Beim ’fernen Osten` haben wir erst einmal gestutzt, denn der Orient begann ja in Europa direkt vor der Haustür und die Kreuzzüge des Mittelalters fanden im Nahen Osten statt. Deshalb haben wir uns sofort den in der Ausstellung liegenden schönen Katalog geschnappt und nachgeschaut. Gleich auf den ersten Seiten des Katalogs zeigt die zweiseitige Landkarte, was wir unter ’Orient“ alles zu verstehen haben: ziemlich viel. Ziemlich viele Länder und damit ist der Begriff ’Orient` auch nicht mehr derart kulturell eindeutig besetzt, wie es für Europa um 1900 noch galt, wo ja die südöstliche Teile dieses Erdteils dem Osmanischen Reich angehörten, das selbstverständlich zum Orient gehörte.
Schon auf der nächsten Seite wird uns dies – und zum Glück in einer großen Tafel in der Ausstellung auch – mit den politischen System der einzelnen Länder angereichert. Das waren damals die Scherifen von Marokko, die Beys von Algier, in Ägypten die Khediven, nachdem es wie später Syrien aus dem Osmanischen Reich herausgefallen war. Mesopotamien, was heute die Republik Irak ist, war seit 1921 Haschemitisches Königreich und davor Teil des Safawidenreichs, das im Iran bis 1736 herrschte, weitergeführt von den Afschariden, den Qadjaren und Pahlawi, womit unsere persönliche Geschichtserfahrung mit dem Schah beginnt. Seit 1979 heißt Persien iranische Republik.
Westturkestan wird aufgeführt mit den Schaybaniden, den Khanen, den Dschaniden und der russischen Herrschaft sowie der UdSSR. Die persischen Safawiden herrschten auch in Afghanistan, dann aber der Mogul-Kaiser von Indien, später die Afghanen, ab 1825 das Königreich Afghanistan. Und heute, fragen wir uns? Indien wurde bis 1857 von den Moghul-Kaisern beherrscht, aber es gab bis 1803 auch Hindu-Staaten und dann britische Oberherrschaft verschiedener politischer Qualität. Seit 1947 existiert die Indische Union. Pakistan kommt nicht vor und für Kleinasien heißt es: 1300 – 1922 Osmanisches Reich, seit 1922 Türkische Republik.
Das ist eine Menge und uns doch nicht genug. Denn, so fragten wir uns, was ist mit „Arabien“, wo bleiben die sowohl westliche dominierten Länder wie Jordanien, wo aber die bis 1980 völlig abgeschlossenen, in sich ruhenden Länder wie der Yemen mit einer herrlichen kulturellen Tradition, die in wenigen Jahrzehnten über den Haufen geworfen wurde, seit der Yemen ’Toyotaland` wurde und in den Bäumen des Landes die unverottbaren Plastiktüten hängen. Wo ist Saudi-Arabien, das Arabien noch im Namen trät, wo die Ölscheichs der Moderne, die kleine Reiche mit viel Geld haben? Gut, dachten wir, auf die kann man verzichten, die kulturelle Tradition ist gering, aber auf die anderen Länder nicht. Das Wort Arabien, ein Stichwort für das 19. Jahrhundert und den Beginn des 20. Fällt überhaupt nicht.
Sind wir also mit zu großen und zu umfassenden Erwartungen in diese Ausstellung gegangen, die uns zeigen sollte, wie der Orient den Westen wahrnimmt. Eindeutig ja. Denn zwischen all diesen Ländern gibt es nicht nur keinen gemeinsamen Blick, sondern diesen müßte man historisch auch noch trennen, zwischen dem 19. Jahrhundert, wo Europa für den Orient interessant wurde – das erklärt die Ausstellung mit der westlichen Industrialisierung sehr gut! – und heute, wo überall auf der Welt, auch bei den tief verschleierten Damen des Islam, ’the american way of life` längst Einzug gehalten hat. Das, was heute vom ehemaligen Orient rezipiert wird, ist der westliche Kapitalismus mit seinen Bilderwelten, Verkaufsabsichten, Kitschprodukten und vor allem den Kinofilmen und den Fernsehfolgen: soap opera. Fortsetzung folgt.
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Ausstellung: bis 9. Januar 2011
Katalog: Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute, hrsg. von Schoole Mostafawy und Harald Siebenmorgen, Belser Verlag
Der Katalog ist eine getreue Nachbildung der Ausstellung, in dem die Objekte wunderbar fotografiert sind und wir wieder einmal denken, daß die stilisierte Kalligraphie auf Bechern, auf Glasschalen, in Büchern sich einfach besonders gut für Aufnahmen eignen, wenn der Druck so glänzend, so gülden, so liebevoll mit ihnen umgeht wie hier. Die Objekte führen neben Namen und Herkunft sowie Besitzer auch noch deren Funktion auf, wofür dieser Gegenstand gedacht war, wer ihn benutzte und aus welchen Einflüssen sich seine ästhetische Dimension speist. In verschiedenen Essays fundieren die Herausgeber, die auch die Kuratoren dieser Ausstellung sind, Thesen der Ausstellung. Insgesamt ist dies ein Katalog, der auch denen, die bis zum 9. Januar nicht nach Karlsruhe gelangen, interessantes und schönes Bildmaterial mitsamt Erklärungen bietet.
Homepage: www.landesmuseum.de