Zürich im November-Blues – Notizen rund um den Züricher See

Galt die größte Stadt der Schweiz mit 385.000 Einwohnern noch vor einigen Jahrzehnten als gediegen mit viel Langeweile, hat sich das Bild gewandelt. Es breitet sich eine opulente Kulturszene aus. Die Touristenwerbung spricht sogar von fast 500 Restaurants, von denen viele auch noch nach Mitternacht öffnen dürfen. Die Großstadt im Kleinformat will über das ganze Jahr Touristen anziehen. Allerdings scheint Zürich im November inne zu Halten, Atem zu holen und sich bei den Öffnungszeiten der Restaurants eher dem Niveau von Städten wie Castorp Rauxel anzunähern. www.moods.ch

Stadt mit hoher Lebensqualität

Die Stadt am nördlichen Ufer des Zürichsees ist überschaubar und Ruhe die erste Bürgerpflicht. Dagegen scheint Hektik unter Strafe zu stehen. Autos hupen nicht, Hunde bellen nicht. Selbst die ständig überall umherrollenden Straßenbahnen, mit denen fast zwei Drittel des öffentlichen Nahverkehrs absolviert wird, quietschen wenn überhaupt nur sehr zaghaft. Laut einer viel zitierten Studie der international aufgestellten Unternehmensberatung Mercer wurde Zürich nach Spitzenreiter Wien weltweit als Stadt mit der höchsten Lebensqualität eingestuft. Kriterien der Auswahl sind die politische Stabilität, ökonomische Bedingungen, Kriminalitätsrate, Schulsystem, Wohnsituation u.a.m. Allerdings gibt sich Stadtgutachter Mercer auch realitätsnah und räumt ein, dass trotz diesem Ranking der Stadt Zürich persönliche Umstände auch zu einer sehr schlechten Lebensqualität führen können.

Occupy Paradeplatz

Direkt an der Straßenbahnhaltestelle Stauffacher auf dem Vorplatz der Kirche St. Jacob sind Bewohner der Stadt zu finden, die Gründe für schlechte Lebensqualität darin suchen, dass in der Gesellschaft etwas schief läuft. Seit zwei Wochen hat die im September aufflammende Protestaktion Occupy Wallstreet in New York nunmehr auch Zürich erreicht. Hier in einer der Hauptstädte der Finanzwelt gibt es attraktive Plätze für den Protest. Und so wurden zunächst die Zelte auf dem Paradeplatz aufgeschlagen, auf dem sich die zwei riesigen Gebäude von UBS und Credit Suisse Group erheben. Hier wurden die Occupy Eidgenossen schnell wieder vertrieben und fanden schließlich Asyl auf dem Gelände der ökumenischen Kirche. Es haben sich bislang 20 Demonstranten in den Zelten zum Übernachten eingefunden. Bei den Veranstaltungen am Abend verdreifacht sich ihre Zahl. Einige Passanten bleiben kurz stehen und lesen Dutzende überall aufgehängte Losungen. Kisten und Säcke mit Lebensmitteln, die, wie zu hören ist, ein halbes Jahr reichen, sind in einem der Zelte verstaut. Aber die Kirche hat den Protestlern den Aufenthalt nur bis zum Ende der ersten Januarwoche genehmigt. Auf einem Plakat steht: „Damit wir wirklich 99 Prozent sind, braucht es auch DICH!“ www.occupyparadeplatz.ch

Bahnhofsstraße mit mehr Glitzer

Die Kritik vieler Züricher Bewohner richtete sich seit Jahren gegen die mangelnde Leuchtkraft der Weihnachtsbeleuchtung in der Vorzeigestraße der Stadt. Ihre Bahnhofsstraße steht seit Jahren im Ranking der teuersten europäischen Einkaufsstraßen unangefochten ganz oben. Hier muss ein Einzelhändler, so sagt die am Besten informierte Quelle, die Immobilien Zeitung, bis zu 10.256 Franken pro Quadratmeter berappen. Dementsprechend hoch liegen die Preise der Luxusgüter: „Eine Uhr gefällig für 50.000 Franken?“. Manches Luxusprodukt will/muss ohne Preisschild auskommen. Dementsprechend hoch ist die Dichte der Millionäre, die hier kaufen. Die Bahnhofsstraße ist gefüllt mit Menschen, die sich mit Hingabe die Luxuswaren und wenn möglich die Käufer angucken wollen. Da passen das kalte Licht von Neonröhren und mickrige Leuchtkristalle nicht ins Bild
Seit dem 24. November blinkt die Weihnachtsbeleuchtung Lucy richtig standesgemäß. Die 23.000 Lämpchen funkeln wie frischer Schnee in der Märzsonne. In unregelmäßigen Abständen wird ein schneeflockenartiges Flimmern eingestreut. Außerdem spiegelt sich in dieser zeitgemäßen Version das moderne elektronisierte Leben wider – bunt und bewegt.

Mit der S-Bahn auf den Uetliberg

Die Stadt Zürich will durchgängig das ganze Jahr für Touristen geöffnet sein. Deshalb kann der Besucher auch zu jeder Zeit eine Tour per Ausflugsschiff auf dem Züricher See unternehmen. Im November lassen die schmucken Häuser und Grundstücke ahnen, wie sich die herrlichen Seeufer in der Sonne des Frühlings und Sommers präsentieren. Zürich mit seinem See ist eingebettet in Hügel. Auch sein Hausberg, der Uetliberg, ist das ganze Jahr erreichbar – mit der S-Bahn auf den ultimativen Ausguck auf die Stadt. In 871 Meter Höhe thront er über Zürich und an diesem November-Wochenende zeigt sich die Sonne und gibt den Blick auf schneebedeckte Alpengipfel frei. Zugleich sieht man am Vormittag bei der zu dieser Jahreszeit typischen Hochnebel-Wetterlage ein unvergleichlich schönes Nebelmeer. Auf dem Kamm mit ständigem Blick auf den Züricher See führt ein Planetenweg zur Seilbahn. Der Spaziergang führt an Nachbildungen des Sonnensystems vorbei, die im Maßstab von eins zu einer Milliarde den Weg säumen.

Viele Nikoläuse, wenige Protestler

Manchmal hatte es in den letzten Jahrzehnten den Anschein also ob die Schweiz in Europa mit seiner Währung und manchen Eigentümlichkeiten ein fremder und einsamer Planet sei. Bei der Rückfahrt vom Hauptbahnhof Zürich mit der Straßenbahn ins Hotel gab es zwei kurze Aufenthalte. Ein Umzug der Nikolausgesellschaft und eine kleine Veranstaltung der Occupy Wallstreet Bewegung auf dem Paradeplatz. Auch in Zürich sind die Nikoläuse derzeit noch in der Mehrzahl.

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