 in Dresden besetzten und Otto Fuchs verhafteten. Seine Frau Martha, eine Jüdin, die KZ-Häftling gewesen war, erlitt einen schweren Nervenzusammenbruch. Die furchtbaren Erlebnisse der Nazizeit wurden lebendig. Sie glaubte, Faschisten drängen – wie nach 1933 – wieder an die Macht. Mit einem schweren Schock wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Die Leipziger Staatsanwaltschaft erhob gegen Otto Fuchs Anklage wegen Rechtsbeugung und Mord. Er war 1950 in den Waldheim-Prozessen gegen Kriegsverbrecher und Naziaktivisten Vorsitzender Richter gewesen. Man warf ihm vor, er habe Unschuldige zum Tode verurteilt. Mit Hilfe seines Anwalts kam er für kurze  Zeit aus der Untersuchungshaft frei. Um den Richtern nicht die hämische Genugtuung an „seiner langsamen und qualvollen prozessualen Hinrichtung“ zu ermöglichen, beschlossen er und seine Frau aus dem Leben zu scheiden. Im Abschiedsbrief hieß es: „Meine Frau würde eine Trennung von mir nicht überstehen. Ich versichere Ihnen, dass wir in meiner Strafkammer nur Kriegsverbrecher verurteilt haben und ich bin mir sicher, dass wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozess mich zum Verbrecher zu stempeln. (…) Heute, nach einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle – und sind sie auch noch so schwer belastet – als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, dass Auschwitz als Lüge hingestellt wird.“ Am 13. Februar um 23.15 Uhr sprangen Otto und Martha Fuchs vom Balkon ihrer Wohnung aus dem siebten Stock in den Tod. Im Prozess gegen den mit angeklagten 87jährigen Otto Jürgens musste das Tribunal die Mordanklage fallen lassen, Schließlich wurde ein reines Gesinnungsurteil verhängt und der Angeklagte zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, 6.000 DM Geldstrafe und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. In seinem Schlusswort sagte Otto Jürgens, der bereits 1933 von der Gestapo verhaftet und gefoltert worden war: „Die Naziverbrecher, die in Waldheim abgeurteilt wurden, hatten ihre Strafe mehr als verdient.“

Gregor Gysi: „Ein Schritt nach vorn“ – wohin?

Zum Ende dieser Betrachtung stellt sich die Frage, ob es neue Erkenntnisse bei den Akteuren gibt. Die versuchte Antwort soll sich auf zwei Personen beschränken: Auf ein kurzes Eingehen auf Gregor Gysi, und danach ein etwas ausführlicheres auf ansx Modrow Hans Modrow.

Gregor Gysi war bis 1993 Vorsitzender der PDS, von 1990 bis 1998 ihrer Bundestagsgruppe und von 1998 bis 2000 ihrer Bundestagsfraktion, von 2005 bis 2015 Chef der Linksfraktion. 2002 war er fünf Monate Senator für Wirtschaft der Berliner Regierung mit der SPD und einer der Stellvertreter Klaus Wowereits. In dieser Zeit bekannte er sich zur sozialen Marktwirtschaft, nannte den Markt eine „zivilisatorische Errungenschaft“ und wandte sich gegen die Verstaatlichung aller Produktionsmittel, die in der DDR keinen besonderen ökonomischen Fortschritt gebracht habe.45 Wegen der sogenannten „Flugmeilenaffäre“, der missbräuchlichen Nutzung des Bonus für Abgeordnete, musste er im August zurückgetreten. 46

Sicher, von Gysi wird einiges hinterfragt, etwas relativiert, mal dieser oder jener Fehlereingeräumt, aber am grundsätzlich „richtigen Weg“ des „Ankommens“ im Kapitalismus wird nicht gerüttelt. Das verriet schon der Titel seines 2001 erschienen Buches. „ Ein Blick zurück. Ein Schritt nach vorn“. 47 Darin räumte er zu Jugoslawien zum Beispiel ein, dass es in den USA wie in der BRD Kräfte gab, die am „Zerfall“ Jugoslawiens „interessiert waren“, aber Slobodan Milosevic mit seinem instrumentalisierenden Nationalismus“ unbestreitbar „einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet“ habe. Da wird schlicht das Opfer zum Täter gemacht.

Er kritisierte den Umgang der BRD mit den Eliten im Anschlussgebiet (was für ihn natürlich „deutsch-deutsche Vereinigung“ blieb), um mit einem Rückblick auf den „Elitenwechsel“ nach 1945 festzuhalten in beiden „deutschen Teilstaaten“ (!) habe es „Fehlleistungen“„ beim „Elitenaustausch“ und der „Bewältigung der Vergangenheit“ gegeben. Dazu greift er die von westdeutscher Seite erhobenen Anschuldigungen auf und vermerkt, dass auch in der DDR der „Umgang mit Nazikriegsverbrechern einer kritischen Analyse“ bedürfe. „Bei den sogenannten Waldheimprozessen, in deren Verlauf von der UdSSR übergebene Nazis in Schnellverfahren verurteilt wurden“ habe es „erhebliche rechtsstaatliche Defizite“ gegeben. Zwar nennt er es dann „mehr als fraglich, wenn die westdeutsche Justiz, die Nazikriegsverbrecher so gut wie nie vor Gericht gebracht hat, nach der deutschen Wiedervereinigung aber den Richterinnen und Richtern der Waldheimprozesse wegen Rechtsbeugung den Prozess machte“. Aber, wie generell, wird erstmal die „Schuldfrage“ auf beide Seiten verteilt. 48 De facto stützte Gysi schließlich auch die von der BRD-Justiz, so vom damaligen Minister Klaus Kinkel aber auch von Bundespräsident Wolfgang Thierse vertretene Phrase von den 60 Jahren „zweier unterschiedlicher autoritärer Regimes“, damit der Gleichstellung der Regierung der DDR mit der faschistischen Diktatur.

Eine verblüffende Erklärung gab Gysi für die von Kohl betriebene Abwicklung der DDR-Intelligenz, zu der er feststellte, dass sie sich daraus ergeben habe, „dass die BRD aus der DDR existenziell nichts benötigte“, um dann zu betonen, das sei (von ihm) „kein moralischer Vorwurf“ er „beschreibe hier nur einen Umstand“ der, so räumt er ein, „schwerwiegende negative Konsequenzen im Rahmen des Vereinigungsprozesses hatte, und diese wären nur dann wesentlich weniger deutlich in Erscheinung getreten, wenn sich die verantwortlichen westdeutschen Eliten, insbesondere die aus der Politik, bewusst dazu entschlossen hätten, die Wirkung der Tatsache, dass aus der DDR nichts existenziell benötigt wurde, drastisch einzuschränken“. Ich will es bei diesen Zitierungen aus dem Juristenkauderwelsch des Anwalts Gysi belassen und nur noch daran erinnern, dass unter den aus dem Westen importierten Eliten sich ranghohe Politiker befanden, wie der spätere Ministerpräsident von Sachsen Biedenkopf oder der als Gründungsdekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an die Humboldt-Universität gespülte Nazi-Kriegsverbrecher und SS-Sturmbannführer Prof. Wilhelm Krelle (siehe „Die Toten der friedlichen Revolution“). Aber das hier angeführte ist keine Ausnahme, sondern durchzieht fast durchweg das Buch. Und Gysi betonte „schlussfolgernd“ wie wichtig der Kontakt „zu den heutigen Eliten“ (also den aus dem Westen importierten, die die Plätze der abgewickelten „Osteliten“ einnahmen), sei.

Verwundern konnte höchstens, dass Gysis Buch damals auch im Internet über „CDU-Solidarität.de“ zu beziehen war, verbunden mit einem Spendenaufruf, nicht für die PDS, sondern für die CDU. 2015 rühmte sich Gregor Gysi schließlich, die reibungslose Integration der DDR-Bürger ins politische System der BRD sei seiner Partei und auch ihm persönlich zu verdanken. 49

Obwohl Gregor Gysi nun in echter sozialdemokratischer Tradition Schützenhilfe bei der Abwiegelung von Widerstand gegen die Einverleibung der DDR leistete, hielt das die Regierenden in Bonn bzw. dann Berlin nicht davon ab, auch gegen ihn eine wüste Hetzkampagne als „Stasi-Spitzel“ zu starten. Sie scheiterte, weil es nicht gelang, das für eine Überführung wichtigste Dokument, nämlich eine von ihm unterschriebene sogenannte Verpflichtung als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) zu arbeiten, zu finden. Ich erinnerte mich, dass mir Klaus Gysi in Rom, es war, glaube ich, 1976, einmal anvertraute, das MfS wollte seinen Sohn, der als promovierter Jurist als Rechtsanwalt tätig war, als IM anwerben. Aber er habe ihm geraten, keine Verpflichtung zu unterschreiben. Daran habe er sich gehalten. 50 Er strebte danach, den Vorsitz im Kollegium der Rechtsanwälte der DDR zu übernehmen (was er dann 1988 auch erreichte). Vor allem aber wollte er ein zweiter „Vogel“ werden. 51 Das schaffte er dann nicht mehr. Wie bereits erwähnt, verteidigte Gregor Gysi bekannte Dissidenten der DDR, wie Robert Havemann und Rudolf Bahro aber auch Bärbel Bohley. Letztere gehörte zu denen, die ihm Mandantenverrat vorwarfen und ihn als „Stasispitzel“ diffamierten. Gregor Gysi hat das immer bestritten und erklärt, er sei von Mitarbeitern des MfS, die als Vertreter von DDR-Institutionen getarnt ihm gegenüber aufgetreten seien, abgeschöpft worden. Jedenfalls setzte er zahlreiche Unterlassungsbescheide durch, die verboten, ihn als „Stasispitzel“ zu bezeichnen. Dass er einem Prozess wegen IM-Tätigkeit entging, verdankte er so seinem Vater, der über genügend Erfahrungen verfügt hatte, dass man Überläufer wohl auch im MfS einkalkulieren musste und Gregor davon abhielt, eine Verpflichtung zu unterschreiben.

Dazu bin ich der Meinung, dass Gregor Gysi natürlich wusste, wem er da gegenüber saß und an wen das, was er da sagte, ging. So wie ich auch der Meinung war und weiter bin, dass die Anschuldigungen gegen Lothar de Maizière, er habe für das MfS gearbeitet oder zumindest Kontakte unterhalten, zutreffen dürften. Sie waren für Kohl das Druckmittel, dass de Maizière dem von Bonn vorgegebenen Zeitplan zum Anschluss der DDR zustimmte.

Hans Modrow: über „Erfahrungen und Irrtümer“

Wie ging es mit Hans Modrow weiter. Er blieb Ehrenvorsitzender der PDS und wurde nach deren Umwandlung in die Partei Die Linke Vorsitzender ihres Ältestenrates. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Bundestages, von 1999 bis 2004 EU-Abgeordneter. 52 Gegen das Unheil, das er ,gegenüber den Bürgern der DDR widerstandslos mit heraufbeschworen hatte, erhob er gelegentlich Einspruch. So wenn er in einem Schreiben an den Bundesverteidigungsminister Volker Rühe im Juli 1997 ersuchte (!), dass „der Verfolgung von Soldaten und Offizieren der Nationalen Volksarmee wie auch anderen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die nach Verfassung und Gesetzen dieses Staates gehandelt haben, ein Ende gesetzt wird. 53 Eine Reaktion gab es nicht. Und Modrow ließ es dabei bewenden.

1998. neun Jahre später, erschien sein bereits erwähntes Buch „Ich wollte ein Neues Deutschland“. Gab es Erkenntnisse, Einsichten, dass es nicht so gelaufen war, wie man es sich vorgestellt hatte, kritische Reflektionen? Zunächst fiel auf, dass sich Hans Modrow der Widersprüchlichkeit seiner Darlegungen und des ihnen zugrundeliegenden Subjektivismus wohl bewusst war und er versuchte, vorzubauen. Er bekannte „ein offenbar gestörtes Wahrnehmungsvermögen“. Verständnis heischend bemühte er die vertrackte „Härte des Lebens“, die darin bestehe, dass „man Erfahrungen sammelt, Irrtümer durchmacht und aus den Erfahrungen und Irrtümern gut herauskommen will. Da gebe man halt nicht gern zu“, dass „man frühere Auseinandersetzungen nur halb oder gar nicht führte. Vor allem, wenn sich im Nachhinein auch jene Gefahr verringert, deren scheinbare Größe einen einst abhielt, wirklich mutig zu sein.“ Modrow bemühte sich denn auch redlich, aus seinen „Erfahrungen und Irrtümern“ gut herauszukommen. Sein „Wahrnehmungsvermögen“ zu entstören, gelang ihm dabei allerdings nur sehr bedingt, und das auch nur, wenn er seinen Werdegang in der DDR reflektierte. Sicher, da gehörte er nicht zu denjenigen in seiner Partei, die sich für ihr in der DDR gelebtes Leben und für die Politik, die sie mitgetragen hatten, ständig entschuldigten. Er bekannte sich, wenn auch mit manchem Wenn und Aber, zur DDR und stellte viele ihrer Errungenschaften heraus. So war ihm die „große Aufbruchsstimmung“ Anfang der fünfziger Jahre, „der eingreifende Enthusiasmus jener Tage“, als „eine der entscheidenden Empfindungen meines Lebens im Gedächtnis geblieben“, schrieb er und fügte hinzu: „Wir sahen uns damals keineswegs als Instrumente einer fremden Politik, sondern als kräftige Subjekte, die von der ganz neuartigen Beherrschbarkeit der gesellschaftlichen Sphäre träumten“, die vorhatten, „eine ganz neue, ausbeutungsfreie, kriegsfreie und faschismusabstinente Realität zu schaffen.“

Waren es nur Träume? Waren die erreichten Ergebnisse gering zu schätzen? Waren die Bodenreform, die Beseitigung der Herrschaft des Kapitals und damit der Ausbeutung, die antifaschistischen Umwälzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen nicht tiefgreifende revolutionäre Veränderungen? Nein, korrigierte Modrow, dessen Sicht jetzt von den reformistischen Positionen der PDS bestimmt wurde. Denn der DDR revolutionäre Umwälzungen zuzugestehen, hätte sie nicht nur vor der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung einschließlich ihrer unter diesem Gesichtspunkt unvermeidlichen Missstände und Gebrechen rehabilitiert, sondern auch ihre Errungenschaften zum Maßstab der Einschätzung und des Handelns der Partei Modrows gemacht. „Was wir Revolution nannten, waren zu wesentlichen Teilen nur die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, die im Osten konsequent verwirklicht wurden“, hieß es etwas weiter, womit der Autor so das vorher herausgestellte „kräftige Subjekt“ der DDR-Geschichte ganz kräftig abwertete.

Wer den Platz der DDR in der Geschichte der jahrhundertelangen Klassenkämpfe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Unterdrückern und Unterdrückten von revolutionären Positionen aus einschätzen will, wird zwangsläufig nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass sie trotz aller Defizite die größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des deutschen Volkes war. Die historische Bedeutung der DDR wird bei all ihren Deformationen und Missbildungen, von denen die bürgerlichen Revolutionen der Vergangenheit in weit schlimmeren Maße heimgesucht wurden, gerade im Nachhinein, nach ihrer Zerschlagung, an den Versuchen deutlich, alles, was sie hervorgebracht hatte, auszurotten und aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen.

Solche Er- und Bekenntnisse suchte man bei Modrow lange vergebens. Bei vielen richtigen und kritischen Anmerkungen zu Demokratiedefiziten und Entartungen der ersten staatlichen Sozialismusgestaltung auf deutschem Boden, auch als Frühsozialismus eingeschätzt, fehlte eine Antwort auf die oft gestellte Frage, wie viel anders diese DDR denn unter den Bedingungen der erbitterten kalten Kriegsauseinandersetzung, der Abhängigkeit von der ökonomisch schwachen UdSSR und angesichts des übermächtigen westdeutschen Gegners hätte aussehen können?

,Bedeutend problematischer wurde es, wenn Modrow seine Haltung und sein Handeln im Herbst 1989 als Bezirkssekretär in Dresden und danach vom November 1989 bis März 1990 als Ministerpräsident zu erklären und zu rechtfertigen suchte. Er versuchte, den Eindruck zu vermitteln: So lief es ab, „es hätte gar nicht anders kommen können“

Anzufügen wäre dem noch, dass Modrow nun nicht etwa korrigierte, den konterrevolutionären Ambitionen von „Runden Tisch“-Vertretern nicht Einhalt geboten zu haben, sondern „selbstkritisch“, festhielt, sich dem „Druck des Runden Tisches“ erst „relativ spät“ gebeugt zu haben. Ein früheres Nachgeben hätte ihm, so spekulierte er, „von bestimmter oppositioneller Seite“, wenn auch nur kurzzeitig, wie er einräumt, „Kredit an Vertrauen“ eingebracht.

Wenn Modrow dann das „Ausmaß an Verrat“ beklagte, den Führungsoffiziere der HVA begingen, dann fehlte jedes Eingehen darauf, wie er sein Verhalten, das die DDR schutzlos den Geheimdiensten der BRD und USA auslieferte, einschätzte. Stattdessen feierte er den Bericht des „Runden Tisches“ über die von diesem durchgesetzte, von ihm danach angeordnete Auflösung des MfS als „eine Einmaligkeit“.

Im Mai 1999 verurteilt Modrow natürlich, wie Gysi und die PDS, dass die BRD sich in den Fußstapfen der Hitlerwehrmacht am Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligte. Er konstatierte, dass die Bundeskonferenz der Grünen bei „beachtlichem“ Widerspruch das „Kriegskabinett“ unterstützt. Dass sich ihnen auch frühere „Bürgerrechtler“ aus der DDR, die doch vorgegeben hatten, einen „besseren Sozialismus“ zu wollen, angeschlossen hatten, kam ihm nicht in den Sinn. Stattdessen verteidigte er die „Vision“ der PDS „für Europa“ und ihr „Ja zur europäischen Integration“ und vergaß dabei völlig, dass dieses Europa gerade den Aggressionskrieg führte, den er vorher verurteilt hatte. Dann schwafelte Modrow munter, diese PDS wolle, dass diese EU ein „sozial gerechtes, demokratisches und umweltbewahrendes Europa“ wird. „Wir wollen einen Kontinent freundlich verbundener Völker und gleichberechtigter Staaten“, schwadronierte er munter weiter. Kein Wort zur Verurteilung, dass Jugoslawien, wo die Völker Jahrzehnte friedlich in einem Bundesstaat zusammenlebten, mit Bomben zerschlagen, der Nationalismus geschürt und diese Völker nach dem alten imperialistischen „Teile- und herrsche“- Grundsatz aufeinandergehetzt wurden.54

Auch ein halbes Jahr später – die Ereignisse von 1989 lagen zehn Jahre zurück – waren keine selbstkritischen Reflexionen zu erkennen. Im Gegenteil, er sah sich „nicht als gescheitert“. In seiner durch Vertreter des „Runden Tisches“ erweiterten „Regierung der Nationalen Verantwortung“ hätten sich alle Minister redlich darum bemüht, „die Demokratie von unten mit der Demokratie von oben zu verbinden“. 55 Er verstieg sich zu der Aussage „in der ganzen Geschichte der DDR hat es keine Phase gegeben, in der so viele demokratische Gesetze beschlossen wurden“. Da kann man nur den Kopf schütteln. Auch wenn Modrow mit der Frage, dass die Zeit vielleicht nicht genügend genutzt wurde, „um den Ungerechtigkeiten der staatlichen Vereinigung 56 vorzubeugen“, versuchte, das einzuschränken, blieb das eine an jeder Realität vorbeigehende Selbstüberschätzung. Dann machte er sich noch zum Fürsprecher der Osterweiterung der EU, bei der es „um den künftigen politischen Einfluss 57 in einem größer werdenden Europa“ gehe. Dass dieses Europa kommt war „für ihn ausgemacht“ und er nahm es ebenso an wie er 1990 die „deutsche Einheit“ hingenommen hatte. Er hatte folglich auch nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen. Es blieb bei seinem frommen Wunsch, zu helfen, dass diese Vereinigung in erster Linie im Interesse der Völker und nicht der Profite einer immer kleineren Zahl von nur auf „sharholder value“ fixierten „global players“ ist. 58 Es war das typische Lavieren eines Sozialdemokraten mit linkem Outfit, der auf diesen Positionen die Interessen des Kapitals vertritt, was Modrow sicher so nicht wollte, es aber so war.

Einsichten, Korrekturen, bei bleibenden Widersprüchen

30 Jahre nach dem Untergang der DDR, der unter seiner Regierung einsetzte, reflektierte Hans Modrow Fragen seiner Sicht auf die zurückliegende Entwicklung und korrigierte Aspekte seiner bisherigen Positionen. Interessant ist dass das mit Blick auf Kuba geschah. 59 Da widerspiegelte sich nun, dass er unter nicht wenigen Gesichtspunkten doch in der DDR verwurzelt blieb und davon manches hängen geblieben ist. Zu Kuba hatte er in DDR-Zeiten schon ein enges Verhältnis und bezog, davon ausgehend, auch nach 1989/90 immer antiimperialistische Positionen und bezeugte ihm Solidarität. 60 Zu den progressiven Positionen, die in der PDS bewahrt wurden, gehörte 1991 die Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Cuba Si“, die u. a. die Spendenkampagne „Milch für Kubas Kinder“ startete. „Manches von dem, was wir in der DDR – natürlich mit ganz anderen Möglichkeiten – an praktischer Solidarität mit den Menschen und dem revolutionären Prozess in Kuba begonnen haben, wird heute von engagierten Aktivisten (des Netzwerkes Kuba) weitergeführt“, hob Modrow hervor. Das persönliche Engagement Modrows in der Fortsetzung dieser Solidarität würdigte Kuba im Februar 2019 mit der Verleihung des „Orden der Solidarität der Republik Kuba“ an Modrow.

Herauszustellen ist, dass Modrow nun frühere Einschätzungen zu Gorbatschows Perestroika-Kurs und -Reformen korrigiert und erklärte: „Nach dem, was mir heute bekannt ist, bin ich mit nichts von dem einverstanden, was Gorbatschow in die Wege geleitet hat. denn alles war von Anfang an auf Täuschung angelegt. Er selbst hat Ende der

1990er Jahre erklärt, dass es immer sein Ziel gewesen sei, mit der Perestroika den Sozialismus zu vernichten. Dies zeigt die Absicht des Verrats und die Charakterlosigkeit Gorbatschows.“ Und er hält fest, dass Castro (im Gegensatz zur DDR und auch in seiner Regierung, was nicht erwähnt wird) diese Zielstellung Gorbatschows frühzeitig erkannte, und schon im Juli 1988 die Perestroika als „gefährlich“ und den „Prinzipien des Sozialismus entgegengesetzt“ einschätzte und seine „Analyse ihn und die kubanische Partei davor bewahrt haben, Schritte zu unternehmen, die für Kuba hätten gefährlich werden können“. 61

Modrow geht auf viele Faktoren ein, die Grundlage des Überlebens Kubas in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus nicht erst nach dem Untergang der UdSSR und des Ostblocks waren. Dabei klammert er in seinem Gespräch mit Hermsdorf zwei entscheidenden Fragen aus: Die Sicherung der führenden Rolle der kommunistischen Partei, und wie diese mit Castro beginnend, immer dem Volk die Wahrheit über alle Probleme, aufgezwungene soziale Härten und drohende Gefahren und wie man ihnen begegnen musste, sagte. Beide Fragen berühren, dass Modrow sich dann auch dazu äußern müsste, wie er dazu in der „Wende“-Zeit als Ehrenvorsitzender seiner Partei (der PDS) und Regierungschef handelte. Der DDR-Bevölkerung wurde in dieser Zeit eine „revolutionäre Umgestaltung“ vorgegaukelt, sie über die beim Anschluss an die BRD drohenden sozialen Auswirkungen im Unklaren gelassen, die Macht mit dem Oppositionsgremium des Runden Tisches geteilt, die SED in eine sozialdemokratisch orientierte – wie von Gregor Gysi offen erklärt – nichtkommunistische Linkspartei umgewandelt, jede Zusammenarbeit mit der DKP abgelehnt, das MfS den Medien „zum Fraß vorgeworfen, die bewaffneten Kräfte jeder Aktionsfähigkeit beraubt wurden.

Damit sollen die generell positiven Gesichtspunkte der Darlegungen Modrows nicht in den Hintergrund gestellt werden. Er greift die Einschätzung des westdeutschen Publizisten Paul Sethe von 1965 auf, dass Pressefreiheit in den kapitalistischen Ländern „die Freiheit von 200 reichen Leuten ist“, fügt hinzu, dass das heute „viel schlimmer“ ist und verweist auf die mediale Legitimierung der NATO-Kriege gegen Jugoslawien. Fühlt sich dabei aber wieder bemüßigt, einzublenden, dass es „Angepaßtheit und Uniformiertheit in der Berichterstattung“ auch in der DDR lange Zeit gab. Sicher, das ist richtig, aber da diente es nun nicht der „Vorbereitung und Rechtfertigung militärischer Einsätze und Kriege“

Er vermerkte kritisch, dass der Beitritt der DDR zur BRD auf der Grundlage des GG als eines „Provisoriums“, das keine Verfassung war, erfolgte, während in der DDR 1964 eine Verfassung, die vorher „in tausenden Versammlungen“ diskutiert wurde, angenommen wurde. E soll dahin gestellt bleiben, ob es illusorisch ist, anzunehmen, in der BRD könnte heute, wie Modrow andenkt, „eine Verfassungsdebatte“ angestoßen werden, und in einem solchen Prozess, sich zeigen würde „wie demokratisch diese Bundesrepublik wirklich ist“. Eine Seite später kommt er der Sache schon näher, wenn er festhält, dass, es in dieser Bundesrepublik „unvorstellbar“ (ist), dass „die Belegschaften der Betriebe sich an gesellschaftlichen Debatten beteiligen dürfen, obwohl sie davon betroffen sind“. Er vergisst, hinzufügen, dass das in den Volkseigenen Betrieben (VEB) der DDR gang und gebe war, enthüllt, dass es nach der „Wende´“ eine hemmungslose Zunahme sozialer Ausbeutung und Unterdrückung in Westdeutschland gab, es diese Erscheinungen, solange die DDR bestand, „nicht gab“, die Gewerkschaften im Westen in ihren Auseinandersetzungen mit den Unternehmern verdeckt oder offen auf soziale Standards in der DDR verweisen“ konnten, was „häufig nicht ohne Wirkung geblieben“ sei und die DDR mit ihren „sozialen Leistungen“ auch „in das Bundesgebiet“ wirkte. „Welche Urteile es auch immer über den realen Sozialismus gibt, er hat den brutalsten Formen kapitalistischer Ausbeutung grenzen gesetzt – und das gilt nicht nur für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten“, so Modrow weiter, der fortfährt: „Die schon von Marx gestellte Frage nach Platz und Rolle des Eigentums war und bleibt die Kernfrage gesellschaftlicher Entwicklung. Eine soziale und gerechte Gesellschaft braucht ein gesellschaftliches Eigentum, auf dessen Grundlage soziale Gerechtigkeit gestaltbar ist“. Und er kontert auch, „notwendig ist zunächst eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse und dann steht die Frage ihrer Kontrolle an“. Das ist schon eine grundsätzliche Abkehr von opportunistischen Positionen, wie sie Gysi und seine Anhänger weiter vertreten.

Modrow geht auf brennende Fragen der vom Imperialismus geschürten Kriegsgefahr ein. Er konstatiert, dass es „die zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion – zwischen NATO und Warschauer Vertrag – überschaubar geteilte Welt“ heute „so nicht mehr“ gibt. Dass die angefügte Wertung, dass die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder besonders an dem von den USA angezettelten Wettrüsten “wirtschaftlich zerbrochen sind“, von anderen Ursachen ablenkt, soll hier dahin gestellt bleiben. Er enthüllt das Weltherrschaftsstreben der USA und das der die EU dominierenden BRD, so am Beispiel der Haltung gegenüber Rußland und der Einflussnahme auf die Entwicklung in der Ukraine, wo „der Faschismus zum ersten Mal seit 1945 in Europa ganz offen wieder als Option in Erscheinung getreten“ ist und „das Rußlandfeindbild“ neue Impulse“ erhält. Er bejaht nicht nur die Gefahr der zunehmenden „Aggressivität des Imperialismus, über 100 Jahre nach Beginn des ersten und rund 75 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges„ sondern befürchtet „ihren Ausbruch“. Richtig vermerkt Modrow, dass bei der Hervorhebung der Rolle Russlands seit dem Amtsantritt Putins bei der Zurückdrängung des Einflusses der USA dessen Bestrebungen „nicht auf eine Stärkung der Linksentwicklung“ gerichtet sind.

Ausführlich befasst sich Modrow mit der Frage, wird Kuba sich mit den vielfältigen Maßnahmen bis zum klug und rechtzeitig eingeleiteten Generationswechsel in der Führung gegen den Aggressionskurs der USA behaupten. Dabei fällt, wie schon erwähnt, auf, dass er mit keinem Wort darauf eingeht, dass der entscheidende Faktor ist und bleibt, die führende Rolle der kommunistischen Partei in diesem Prozess zu sichern. Dasselbe auf China wie auch Vietnam zutrifft.

Summa summarum konnte man am Ende dieser Recherche nur begrüßen, dass Hans Modrow diesen Weg des Nachdenkens und Korrigierens eingeschlagen hatte, was man von Gysi und seinem Anhang nicht sagen kann und auch bei Sahra Wagenknecht fehlt.

Modrow verstarb am 10. Februar 2023 im Alter von 95 Jahren.

Anmerkungen:

Der Autor schrieb zum Thema „Die Stunde der Opportunisten. Gregor Gysi griff 1989 die Liquidierung der italienischen PCI als Modell für seine PDS auf“. 1. Auflage „Konsequent“, Schriftenreihe der DKP Berlin, Heft 1/2020. Neuauflage „Die Stunde der Opportunisten. Über die Umbrüche in der SED-PDS 1989/90“. Amazon 2023.

1 Reißig wurde später Mitglied des Willy-Brandt-Kreises der SPD.

2 Siehe „Umbruchsjahre in Italien. Als Auslandskorrespondent in Rom 1973 bis 1979“, PapyRossa, Köln 2019, S. 13 ff.

3 Letztere gehörte zu denen, die ihm Mandantenverrat vorwarfen und ihn als „Stasispitzel“ diffamierte. Gregor Gysi hat das immer bestritten und erklärt, er sei von Mitarbeitern des MfS, die als Vertreter von DDR-Institutionen getarnt, ihm gegenüber aufgetreten seien, abgeschöpft worden. Jedenfalls setzte er zahlreiche Unterlassungsbescheide durch, die verboten, ihn als „Stasispitzel“ zu bezeichnen. Ich komme darauf noch zurück.

4 Aus dem Namen Partito Democratico della Sinistra ergab sich auch noch die Namensgleichheit mit dem deutschen Parteikürzel PDS.

5 1992 begann die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen ihn, die 1994 zu einer lebenslangen Haftstrafe führten.

66 Die SED führte ab Dezember 1989 den Doppelnamen Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS). Ab 4. Februar 1990 nannte sie sich nur noch Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Am 16. Juni 2007 fusionierte sie mit der WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die ,Wahlalternative) zur Partei Die Linke.

7 Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass er auf sozialdemokratischen Positionen gelegentlich kritische Positionen bezieht.

8 Das Kabinett Schröder I vom Oktober 1999 bis Oktober 2002.

9 Der Autor war von 1983 bis 1987 Botschafter der DDR in Zaire, Burundi und Ruanda.

10 Nach zu lesen in dem Buch, „Ich wollte ein Neues Deutschland“ (Dietz Verlag Berlin 1998), das Modrow zusammen mit Hans-Dieter Schütt, dem früheren Chefredakteur der „jungen Welt“ und späteren langjährigem Ressortchef des „ND“ schrieb.

11 Siehe Eberhard Czichon/Heinz Marohn: „Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf“, PapyRossa, Köln 1999, S. 345.

12 Auch ihn kannte ich gut. Während meiner Zeit in Kinshasa war er als Stellvertretender Minister mein zuständiger Ressort-Chef und kannte meine Einschätzung zu Gorbatschow. In der „Wende“-Zeit hatte ich Gelegenheit mich mit ihm darüber und u. a. auch über Modrow auszutauschen.

13 Gerd König: „Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau. Fiasko eines Bruderbundes“. Berlin 2010, S. 394.

14 „Keine Zeit für Illusionen“. Karl-Heinz Arnold: Mit Hans Modrow erlebt: das vorletzte Kapitel der DDR-Geschichte. „Wochenpost“, Nr. 38/1990.

15 König, S. 393 ff.

16 Konkret-Verlag, Hamburg 1991.

17 „Hans Modrow über verpasste Chancen und das Ende der DDR“. „ND“ zur Modrow-Initiative „Deutschland einig Vaterland“, 1. Februar 2000.

18 Bericht der „Prawda Rossi“ vom 26. Juli 2000 über Gorbatschow vor einem Seminar an der US-amerikanischen Universität in Ankara im Herbst 1999. Wiedergegeben in der “UZ“ vom 8. September 2000, zitiert auch in: Justus von Denkmann: Wahrheiten über Gorbatschow, Spotless, Berlin 2005, S. 13.

19 Im Gespräch mit dem „Spiegel“, Nr. 29/1999.

20 Denkmann, S. 14 f.

21 Schon diese Frage hätte Gorbatschow erkennen lassen müssen, welches Schicksal Funktionäre der DDR auf allen Ebenen nach dem Anschluss an die BRD erwartete.

22 Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle. Bonn 2002. Zit. in Denkmann, S. 84 ff. Nachzulesen auch in Czichon/Marohn, S.396.

23 Denkmann, S. 86.

24 Czichon/Marohn, S. 396. Gorbatschow habe später in einem Schreiben an Kanzler Kohl verbal behauptet, „man sei sich einig gewesen, dass ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden müsse“. Hinweise dazu konnten jedoch „weder in den Bonner Protokollen noch in einer Gesprächszusammenfassung der sowjetischen Seite gefunden werden“ (Denkmann, S. 87).

25 Ellen Weber: „Lesenswert“, „UZ“, 8. Mai 1998.

26 Zit. in: Czichon/Marohn, S. 392.

27 Nach der Rückkehr aus Kinshasa hatte ich eine Dozentur am Institut für Internationale Beziehungen (IIB) in Potsdam-Babelsberg (das Diplomaten-Kolleg des MfAA der DDR) angenommen, war Stellvertreter des Lehrstuhlleiters für internationale Beziehungen und Leiter der Qualifizierungslehrgänge der höheren Diplomaten (Botschafter und Stellvertreter) geworden. Nach Versuchen der Einmischung in meine Lehrtätigkeit durch das MfAA legte ich diese Funktion 1980 nieder und wurde von der Dozentur suspendiert. Am IIB herrschte bereits eine recht kritische Atmosphäre, mein Schritt fand Verständnis (am Institut, nicht im MfAA, wo ich scharf kritisiert wurde) und man möglichst Aufsehen vermeiden wollte. So nahm ich den Vorschlag an, die Leitung der vom IIB herausgegebenen Zeitschrift für Asien-Afrika-Lateinamerika zu übernehmen, wurde damit Mitglied der Institutsleitung und kam als Chefredakteur der angesehenen Wissenschaftszeitschrift mit vielen Leuten in hochrangigen Funktionen in Kontakt und erhielt Kenntnis von manchem Insiderwissen, darunter auch aus der ADN-Leitung und über sie, Einiges von dem, was in der Regierung von Modrow vorging. Außerdem gehörte ich bis zu meinem Austritt aus der PDS 1991 der Basis-Organisation von Marzahn an, die direkte Verbindungen zur PDS-Leitung unterhielt.

28 Das Ganze setzte das frühere Zentralorgan der SED, das inzwischen zu dem der PDS mutiert war, unter die Überschrift „PDS steht in fundamentaler Kritik zum Kapitalismus“. Die Ausgabe erschien zwei Tage vor dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, am 28. Juni 1990.

29 Ich war im Februar 1990 an das IIB zurückgekehrt und wieder in die Dozentur eingesetzt worden. Als habilitierter Hochschullehrer wurde ich noch unter der Regierung von De Maizière bereits im Juni 1900 gekündigt. Die Miete unserer 90 m² 4-Zimmer-Neubauwohnung in Berlin-Marzahn stieg von 117 Mark (der DDR) auf 860 DM, an.

30 Heinz Engelhardt mit Peter Böhm: Der letzte Mann. Coundown fürs MfS. Edition Ost, Berlin 2019.

31 „Ein Jahr danach“. Hans Modrow, in „ND“, 17. November 1990.

32 Massenkommunikation und Jugend. Zur Theorie und Praxis der Massenkommunikation und ihren Einflüssen auf die sozialistische Persönlichkeitsbildung und Bewusstseinsentwicklung Jugendlicher. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1971

33 W. I. Lenin Was tun. Brennende Fragen unserer Bewegung, Werke, Bd. 5, Berlin/DDR 1958.

34 Von 1952-1986.

35 Ich habe das Buch in „Marxistische Blätter“, 2/1998 rezensiert: „Markus Wolfs Memoiren“.

36 Ich habe damals einige Verlage kontaktiert und erfahren, dass keine Angebote, Anfragen eingingen.

37 Zur Geschichte der DDR und Impressionen aus ihrer Korrespondentenzeit erschien 1992 bei Faber and Faber London ihr Buch „The Saddled Cow“.

38 „Besuch bei Markus Wolf“ und „Bis morgen, Karl (Marx)“, Ausgaben vom 26. November, 3. Dezember 2000.

39 Klaus Eichner: Agentin in der BND-Zentrale. Gabriele Gast im westdeutschen Spionagezentrum, Edition Ost, Berlin 2015.

40 „ND“, 3. Juli 1998.

41 Von ihm erschien u. a: Eurokommunismus. Herausforderung für Ost und West, München 1978.

42 Wie die Anbiederung an das der DDR von der BRD übergestülpte System von der Führung der PDS um Gysi gern genannt wurde.

43 Ich selbst bin während meiner journalistischen und später diplomatischen Arbeit auf Beispiele gestoßen, dass es unter Wolf in der Arbeit der HVA auch Fehleinschätzungen gab. Während einer Afrika- Tour für ADN 1971, u.a. nach Tschad und in die Zentralafrikanische Republik, erfuhr ich in Sudan, dass die DDR dort das linke Regime diplomatisch voreilig anerkannte, das im Sommer Numeiri gestürzt hatte, sich aber nur wenige Tage an der Macht halten konnte. Die Folgen für die DDR nach der Rückkehr Numeiris, zu dem vorher gute Beziehungen bestanden hatten, waren dementsprechend. Bevor ich nach Kinshasa ging wurde mir die dilettantische Arbeit des dortigen HVA-Residenten vor und während des Shaba-Aufstandes 1977 bekannt, der dem reaktionären Mobutu-Regime Vorschub beim Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur DDR leistete. Besagten Residenten hatte ich 1981/82 in Algier, wo ich Stellvertreter des Botschafters war, kennengelernt, wo er offen seinen „Sonderstatus“ herausstellte, den Missionschef unter Druck zu setzen versuchte und eine unrühmliche Rolle bei der Unterdrückung von Kritik spielte. Ausführlich siehe meine erwähnte Rezension des Buches Wolfs.

44 Kinkel am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag: „Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren (…), das unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war, wie das faschistische Deutschland“. In: „Deutsche Richterzeitung, Nr. 1/1992.

45 „Der Spiegel“, 10. Januar 2002.

46 2005 wurde Gysi wieder Mitglied des Bundestages. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion. Während des dritten Kabinetts Merkel  von Dezember 2013 bis Oktober 2015 zusätzlich Oppositionsführer in der 18. Legislaturperiode. Später war er von 2016 bis 2019 Präsident der Europäischen Linken. Von 2020 bis 2023 außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke im Bundestag.

47 Gregor Gysi: Ein Blick zurück, Ein Schritt nach vorn. Hamburg 2001.

48 Siehe unter „Die Toten der friedlichen Revolution“ wie diese Unterstellung – die sich als haltlos erwies – den früheren Richter in Walheimer Prozessen Otto Fuchs und seine von den Nazis verfolgte jüdische Frau in den Tod trieb.

49 „Junge Welt“, 30. Dezember 2015.

50 Klaus Gysi traf ich in Berlin noch mehrmals, das erste Mal am 2. Juni 1990 auf einem Empfang der italienischen Botschaft in Berlin zum Nationalfeiertag (Gründung der Republik). Später, das war 1992, spielte ich auf unsere Gespräche in Rom an. Er meinte, selbst das jetzige Ende der DDR, sei nie ganz auszuschließen gewesen. Er gehörte nicht zu denen, die ihre Haltung zur DDR relativierten oder gar widerriefen. Als ich ihn 1994 noch einmal traf, hatte ich den Eindruck, dass er auch über den Weg, den sein Sohn Gregor eingeschlagen hatte, nicht gerade glücklich war. Klaus Gysi verstarb am

51 Das betraf den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der den in der DDR stattfindenden Austausch von Agenten organisierte und Beauftragter für Verhandlungen mit der BRD über den sogenannten „Häftlingsfreikauf“ war.

52 Hans Modrow: Von Schwerin bis Strasbourg. Edition Ost, Berlin 2001.

53 “Verfolgung von Angehörigen der NVA beenden“, ND, 23. Juli 1997.

54 „Unsere Zeit“, Gespräch mit Hans Modrow, 28. Mai 1999.

55 Lassen wir dahin gestellt, was darunter zu verstehen sein sollte.

56 Selbst in diesem Satz wird schon wieder die Wahrheit verdreht, denn es war, selbst nach dem Grundgesetz, keine Vereinigung, sondern ein Anschluss (Beitritt).

57 Den Einfluss von wem, wäre zu fragen, und in wessen Interesse Modrow hier spricht. Siehe dazu die folgenden Aussagen Lenins zum Opportunismus

58 Hans Modrow: „Demokratie von unten und oben verbinden“, Neues Deutschland, 17. November 1999.

59 Nachzulesen in dem bereits angeführten Buch Volker Hermsdorfs.

60 Ich will hier nicht beckmessern, aber es ist schon so, dass Positionen der Solidarität mit dem Volk Kubas, das seine sozialistische Ordnung gegen die Angriffe der USA verteidigt, kein Internationalismus sind und er auch, wie ich das im Weiteren darlege, einem klaren Bekenntnis zur führenden Rolle der KP Kubas ausweicht. Das wird auch in der Führung Kubas, für die die Solidarität Modrows eine wertvolle Hilfe war und ist, so gesehen, wie mir der bereits erwähnte Heinz Hammer mehrfach sagte.

61 Eine solche Sicht hatte Modrow 1989/90 eben gefehlt, wurde ihm wohl mehr durch den Einfluss, den Gregor Gysi ausübte, verwehrt. Wie bereits angeführt (siehe Hans Modrows „Deutschland einig Vaterland“), hatte er Gorbatschow noch 1991 nicht durchschaut und das Verhältnis zu ihm als „ein herzliches persönliches“ bezeichnet, ein „ konstruktives Arbeitsklima“ gelobt und ihn als einen Menschen gesehen, der „in großen Maßstäben“ denkt, der ein „sehr komplexes Denken hat“.

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