Wird zu viel operiert in Deutschland? – Die Deutsche Chirurgische Gesellschaft will krankheits- und patientenorientierte Medizin betreiben

Dazu sieht sie sich genötigt, weil die ärztliche Zunft insbesondere durch den Transplantationsskandal in schlechtes Ansehen zu geraten droht. Infolge der falschen Vergütungsordnung in den Musterverträgen der Deutschen Krankenhausgesellschaft vom Jahre 2002 werden die Chefärzte finanziell zu mehr Operationen angereizt, was auch dazu führt, die Entscheidung für eine Operation großzügiger zu handhaben und Eingriffe auszuweiten. Trotz des Widerstands der Bundesärztekammer, des Marburger Bundes und des Verbands Leitender Krankenhausärzte wurde der Anteil der Chefarztverträge mit mengenabhängigen Bonuszahlungen von fünf Prozent im Jahre 1995 auf 45 Prozent erhöht. Das fördert die Mengenideologie und verleitet dazu, medizinische Entscheidungen mit wirtschaftlichen Kriterien zu verknüpfen – was dem ärztlichen Berufsethos widerspricht. Gerade die Fallpauschale – sogar unterschiedlich für verschiedene Krankenhäuser – macht es richtig lukrativ, den Patienten ein zweites Mal in die Klinik zu rufen. Wie der Generalsekretär der Gesellschaft, Prof. Dr. med. Hans-Joachim Meyer forderte, sollen an die Stelle von Fallzahlen Patientenzufriedenheit, eine niedrige Rate an Komplikationen und Zweiteingriffen sowie gute Mitarbeiterführung treten. Die Glaubwürdigkeit der Ärzte und Krankenhäuser solle so in der Öffentlichkeit gestärkt werden. Nötig sei die Hinwendung zur krankheits- und patientenorientierten Medizin. Wie allerdings subjektive Faktoren wie Patientenzufriedenheit messbar sein sollen, blieb offen.

Wie höhere Lebenserwartung ohne steigende Kosten erreicht werden kann, erläuterte der Gefäßchirurg Prof. Dr. med. Sebastian Debus. Mit zunehmendem Alter wächst das Risiko von Gefäßerkrankungen: verengte Gefäße in den Beinen, überdehnte Bauchschlagadern oder Aneurisma am Herzen, besonders bei Männern. Der Anteil der stationären Behandlungen wird hier bei über 60jährigen bis auf über 60 Prozent ansteigend geschätzt.  Der technische Fortschritt erlaubt jedoch heute die Eingriffe vorwiegend »minimalinvasiv«, über Katheter, statt durch offene Operationen. Wenngleich die Chirurgen Gefäßoperationen auch bei Hochbetagten für sinnvoll halten, sehen sie doch einen entschiedenen Vorteil in der Vorbeugung. Denn während die Behandlung eines Schlaganfalls 60 000 Euro kostet, kostet eine Vorsorgeuntersuchung 30 Euro. Dabei kann man feststellen, ob der Patient krank ist oder werden kann. Diese Untersuchung muss er jedoch selbst bezahlen. Die Gesellschaft empfiehlt eine Vorsorgeuntersuchung bei allen Männern über 50 Jahren. Bei 200 000 Erkrankungen im Jahr ist unbegreiflich, dass die Krankenkassen nicht mit der Bezahlung der Vorbeugeuntersuchung gegensteuern. Doch wie so oft sind die einfachsten Lösungen am schwersten durchzusetzen. Die Ideologie der »Eigenverantwortung« richtet mehr Schaden als Nutzen an. Der Präsident der Gesellschaft, Prof. Dr. med. Karl-Walter Jauch, erwartet im Gespräch mit dem Autor, dass auch durch den AOK-Report die Öffentlichkeit so sensibilisiert wird, dass die Krankenkassen überzeugt werden können, diese Kosten zu übernehmen.

Gibt es in Deutschland Ärztemangel? Prof. Jauch und Prof. Dr. med. Stefan Post meinen an Hand von OECD-Statistiken sogar eine Überversorgung erkennen zu können. Deutschland habe auf die Bevölkerungszahl bezogen mehr Ärzte als die meisten Industrieländer, mehr Krankenhausbetten, mehr Arztbesuche und die geringsten Wartezeiten auf Operationen. Die Versorgung mit Herzkathetern sowie künstlichen Hüft- und Kniegelenken sei Weltspitze (was auch die AOK vermerkt). Die Überlebenschancen bei Lebertransplantationen zum Beispiel seien jedoch geringer als in den USA  und Großbritannien. Jauch warnte vor zu vielen Transplantationszentren, weil der Konkurrenzdruck zu mehr Operationen, zum Einsatz schlechterer Organe, zu höherem Risiko und zu geringeren Überlebensquoten führt. Statt mit 24 Zentren in Deutschland könnte der Bedarf bei richtiger räumlicher Anordnung mit 15 bewältigt werden. Es käme nicht auf die Menge der OP-Standorte, sondern auf mehr Überlebende an. »Sonst fahren wir sehenden Auges gegen die Wand.« Das Lokalverhalten der Bevölkerung müsse natürlich berücksichtigt werden. Ohne kluge Planung und mehr Vernunft der Bundesländer wäre nichts zu bessern.

Jauch hält es für dringend notwendig, endlich per Gesetz ein Transplantationsregister zu schaffen. Mit Langzeiterfassung der anonymisierten Daten von Spendern und Empfängern, durch Qualitätsüberprüfungen lasse sich die Organzuteilung optimieren und die Qualität der Transplantationen erhöhen. Trotz seiner Feststellung, es gäbe zu wenige Spender, kann sich Jauch nicht zu der Forderung entschliessen, den Zugriff auf Organe Verstorbener grundsätzlich zuzulassen wie in der DDR. Wie jedoch allein mit freiwilligen Spenden der Bedarf besser gedeckt werden kann, ist fraglich. Die Verabschiedung des Gesetzes hält Jauch in dieser Legislaturperiode für nicht realistisch, aber das inzwischen beschlossene Krebsregister sei ein gutes Modell.

Die Verringerung der Transplantationszentren hängt von der Planung der Länder ab, die auch die Genehmigungen erteilen. Die Chirurgische Gesellschaft wird sich in einem Offenen Brief an die Konferenz der Gesundheitsminister wenden, um auf Lösungen zu drängen. Auf dem Chirurgenkongress Anfang Mai in München will die Gesellschaft die politische Diskussion über die genannten Themen forcieren, um Druck zu machen.

Problematisch ist die pauschale Feststellung einer Überversorgung durch die Gesellschaften der Mediziner. In Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, wo das Netz von Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern immer weitmaschiger wird, dürfte diese Auffassung auf Zweifel, wenn nicht auf Widerspruch  stoßen. Verständlich, dass »die Basis«, nämlich die Betroffenen – hier die Patienten und Krankenhausangestellten –, manches ganz anders sehen. Im Jahre 2009 fand zum Beispiel in Berlin parallel zum Weltgesundheitsgipfel von Universitäten, Gesundheitsbehörden sowie medizintechnischer und Pharmaindustrie eine alternative  Konferenz von Organisationen der Entwicklungshilfe, von Gewerkschaften und Ärzteorganisationen statt. Die hatte eine völlig andere Sicht auf die Probleme der medizinischen Versorgung als die Offiziellen. Was wäre, wenn parallel zu den Kongressen der medizinischen Gesellschaften jeweils ein Konvent der Patienten, der Gewerkschafter und Kommunalpolitiker stattfände? Die dialektische Wertung der Probleme könnte ein Bild ergeben, das der Wahrheit näher käme als allein die Analyse der professionellen (und zum Teil gewinnabhängigen) Instanzen. Das könnte zu mehr Effizienz, zu mehr sachgerechter Lenkung der Kapazitäten, aber unter Umständen auch zu begründeten Forderungen an die staatliche Haushaltspolitik anregen.

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