Das kommerzielle Fernsehen existiert natürlich, um für die Magnaten Geld zu machen, indem es die niedrigsten Instinkte und Geschmäcker der Massen anspricht. Dort scheint es einen unersättlichen Appetit auf grausame Bilder zu geben.
Aber in Israel gab es noch ein anderes Motiv, um diese Lynchszenen wiederholt zu zeigen, wie die Kommentatoren mehr als deutlich zu verstehen geben. Diese Szenen beweisen – ihrer Meinung nach – die primitive, barbarische, mörderische Natur der arabischen Völker und auch des Islam als solchen.
Ehud Barak beschreibt gerne, Israel liege wie eine „Villa mitten im Dschungel“. Jetzt wird dies von der großen Mehrheit unserer Medienleute akzeptiert. Sie lassen keine Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass wir in einer „gefährlichen Nachbarschaft“ leben – indem sie klar machen, dass Israel eigentlich nicht in diese Nachbarschaft gehört. Wir sind ein zivilisiertes, westliches Volk, leider von diesen primitiven Wilden umgeben.
(Wie ich viele Male erwähnte, geht dies zurück auf den Gründer des Zionismus Theodor Herzl, der schrieb, dass der zukünftige zionistische Staat „ein Stück des Walles der Zivilisation gegen Asien bildet“ und „ den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen würde)
Da diese Haltung weitreichende geistige und politische Auswirkungen hat, wollen wir einen näheren Blick darauf werfen.
Ich bin gegen die Todesstrafe in jeder Form. Exekutionen, ob in Texas oder China, verabscheue ich. Ich hätte bei weitem vorgezogen, dass Gaddafi von einem richtigen Gericht verurteilt worden wäre.
Aber meine erste Reaktion auf den Anblick war: Mein Gott, wie sehr muss ein Volk seinen Herrscher gehasst haben, wenn es ihn so behandelt! Offensichtlich haben die Jahrzehnte abscheulichen Terrors, die dem libyschen Volk von diesem halb verrückten Despoten auferlegt waren, jeden Rest von Barmherzigkeit zerstört. (Seine bis zuletzt fanatischen Verteidiger, Mitglieder seines Stammes, scheinen eine winzige Minderheit zu sein.)
Seine clownhafte Erscheinung und seltsamen Abenteuer lenkten die Aufmerksamkeit der Weltmeinung von dem mörderischen Aspekt seiner Herrschaft ab. Von Zeit zu Zeit ließ er eine Schreckenswelle los, folterte und tötete irgendjemand, der nur eine Andeutung von Kritik von sich gab, verurteilte sie in Fußballstadien, wo das Gebrüll der verrückt gemachten Menge das Um-Gnade-bitten des Verurteilten übertönte. Bei einer Gelegenheit erschossen seine Leute alle 1200 Insassen des Abu Salim-Gefängnisses in Tripoli.
Es stimmt, dass er einige Staatseinkünfte in den Bau von Schulen und Krankenhäusern steckte, aber das war nur ein winziger Teil des riesigen Betrages vom Ölgeld, das er bei seinen bizarren Abenteuern verschwendet hat oder das von seiner Familie gestohlen wurde. Sein ungeheuer reiches Land hat eine arme Bevölkerung, eine einzige schmale Straße von Ägypten nach Tunis und einen Lebensstandard, der ein Drittel des unsrigen ist.
Man muss kein arabischer Barbar oder muslimischer Erzterrorist sein, um ihm das anzutun, was man ihm antat. Tatsächlich taten die hochzivilisierten Italiener (Libyens frühere Kolonialherren) 1945 genau dasselbe. Als die Partisanen den fliehenden Benito Mussolini fingen, bat er mitleiderregend um sein Leben, aber sie töteten ihn zusammen mit seiner Geliebten an Ort und Stelle. Ihre Leichen wurden auf die Straße geworfen, von der Menge getreten und bespuckt und dann an ihren Füßen am Fleischerhaken am Dach einer Tankstelle aufgehängt, wo sie noch tagelang mit Steinen beworfen wurden. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand im zivilisierten Europa protestiert hat.
Im Gegensatz zu Mussolini und Gaddafi hat Hitler nicht schmachvoll zu fliehen versucht. Er wählte ein würdigeres Ende. Aber während seiner letzten Wochen ähnelte Gaddafi Hitler, der am Ende in einer Welt voller Wahnvorstellungen lebte und nicht existierende Divisionen auf der Karte hin und herschob, sicher, dass sein Volk ihn grenzenlos liebte.
Nicolae Ceausescu, ein anderer blutiger Tyrann, hatte seinen Tag – oder Stunde – vor Gericht. Es war eine Affentheater – wie solch eine Gerichtsverhandlung eben immer ist. Das Femegericht verurteilte ihn zum Tode, und er wurde umgehend – zusammen mit seiner Frau – erschossen.
Gaddafis Ende machte auch der Debatte ein Ende, die vor Monaten begann.
Es kann keinen Zweifel mehr darüber geben, dass die große Mehrheit des libyschen Volkes Gaddafi verachtete und die NATO-Kampagne willkommen hieß, die mithalf, ihn zu beseitigen. Es war ein bedeutender Beitrag; aber der aktuelle schwere Kampf wurde von der zerlumpten Armee des Volkes ausgeführt. Libyen befreite sich selbst. Selbst in Tripoli war es das Volk, das dem Tyrannen ein Ende setzte.
Ich wurde scharf von einigen wohlmeinenden europäischen Linken angegriffen, weil ich über das schreckliche Monster mit Namen NATO Gutes sagte. Jetzt im Rückblick ist es offensichtlich, dass die überwältigende – wenn nicht einmütige – Meinung der Libyer selbst die Intervention willkommen hieß.
Wo unterscheide ich mich von diesen Linken? Ich denke, dass sie für sich selbst eine Art ideologische Zwangsjacke geschaffen hatten. Während des Vietnamkrieges kamen sie mit einem Weltbild, das für genau diese besondere Situation passte: da gab es gute Kerle und schlechte Kerle. Die Guten waren die vietnamesischen Kommunisten und ihre Verbündeten. Die Bösen waren die USA und ihre Marionetten. Seitdem wenden sie dieses Schema bei jeder Situation rund um die Welt an: Südafrika, Jugoslawien, Palästina.
Aber jede Situation ist anders. Vietnam ist nicht Libyen, das südafrikanische Problem war viel einfacher als das unsrige. Großmachtpolitik mag konstant bleiben und sehr unschön. Aber da gibt es riesige Unterschiede zwischen den verschiedenen Situationen. Ich war sehr gegen die US-Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak und für die Nato-Kampagnen in Kosovo und Libyen.
Für mich ist der Ausgangspunkt jeder Analyse, was das betreffende Volk wünscht und benötigt, und erst danach frage ich mich, wie das internationale Schema auf sie anzuwenden ist. Ich arbeite von innen nach außen und nicht von außen nach innen.
Ich habe auch nie ganz das Dogma verstanden, das alle Fragen beantwortet: „es geht vor allem um das Öl“. Gaddafi verkaufte sein Öl auf dem Weltmarkt, und so werden es auch seine Nachfolger tun – zu den selben Bedingungen. Die internationalen Öl-Gesellschaften sind für mich alle dieselben. Gibt es einen großen Unterschied zwischen dem russischen Gasprom und dem amerikanischen Esso?
Einige frühere Kommunisten scheinen eine Art Zuneigung zu Russland zu haben und unterstützen fast automatisch seine internationalen Positionen: von Afghanistan bis Serbien und Syrien. Warum? Welche Ähnlichkeit gibt es zwischen Vladimir Putin und den Sowjets? Putin heißt nicht die Diktatur des Proletariats gut, er ist mit einer Diktatur von sich selbst ganz zufrieden.
Wenn Gaddafis grausames Ende alle islamophoben Obsessionen im Westen bestätigt haben, so haben die Wahlen in Tunis alles noch schlimmer gemacht.
Hilfe!! Die Islamisten haben die Wahlen gewonnen! Die Muslimbruderschaft wird die Wahlen in Ägypten gewinnen. Der arabische Frühling wird die ganze Region in eine weite Brutstätte für den Jihad verwandeln. Israel und der Westen sind in tödlicher Gefahr!
Dies ist alles Unsinn. Und zwar gefährlicher Unsinn, weil er jede sensible amerikanische und europäische Politik gegenüber der arabischen Welt scheitern lässt.
Gewiss, der Islam ist im Begriff aufzusteigen. Islamische Parteien haben den arabischen Diktaturen widerstanden, wurden von ihnen verfolgt und sind darum im Nachhinein ihres Sturzes populär – so wie europäische Kommunisten in Frankreich und Italien nach der Niederlage der Faschisten sehr populär wurden. Von da an wurde die Unterstützung für die Parteien weniger.
Der Islam ist ein bedeutender Teil der arabischen Zivilisation. Viele Araber sind ernste Gläubige. Ihre islamischen Parteien werden sicher eine bedeutende Rolle in jeder demokratisch arabischen Ordnung spielen, so wie jüdisch religiöse Parteien – leider – eine bedeutende Rolle in der israelischen Politik spielen. Die meisten dieser arabischen Parteien sind moderat, wie die regierende islamische Partei in der Türkei.
Es ist sicher wünschenswert, dass diese Parteien ein Teil der demokratischen Ordnung werden statt zu ihrem Feind. Sie müssen innerhalb des Zeltes sein, sonst stürzt das Zelt ein. Ich bin davon überzeugt, dass dies auch im besten Interesse Israels ist. Deshalb sind meine Freunde und ich für eine Fatah-Hamas-Versöhnung und befürworte direkte Verhandlungen zwischen Israel und Hamas – und nicht nur beim Gefangenenaustausch.
Unsere Medien sind empört: der einstweilige Ministerpräsident von Libyen hat angekündigt, dass das islamische Recht – die Scharia – die Einführung neuer Gesetze in seinem Land bestimmen wird. Es scheint, unsere Journalisten wissen nichts von der Existenz eines israelischen Gesetzes, das besagt, wenn es rechtliche Fragen gibt, für die es keine fertigen Antworten gibt, dann wird das jüdische Gesetz – die Halacha – diese Lücke ausfüllen. Außerdem gibt es in der Knesset einen neuen Gesetzentwurf, der feststellt, dass die Halacha bei rechtlichen Disputen entscheiden wird.
Das Ergebnis der tunesischen Wahlen war meiner Meinung nach sehr positiv. Wie erwartet, gewann die moderate islamische Partei viele Stimmen, aber nicht die absolute Mehrheit. Sie muss eine Koalition mit säkularen Parteien eingehen und ist bereit, dies zu tun. Diese total neuen und praktisch unbekannten Parteien benötigen Zeit, um ihre Identität und Strukturen aufzubauen.
Hier möchte ich eine persönliche Bemerkung hinzufügen: Rachel und ich sind mehrmals in Tunis gewesen, um Yassir Arafat zu treffen, und mochten die Leute. Besonders waren wir von vielen Männern beeindruckt, die wir in den Straßen sahen, die eine Jasminblüte hinter dem Ohr trugen. Kein Wunder, dass solche Leute fast eine unblutige „Jasmin-Revolution“ ausführen konnten.
Wenn die Wahlen in andern arabischen Ländern diesem Muster folgen, wie es möglich erscheint, wird es für alle das Beste sein.
Die Obama-Regierung war klug genug, auf den Wagen der arabischen Revolution zu springen, wenn auch im allerletzten Augenblick. Wir Israelis hatten nicht dieses Verständnis. Unsere Islamophobie ließ uns eine goldene Gelegenheit verpassen, unser Image unter jungen arabischen Revolutionären zu verändern.
Stattdessen vergleichen wir unsere Tugend mit der Barbarei der Libyer, die uns noch einmal die wahre Natur des Dschungels gezeigt haben, der unsere Villa umgibt.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 29.10.2011 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.