»Erschütternd nobel» – »Violinen der Hoffnung» – Geigen jüdischer Musiker im Kulturpalast Dresden

Kulturpalast Dresden, 1988.
Kulturpalast Dresden, 1988. © Bildstelle Stadtplanungsamt Dresden

Dresden, Deutschland (Weltexpress). Im Grunde ist jedes Sinfonie- oder Kammerkonzert etwas Einmaliges, einerseits, weil es normalerweise nur einmal gespielt wird, andererseits, weil auch jede Wiederholung ihre Besonderheiten im Klang, in den Tempi und in der Intensität hat. Doch etwas Einmaliges, Unwiederholbares, Historisches erlebten die Dresdner am 8. November im neuen Konzertsaal des Kulturpalasts. Im Gedenken an die Pogromnacht des 9. November vor 80 Jahren wurden die »Violinen der Hoffnung» gespielt. Der Geigenbauer Amnon Weinstein aus Tel Aviv vertraute Dresdner Musikern seine Geigen für ein Konzert an, das sich nicht wiederholen wird, und das sich ins Gedächtnis der Kunststadt einprägen wird.

In Dresden lebten 1933 4675 Juden. 1945 waren es noch 70. Der Antisemitismus nimmt in Deutschland zu. Ist die Judenverfolgung vergessen? Die Jüdische Gemeinde Dresden, die Katholische Akademie Dresden-Meißen und die Dresdner Philharmonie beschlossen, des Pogroms mit einer Themenwoche zu gedenken.

Eine private Initiative

Seinen Ursprung hatte der Plan in einer privaten Initiative. 1992 ging der Dresdner Bogenmacher Daniel Schmidt (»auf Wanderschaft») nach Tel Aviv, um beim Geigenbauer Amnon Weinstein seine handwerklichen Fähigkeiten zu vervollkommnen. Seine Neugier führte zu einer Entdeckung. In einem Schrank fanden sie eine Ansammlung von hervorragenden deutschen Geigen, die einst Mitgliedern des Palestine Symphonic Orchestra gehört hatten. Als sie von der Judenvernichtung erfuhren, weigerten sie sich, deutsche Geigen noch anzurühren, und sie wollten sie kaputtschlagen, wenn Weinstein sie nicht annahm. Weinstein wusste, dass er sie nicht würde verkaufen können. Sie gerieten in Vergessenheit. Hinzu kamen nach der Befreiung vom Faschismus Geigen, die Juden im KZ spielen mussten oder die sie irgendwie über die Nazizeit hatten retten können. Schmidt erinnert sich, dass in Weinsteins Werkstatt überall Geigen lagen, die er angenommen hatte und die niemand spielte.

Perfide Idee der Nazis

Die Nazis wollten die Juden ausrotten, sagt Amnon Weinstein, aber sie hatten die perfide Idee, die Liebe der Juden zur Musik und zu den Geigen für ihre Vernichtungspläne auszunutzen. Wenn in Auschwitz Judentransporte ankamen, spielte eine Kapelle zu ihrer Begrüßung. »Violinen begleiteten die Juden zu den Gaskammern, sie ließen die gedemütigten und abgezehrten Menschen glauben, sie seien an einem menschlichen Ort angekommen». Man bedenke, in Auschwitz gab es acht Lagerkapellen, darunter eine »Mädchenkapelle». Die Orchester hatten zu spielen, auch wenn die Toten gebracht wurden. Akribisch erforschte Weinstein die Geschichte jeder Geige, wobei grauenvolle Tatsachen ans Licht kamen. Als er eine Auschwitzgeige öffnete, um sie zu reparieren, fand er darin Asche. Die Geigen sind stumme Zeugen der Naziverbrechen, sagt Weinstein.

Nachdem Daniel Schmidt nach Deutschland zurückgekehrt war, verfolgte er über viele Jahre seinen Plan, die »Violinen der Hoffnung» in Dresden erklingen zu lassen. Gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde, der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, mit der Dresdner Philharmonie und ihrem Konzertmeister Wolfgang Hentrich initiierte er ein Konzert zum Gedenken an die Novemberpogrome. Amnon Weinstein und sein Sohn Avshalom brachten aus ihrer Sammlung 16 Geigen mit, die sämtlich am 8. November im Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden gespielt wurden. Der Meister erzählte die Geschichte seiner Sammlung. Nur drei Violinen seien genannt. Eine Klezmer-Violine, erstklassig, 120 Jahre alt, zeigt auf dem Geigenboden einen Davidstern aus Perlmutt. Die »Bielski-Violine» ist die Geige eines Klezmers. Sie erinnert an die Bielski-Partisanen, in deren Reihen in Bjelarus 1250 Juden gegen die Nazis kämpften. Die Auschwitz-Violine spielte ein unbekannter Musiker in Auschwitz. Nach der Befreiung verkaufte sie der Mittellose für 50 Dollar. Der Sohn des Käufers schenkte sie Weinstein, der sie restaurierte und bedeutenden Geigern für Konzerte in aller Welt leiht. In Dresden ließ Weinstein die Geigen spielen, »um den verlorenen Leben eine Bedeutung und eine Hoffnung zu geben.» Die Dresdner würdigten den Meister mit stehendem Applaus.

Nicht alle Geigen sind erstklassig, aber sie wurden von den Dresdner Musikern als Kostbarkeiten behandelt. Es spielten Mitglieder der Dresdner Philharmonie, Studenten der Musikhochschule »Carl Maria von Weber» und Schüler des Sächsischen Landesgymnasiums für Musik und des Heinrich-Schütz-Konservatoriums, in einem von Wolfgang Hentrich perfekt arrangierten Programm. Die Musiker traten hinter die Ausstrahlung der Instrumente völlig zurück. Sie spielten die Geigen, verbeugten sich, legten die Geigen zurück auf die Tische und gingen ab, »erschütternd nobel», meinten Dresdner Musiker. Schließlich erklangen alle 16 Violinen im Konzert der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Michael Sanderling. An diesem Abend erlebten der Konzertsaal und seine Hörer »Intimität und Würde», wie Michael Sanderling es einmal genannt hatte. Das Programmheft des Konzerts ist inzwischen eine Rarität geworden.

Amnon Weinsteins Universitäten

In jenen Tagen in Dresden leisteten Amnon und Avshalom Weinstein viel Kleinarbeit. Sie gingen in vier Gymnasien, um die Geschichte der Geigen zu erzählen, und sie präsentierten ihre Sammlung ausführlich im Jüdischen Gemeindezentrum. Nicht verschwiegen sei jedoch, dass die Dresdner Mittelschulen auf das Angebot nicht reagierten. Das Milieu der AfD-Wähler verschloss sich der historischen Wahrheit. Unterdessen reisten die Weinsteins weiter nach Dortmund, um auch dort im neuen Konzertsaal die Violinen der Hoffnung spielen zu lassen. Über die Geschichte seiner Geigen hält Weinstein Vorträge in aller Welt, manchmal verbunden mit einer Ausstellung. Im Januar 2015 waren die Violinen auch in der Berliner Philharmonie ausgestellt worden, verbunden mit einem Konzert, in dem Berliner Philharmoniker Instrumente aus Weinsteins Sammlung spielten. Inzwischen sammelt Amnon Weinstein auch die Geschichten von Geigen in privatem Besitz, die Geigen verstorbener Angehöriger aufbewahren. Er erhält hunderte Briefe. Oft ist es schwer, die Geschichte von Geigen aufzuklären, die die Nazis den Juden geraubt oder abgepresst hatten. Das waren tausende Instrumente, und nicht selten werden sie mit falscher Legende angeboten. Gemäß der Washingtoner Erklärung von 1998 müssen sie ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden. Von einem Wiener Geigenbauer erhielt Weinstein ein Beispiel böswilliger Manipulation, damit er es an die Öffentlichkeit bringe. Jener hatte in einer Geige ein Hakenkreuz und die Inschrjft »Heil Hitler“ entdeckt. Damit konnte ein Jude, der sie spielte, bloßgestellt und verhöhnt werden. Diese Geige wird nie wieder gespielt werden.

Weit gespannter Bogen

Zum Rahmenprogramm der Gedenkwoche gehörte ein Abend mit dem Titel »Zwischen Krieg und Frieden. 1618 – 1918 – 2018». Laut Programmheft sollte es »die wiederkehrenden Schrecken des Krieges, aber auch die Vision einer anderen Welt» beschwören – vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges über das Ende des Ersten Weltkrieges bis heute.

Das Ensemble Amarcord plus, der Philharmonische Chor Dresden und die Cappelle Sagittariana gaben unter der Leitung von Norbert Schuster ein subtiles Konzert mit Werken von Michael Praetorius, Heinrich Schütz, Leos Janacek, Edvard Elgar, Maurice Ravenel und Arvo Pärt. Martina Gedeck las Texte von Andreas Gryphius, Ricarda Huch, Erich Kästner, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky und Paul Celan. Der literarische Bogen geriet jedoch ziemlich kurz, denn er brach mit der Todesfuge von Paul Celan (1945) ab. Sofern Schuster die Epoche bis 2018 als jene zwischen Krieg und Frieden charakterisiert wissen wollte, so ist wahr, dass die Fortsetzung des Kalten Krieges und die Manöver der Nato brandgefährlich sind, aber dann kann man den Atomtod und das Wettrüsten nicht ausblenden. Auch steht das Jahr 1918 nicht nur für den Krieg und das Ende des Krieges, sondern auch für die Revolution und die Kämpfe der Arbeiterklasse.

Stoff ist in der deutschen Literatur genügend da: zum Beispiel das Manifest der 18 Göttinger Atomforscher von 1957, der Monolog des Galileo Galilei zur Verantwortung der Wissenschaftler, das Friedenslied oder die Ballade vom Weib und dem Soldaten von Brecht, »Winterschlacht» von Johannes R. Becher (Musik von Hanns Eisler) oder die Komödie »Der Frieden» von Peter Hacks mit der bezaubernden Musik von André Asriel. Schusters Anspruch, den »Circulus Vitiosus» zu durchbrechen, blieb unerfüllt.

Kunst vom Feinsten

Kunst vom Feinsten bot »Musik und Literatur aus Israel». Eingebettet in das Violinkonzert d-Moll von Felix Mendelssohn-Bartholdy und das Konzert für zwei Violinen d-Moll von Johann Sebastian Bach, genügten zwei Künstler aus Israel, um die Kultur ihres Landes zu repräsentieren.

Der Dichter Elazar Benyoetz, 1937 in Saarbrücken geboren und nach Palästina geflohen, ging einen Weg vom Deutschen ins Hebräische und, als israelischer Dichter, wieder ins Deutsche wie niemand außer ihm. Er brauchte nur wenige Minuten, um mit seinen Aphorismen Spannung zu erzeugen. Die Zuhörer hielten den Atem an, staunten, lachten, nickten.

Einige Sätze handelten vom gebrochenen Verhältnis der Juden zu Deutschland oder zu den Deutschen: »Die Juden sprachen vom deutschen Geist,/ die Deutschen vom jüdischen./ So haben sie einander tödlich umworben/ und zu Tode befruchtet»// oder: »Der jüdische, im Deutschen angeschlagene Ton/ behält im Deutschen seine nachhallende Tonart,/ die sich auf keine andere Sprache übertragen lässt/ Den Untergang des deutschen Judentums/ kann ich nicht widerrufen,/ aber mich seiner erbarmen./ Ich nehme das Untergegangene in mein Wort auf/ und teile die Zukunft meiner Sprache mit ihm.»// und: »Die deutsche Sprache war der Juden Loreley.» Man kann und darf dem Sinn lange nachspüren, aber die Worte treffen den Nerv der humanistisch Denkenden. Die Verse Benyoetz´ lehren Dialektik.

Vom Komponisten Tzvi Avni erklangen das »Pas de deux» für Violine und Streicher sowie »Summer Strings», Streichquartett Nr. 1 in der Fassung für Streichorchester, deutsche Ur- oder Erstaufführungen, noch in den Proben gemeinsam bearbeitet. Als Solisten brilliierten Kolja Lessing und Wolfgang Hentrich, glänzend eingebettet in das Spiel des Philharmonischen Kammerorchesters Dresden. Das Programm wurde ausgewählt und geleitet von Wolfgang Hentrich, so vorzüglich, dass kein Wunsch offen blieb.

Eine exzellente Akustik des Konzertsaals war das Ziel des Umbaus des Kulturpalastes. In beiden Konzerten fragte man nicht, wie die Akustik sei. Sie war da, klar, transparent, warm. Der Klang kam so an, wie die Musiker und Sänger ihn erzeugt hatten. Die Arbeit der Baumeister, Akustiker und Musiker: gelungen.

Nazis oder »Nationalsozialisten»

Am Rande des Gedenkens an die Novemberpogrome fällt eine Kleinigkeit auf. Amnon Weinstein und Daniel Schmidt nennen die Nazis Nazis, wie die Verbrecher in aller Welt genannt werden. Von deutschen Politikern, Historikern und Medien einschließlich der sozialistische Zeitung »Neues Deutschland» werden sie vornehm zu »Nationalsozialisten» stilisiert. Das ist die Folge der Verharmlosung der Nazibarbarei in der bundesdeutschen Propaganda. Nicht zufällig war an westdeutschen Universitäten der Begriff Faschismus verpönt. Die Opfer des Faschismus redeten von Anfang an eine klare Sprache. Ihre Organisation nannten sie »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes». Sprache verrät vieles, sie muss gepflegt werden.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Dr. Sigurd Schulze wurde im KULTUREXPRESSO am 24.11.2018 erstveröffentlicht und am 26.11.2018 aktualisiert.

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