Zeitreisen – „Hate Radio“ und „Platonov“ beim Theatertreffen

Aktueller Anlass waren die zeitraubenden Inszenierungen „John Gabriel Borkmann“ mit bis zu 12 Stunden und „Faust I + II“ mit 8,5 Stunden. Dazu kamen die fünfstündige „Platonov“- Inszenierung und die nur dreieinhalb Stunden dauernde Sarah-Kane-Trilogie. Wie die Jury bei der Schlussdiskussion mitteilte, war diese geballte Herausforderung an die Sesshaftigkeit des Publikums nicht geplant gewesen, sondern hatte sich eher zufällig ergeben.

Neben den extrem langen gab es auch extrem kurze Vorstellungen. In nur siebzig Minuten lässt die deutsch-britische Gruppe Gob Squad Kinder die Stationen eines ganzen Lebens bis zum Tod durchlaufen. Das Spiel mit der Zeit ermöglichte in den anderen Inszenierungen Auseinandersetzungen mit der Gegenwart oder Rückblicke in die Vergangenheit mit Bezug zum Heute.

In zwei inhaltlich und formal völlig unterschiedlichen Produktionen erfolgt die Rekonstruktion der Vergangenheit ganz ohne Aktualitätsbezug. Die ZuschauerInnen finden sich als außenstehende BeobachterInnen mit unkommentierten historischen Situationen konfrontiert.

„Hate Radio“ von Milo Rau führt zurück zum Völkermord in Ruanda 1994, bei dem etwa eine Million der Tutsi-Minderheit und Tausende gemäßigte Hutu ermordet wurden. Im Zentrum des Reenactments steht der Sender RTLM (Radio-Télévision Libre des Milles Collines), der vor dem Genozid und während seines Verlaufs eine zentrale Rolle spielte.

Auf der Bühne des HAU 2  steht ein Glaskasten mit dem nach Zeugenaussagen nachgebauten Studio, in dem eine Moderatorin und zwei Moderatoren zum Abschlachten der Tutsi aufrufen, sich über die ermordeten Opfer lustig machen, die Tutsi mit den Nazis gleichsetzen und die mordenden Hutus zu Nachfahren der Freiheitskämpfer der französischen Résistance erklären.

Es ist kaum zu glauben, dass die so locker und fröhlich formulierten Texte, immer wieder unterbrochen von internationalen musikalischen Hits, tatsächlich Bezug zur Realität haben und nicht  eine bitterböse Science-Fiction-Satire sind. Pathos und Wutgebrüll, mit denen rassistische Hetze und Aufrufe zur Gewalt gemeinhin begleitet werden, fehlen hier. Das Töten der Menschen, die als Kakerlaken bezeichnet werden, erscheint als unterhaltsames Gesellschaftsspiel.

Vor und nach der Performance sind auf Videoeinspielungen Aussagen von Überlebenden des Genozids zu erleben. Die SprecherInnen berichten über unfassbare Greueltaten, begangen von Freunden und Nachbarn der Opfer. Am Ende sagt ein Überlebender: „Nein, ich glaube nicht an das Ende der Genozide. Ich glaube nicht, dass wir zum letzten Mal diese schlimmste aller Grausamkeiten erlebt haben. Wenn es einen Genozid gegeben hat, dann wird es noch viele geben.“

Das Publikum verfolgt die auf Französisch und Kinyarwanda gesprochenen Texte über Kopfhörer in deutscher Übersetzung. Die Glaswände des Studios vermitteln Distanz und erscheinen auch wie ein Schutz der Radio-ModeratorInnen vor der ohnmächtigen Wut, die bei den Zuhörenden hochkocht, im Verlauf der Performance aber zu hilflosem Entsetzen wird.

Milo Rau, Autor und Regisseur des Reenactments, begründete 2007 das International Institute of Political Murder mit dem Ziel, den Austausch zwischen Theater, bildender Kunst, Film und Forschung auf dem Gebiet der Re-Inszenierung historischer Ereignisse zu intensivieren und theoretisch zu reflektieren und hat bisher neun uraufgeführte Theaterstücke verfasst.

Die AkteurInnen bei „Hate Radio“ stammen aus Ruanda, sind Überlebende des Genozids. Vor allem aber sind sie hervorragende SchauspielerInnen, denen es gelingt, sowohl die ModeratorInnen als auch die ZeitzeugInnen lebendig werden zu lassen ohne Erklärungen für die zynische Unmenschlichkeit der Einen und den Schmerz, das Grauen und die Ängste der Anderen zu geben. Das Publikum bleibt draußen, und gerade durch diesen Ausschluss wird deutlich, dass es eine Bewältigung der Vergangenheit, die in diesem Reenactment heraufbeschworen wird, nicht geben kann.

Nach der ersten Vorstellung von „Platonov“ beim Theatertreffen gab es Standing Ovations. Allerdings waren etliche ZuschauerInnen in der Pause gegangen, darunter wohl auch der Besucher, der mehrfach „lauter“ gerufen hatte.

Der letttische Regisseur Alvis Hermanis, seit 1997 Intendant des Neuen Theaters Riga, macht es dem Publikum nicht leicht, obwohl, oder weil, in seinen Inszenierungen alles zu finden ist, was im deutschsprachigen Theater seit Jahrzehnten als allzu oberflächlich konsumierbar gilt: Werktreue, zeitgerechte Kostüme und Bühnenbilder und der Verzicht auf Aktualisierung.

In Berlin ist Alvis Hermanis bekannt durch seine Inszenierungen „The Sound of Silence“, ein Stück ohne Worte mit 25 Songs von Simon und Garfunkel, 2007 von Brigitte Fürle zur spielzeit’europa eingeladen, „Die Fräulein von Wilko“, Gastspiel des Teatro Storchi di Modena, 2010 zu erleben an der Schaubühne, wo Hermanis im November 2011 mit „Eugen Onegin“ seine erste Berliner Inszenierung realisierte.

Alvis Hermanis ist ein Meister des verzaubernden poetischen Theaters, der Literatur aus dem Geist ihrer Zeit lebendig werden lässt. Hermanis ist auch ein Meister der Entschleunigung, der es versteht, den Genuss oder die Qual gemächlich dahinfließender Zeit spürbar zu machen. In seiner Inszenierung von Tschechows Frühwerk am Burgtheater Wien kommt noch die Reaktivierung der vierten Wand hinzu, die doch längst und endgültig zu Gunsten des Austauschs zwischen Bühne und Zuschauerraum eingerissen schien.

Als Zuschauerin fühlte ich mich wie zufällig in eine Gesellschaft von mir unbekannten Menschen hineingeraten, die keine Notiz von mir nehmen. Sie unterhalten sich miteinander, und weil sie mir häufig den Rücken zuwenden oder im Gespräch auf die Terrasse hinausgehen, gelingt es mir nicht, alles zu verstehen, was sie sagen. Schließlich gehen sie alle nach nebenan ins Esszimmer, wohin ich nicht eingeladen werde. Durch die verglasten Flügeltüren kann ich sie an einem weiß gedeckten Tisch speisen sehen. Dabei gestikulieren und reden sie, aber durch die geschlossenen Türen dringen nur Laute zu mir herüber.

Im ersten Teil des Stücks geht es vor allem darum, die Atmosphäre aufzunehmen und sich, durch ausgiebige Betrachtung des wundervollen Bühnenbilds,  ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück zu versetzen. Monika Pormale hat mit akribischer Detailversessenheit ein heruntergekommenes russisches Herrenhaus nachgebildet: In der Mitte ein Salon, rechts davon das Esszimmer, und im Hintergrund eine Flügeltür zur Terrasse, die auch durch zwei hohe Fenster einsehbar ist und an die sich ein Birkenwäldchen anschließt.

Die Räumlichkeiten sind luxuriös, elegant möbliert, aber an den verzierten weißen Türen ist die Farbe an einigen Stellen abgeblättert, und die Seidentapeten sind verschlissen. Gleb Filshtinsky taucht die Szenerie in ein flirrendes Licht, das die Hitze eines Sommernachmittags spürbar werden lässt. Im Verlauf des Stücks verändert sich das Licht, zeigt die Abenddämmerung an, auf die Dunkelheit der Nacht folgt ein grauer Morgen und am Ende der Vormittag.

Die junge Witwe Generalin Anna Petrowna hat Nachbarn und Freunde eingeladen, und allmählich füllt sich der Salon mit Damen in prachtvollen Kleidern und Herren in Gehröcken. Kostümbildnerin Eva Dessecker hat die SchauspielerInnen historisch getreu eingekleidet und die Kostüme farblich hervorragend auf einander abgestimmt.

Mittelpunkt der Gesellschaft ist der Dorflehrer Platonov, Objekt der Begierde von vier Frauen. Martin Wuttke spielt ihn nicht als Charmeur oder raffinierten Verführer, sondern präsentiert Platonov überdeutlich als rücksichtslosen Zyniker mit schlechten Manieren. Er ist keine angenehme aber eine auffallende Erscheinung, und so projizieren die Damen ihre durch Romane gespeisten Phantasien auf ihn. Jede der vier Frauen ist in dieser Inszenierung letztlich das Opfer eines Selbstbetrugs.

Dörte Lyssewski als dominante Anna Petrowna, die Platonow als gebildeten Gesprächspartner schätzt und, mehr noch, sich mit einer leidenschaftlichen Affäre von ihren finanziellen Problemen ablenken will, Platonovs Frau Sasa (Sylvie Rohrer), eine junge Heldin, die von tiefer Liebe zu Platonov erfüllt ist und in ihm nur Gutes zu sehen vermag, die bezaubernde Sofja (Johanna Wokalek), die ihre Jugendliebe mit Platonov wieder aufleben lassen und mit ihm ein neues Leben beginnen will, und Yohanna Schwertfeger als um Liebe bettelnde Marja, die von Platonov zurückgewiesen wird.

Sämtliche Rollen sind in dieser Inszenierung großartig besetzt, und die SchauspielerInnen bewegen sich in einer brillanten Choreografie auf der Bühne. Das Publikum bleibt während der ganzen Vorstellung von den AkteurInnen anscheinend ganz unbemerkt, aber aus dem Stimmengewirr kristallisieren sich allmählich akustisch verständliche Dialoge heraus.

Wunderbar komödiantisch ist Peter Simonischek als Gutsbesitzer Glagoljew, der von alten Zeiten schwärmt, wie ein kleiner Junge verliebt in Anna Petrowna  ist, und schließlich begreifen muss, dass die Frau, der er einen Heiratsantrag machen wollte, nicht so ehrbar ist wie er glaubte.

Überall ergeben sich kleine Begegnungen und Gespräche, in denen es neben der Liebe vor allem um Geld geht. Alkoholgenuss hebt die Stimmung, Betrunkene torkeln umher, Streitlust entsteht.

Ebenso komisch wie tragisch ist die Begegnung zwischen Platonov und Isaak Abramovic. Während der berauschte Platonov sich auf dem Sofa eine erträgliche Position zum Schlafen zu verschaffen sucht, redet der ebenfalls betrunkene Sohn des reichen Juden (Fabian Krüger) unermüdlich auf ihn ein, um Platonovs Freundschaft zu gewinnen, lässt sich durch Platonovs Zurückweisungen nicht entmutigen, setzt sich auf dem Sofa dorthin, wo Platonov gerade seinen Kopf niederlegen will und hindert Platonov in jeder erdenklichen Weise am Einschlafen.

Im Alkoholrausch bricht aus Isaak Abramovic die Sehnsucht nach Anerkennung und Zuwendung heraus, die er ängstlich unterdrückt hatte im Schatten seines Vaters Abram Abramowic (Michael König) der in aufrechter Haltung und mit unbewegter Miene im Salon auf und ab schreitet, von allen gefürchtet, weil alle ihm Geld schulden, und als Jude von allen verachtet.

Die Zeit vergeht oft sehr langsam, bis der Vorhang, der nach jedem Akt fällt, den Schluss des Stücks anzeigt. Zu erleben ist aber auch mehr als ein Theaterstück. Es ist ein Stück Leben, zurückgeholt aus der Vergangenheit.

Mit der dritten Vorstellung von „Platonov“ am 21.05. endete das 49. Theatertreffen., das von insgesamt 20 000 ZuschauerInnen und Gästen begleitet wurde. Im Rahmen des Theatertreffens 2012 wurden drei renommierte Preise verliehen:

Sophie Rois erhielt den Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung. Nina Hoss als diesjährige Jurorin übergab den Alfred-Kerr-Darstellerpreis an Fabian Hinrichs für seine schauspielerische Leistung in „Kill your Darlings! Street of Berladelphia“, und der 3sat-Preis wurde dem Regisseur Nicolas Stemann verliehen für seine Inszenierung „Faust I + II“.

Das 50. Theatertreffen findet vom 3. bis zum 19. Mai 2013 statt.

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