68. Berlinale mit 72 Minuten Horror – Zum Wettbewerbsfilm „Utøya 22. Juli“ von Erik Poppe

Andrea Berntzen in einer Szene des Films "Utøya 22. juli | U – July 22" von Regisseur Erik Poppe.
Darstellerin Andrea Berntzen in dem Film "Utøya 22. juli | U – July 22" von Regisseur Erik Poppe. © Agnete Brun

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Der norwegische Wettbewerbsfilm der 68. Berlinale trägt den Titel „Utøya 22 Juli“. Bereits auf diese Weise, also mit Ort und Datum, erinnert Regisseur Erik Poppe an das, was am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya geschah. Im Kinofilm lässt er Grauen des Attentats auf Utøya vom 22. Juli 2011 spürbar werden.

Der 90-minutige Kinofilm „Utøya 22 Juli“ nimmt sich den Terroranschlag auf der norwegischen Insel Utøya bei Oslo zum Thema. An diesem Tag überfiel der Rechtsextreme Anders Behring Breivik ein von 560 Jugendlichen besuchtes Ferienlager der sozialdemokratischen Arbeiderpartei Norwegen auf der Insel Utøya und tötet 69 von ihnen. Der Attentäter und das Trauma beschäftigen Norweger bis heute. Und so war es dann auch nur eine Frage der Zeit, das man sich dieses traurigen Themas, dieses Traumas der jungen norwegischen Geschichte auch in filmischer Hinsicht nährte.

Der norwegische Regisseurs Erik Poppe hat dies nun getan. Seine filmische Verarbeitung dieses Anschlags kann als eindringliche filmische Erfahrung überzeugen. Dieser Beitrag der 68. Berlinale wird die wenigsten Besucher kalt lassen. Im Gegenteil: Der Beitrag wird für Diskussionen sorgen.

Es gibt viel Möglichkeiten sich dieser Thematik zu nähren, beispielsweise auf dokumentarische Art oder klassisch als konventioneller Spielfilm. Regisseur Erik Poppe, der sich mit Filmen wie „Schpaa“, „Hawaii“, „Oslo“, „DeUsynlige“ („Troubled Water“), „Tusen ganger god natt“ („A Thousand Times Good Night“) und „Kongens nei“ (T“he King’s Choice“) einen Namen machte, hat sich hier klar für eine subjektive Sicht der Ereignisse entschieden, bis auf den Beginn des Films. Als Einstieg werden Dokumentarfilmaufnahmen des zuvor stattgefundenen Bombenanschlages im Regierungsviertel von Oslo zeigt. Dort tötete Breivik die ersten acht von insgesamt 77 Menschen. Der Film wurde in Gänze in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht.

Die filmische Herangehensweise ist nicht neu. Bereits der Berlinale-Beitrag „Victoria“ von Sebastian Schipper zeigte dies Art der Herangehensweise vor drei Jahren. Die dafür Verantwortlichen konnte Zuschauer und Kritiker überzeugen. Doch während „Victoria“ in seine zweieinhalb Stunden dann doch einer Dramaturgie folgt und zum Genrefilm avanciert ist, scheint Poppe mit „Utøya 22. Juli“ bestrebt, eine hautnahe Erfahrung in Echtzeit nahebringen zu wollen ohne versucht zu sein, auf die Trickkiste der Dramaturgie zurückzugreifen. Die Zuschauer folgen der Hauptfigur Kaja (Andrea Berntzen) auf ihrer 72 Minuten langen Höllentour. Und weil der Kameramann mitläuft wird der Zuschauer zum Mitläufer. Das ist wahrlich sowohl eine radikaler Weise der Erzählung als auch für viel Zuschauer schwer erträglich.

Zu Anfang sehen wir Kaja und andere Jugendlichen herumflachsen, Waffeln essen und reden. Dann hören wir, wie die ersten Schüsse in der Ferne fallen. Es herrscht zuerst Ratlosigkeit und Verwirrung. Ein Herumrätseln beginnt, ob es sich möglicherweise um eine Übung handeln könnte. Schließlich wird allen der Ernst der Situation klar.

In den ersten Momenten noch Ruhe und Geborgenheit, Ausgelassensein und Sicherheit, dann der Umschwung hin zu Ungewissheit, das Aufkommen von Angst, die Entwicklung hin zu Chaos und Panik.

72 Minuten folgt die Kamera Kaja bei ihrer ständigen Zielloigkeit, beim Herumirren, bei ihrer Flucht. Schüsse fallen, Schreie voller Schmerz zerreisen die zur tödlichen Falle gewordene Ferieninsel. 72 Minuten wird es dauern, bis eine Spezialeinheit der Polizei Breivik, der im Film nur einmal schemenhaft zu sehen ist, stellen kann. Der Attentäter ließ sich widerstandslos festnehmen. 72 lange Minuten. 33 Personen auf Utøya wurden durch Schüsse verletzt, aber sie überlebten.

„Utøya 22 Juli“ kann durchaus als Horrorfilm bezeichnet werden, nicht im eigentlichen, üblichen Verständnis des Genres. Bei Poppes wirkt vor allem psychologischer Horror und das filmisch hautnahe Mitlaufen und also quasi eigene Erfahrung. Der Zuschauer wird zum teilnehmenden Beobachter, der nichts tun kann außer den Nervenkitzel aushalten oder den Kinosaal verlassen.

In dem Thriller voller Horror nimmt Poppe klar Position ein und bekundet Sympathie für die Opfer dieses Attentats. Keine Frage, Erik Poppe ist ein mutiger und kompromissloser Kinofilm, der das Trauma auf seine Weise und vor allem die Geschichte, die nicht vergessen werden wird, auf seine fast unerträglich Art verarbeitet, gelungen.

Filmografische Angaben

Originaltitel: Utøya 22. Juli
Englischer Titel: U – July 22
Land: Norwegen
Jahr: 2018
Regie: Erik Poppe
Buch: Siv Rajendram Eliassen, Anna Bache-Wiig
Kamera: Martin Otterbeck
Montage: Einar Egeland
Musik: Wolfgang Plagge
Kostüme: Rikke Simonsen
Maske: Elizabeth Bukkehave
Darsteller: Andrea Berntzen, Aleksander Holmen, Brede Fristad, Elli Rhiannon Müller Osbourne, Solveig Koløen Brikeland. Sorosh Sadat, Ade Eide
Produzenten: Finn Gjerdrum, Stein B. Kvae
Ausführende Produzenten: Erik Poppe, Jan Petter Dickman
Dauer: 90 Minuten, Farbe

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