Wie man Heimat durch Sprache, Sicherheit durch die niedergeschriebenen Worte findet – Serie: Sechs Finalisten zum Deutschen Buchpreis 20101 stellen ihre Bücher im Literaturhaus in Frankfurt vor (Teil 2/2)

Thomas Lehr

Wie jemand, der das Buch noch nicht gelesen hatte, mit all den Informationen umgehen konnte, stellen wir uns deshalb nicht als schwierig vor, weil Peter Wawerzinek einer der seltenen Ausnahmen bei Autoren ist, der einerseits mit vollem Herzen von sich und seinem Leben berichtet, aber dem auch ein gewisser Schalk im Nacken sitzt – vielleicht war dieser sein Schutzengel? – so daß man, statt dauernd betroffen zu sein, von so viel Gemeinheit einem verlassenen klitzekleinen Kind gegenüber, ständig ins Prusten geriet, ob der Lakonie, mit der er darüber berichtete. Und als dann noch nach seinem ihm genehmen Namen gefragt wurde, denn der jetzige ist der der Adoptiveltern, erklärte er freimütig und erklärend gleichermaßen, das Codewort in seinem Rechner sei „Runkel“. Also, wenn das schon öffentlich einer ausposaunt, muß auch das übrige stimmen.

Das übrige ist schnell erzählt, aber schwer durchlebt. Das Kleinkind wird durchgereicht, von Heim zu Adoptiveltern, von denen ins Heim, wieder”¦, aber das Kleinkind reagiert – und zwar nicht nur, wie im Roman beschrieben, vier Jahre lang, sondern bis ins siebte Jahr – und schweigt. Denn jetzt, nach dem Buch, melden sich viele, die ihn von damals kannten und erzählen aus dieser Zeit. Das sind oft Erinnerungen, die sich überlappen, aber auch ganz gegenteilig das eigene Bild verstärken. Da kann dann die böse Vergangenheit auch zur Burleske werden, wenn er erzählt, daß er jetzt erst weiß, daß die Mutter damals „im schwangeren Zustand abgehauen, also ist von den acht Kindern, die die Mutter noch hatte, eines ein richtiges Geschwister. Das kommt jetzt alles raus, wenn man so ein Buch schreibt.“

Peter Wawerzinek hat schon zehn Bücher geschrieben, die höchste Anzahl seien 112 verkaufte Exemplare gewesen. Diesen Erfolg nun erklärt er, der Lehrer werden sollte, sich damit, daß er in den sieben Jahren des Schweigens, „ die Texte in sich geschrieben, sehr viel gescannt, nichts dazu gesagt“ habe. Er wird zu Geschichten befragt, die im Buch stehen, aber im Klappentext eine andere Richtung erhalten. Wie er als Grenzsoldat in den Westen flüchtete, also gerade beim Abhauen war: „dann haben wir bloß uriniert und sind wieder zurück. Taktisch war das klug.“ Nichts da also mit psychoanalytischer Sicht, daß das zwiespältige Mutterbild in ihm die Rückkehr nahelegte. Textiler wollte er werden, das war, was er wirklich wollte. Nein, es reicht nicht für Malerei, nicht für Grafik, aber als männlicher Student konnte man bei den Textilen politisch überleben. Manchmal weiß man nicht, ob es die Fabulierlust ist oder die Wahrheit, wenn er davon erzählt, wie er der Hochschule mitteilte, das „vorgefundene Studium gefällt“ ihm nicht, da er aber „Weißensee nicht abschaffen kann, entläßt“ er sich selber. Seit 1988 versuchte er dann mit einer selbständigen Tätigkeit zu überleben, was, wie man sieht, gelang.

Im Gespräch wird gemeinsam hinterfragt, wieso sein Schicksal so positiv ausging. Wawerzinek und seine Umwelt glauben, daß es an seinen vielen Talenten liegt, denn immer wurde ihm schon im Kinderheim gesagt, der hat so viele Talente, der muß in eine Familie, damit diese Talente gefördert werden: „Letztes Ende haben sie alles richtig gemacht, das wird ein Physiker und Mathematiker, lassen wir ihm die Staffel“, damit Kleinpeter malen kann, was er ab liebsten tat. „Eigentlich haben Sie doch ganz lange Zeit wie unter Betäubung gelebt?“, war die Schlußfrage von Epkes. „Eine Vorbereitung auf das Buch war schon, daß ich keine Macken haben wollte und die Suchtproblematik anging.“ Und im Nachhinein dünke ihm: „Ich konnte viele Kinder sein. Wie sagt man: ’Ich Dich auch.’“

Aber wie ist das jetzt? Auf Bitten des Moderators las er dann seine Geschichte über das Klo, die auf Seite 83 beginnt und eines der Beispiele ist, wie man ohnmächtig werden kann, um daraus Macht zu schöpfen.

Jan Faktor „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“ katapultiert das Publikum in das Prag der Siebziger Jahre, wie Moderatorin Maike Albath den nächsten Autor einführt. Allerdings liegt das Prag dieser Jahre geografisch direkt neben der DDR, nicht, was die politische Situation angeht. Der Autor, Jahrgang 1951, wurde dort geboren und empfindet in seinen Erinnerungen die Stadt als wucherndes Gebilde mit lauter Tanten. Und als er auf die Frage: Warum ist der Titel so lange geworden?“, antwortete: „Weil ich ’Prag’ unterbringen wollte.“, ahnte man schon, den nächsten frohgestimmten Humoristen angesichts ernster Inhalte vor sich zu haben. Tatsächlich führte er dann noch aus: „Ich hatte Mühe, den Rhythmus des Satzes hinzukriegen, weshalb ich ’Du Heiliger Bimbams’ einschieben wollte“, den Hodensack habe ich immer gemieden. Und als er generell sagte, wer doof frage bekomme auch solche Antworten, spürte man auf einmal den Ernst, wenn er sagte: „Wir müssen stark unterscheiden, zwischen mir und meinem Helden! Denn ich habe viel Liebe bekommen, und viele Neurosen. Im Buch wird er mit Liebe behandelt und wird mit Liebe verabschiedet, in Wirklichkeit war er, Georg, ein Ekel. Die Tanten und die Mutter haben die Lager als Juden überlebt.“ Als er aber fortfuhr: „Mir und Georg wurden aus dem KZ Anekdoten erzählt. Wurde nur gelacht. Auschwitz und anderes. Daß da welche gestorben waren, wusste ich auch, aber das war Verdrängung, die gut tat.“, geriet man wieder in der Personalunion von Verfasser und Hauptfigur.

Auf die Rückfrage, es gäbe im Buch so einen Unterton, jüdisches Schicksal eben, reagierte er: „ Das Prägende waren die politischen Dinge in Prag, das Jüdische war weit zurück, die Stalinzeit, da war es wieder schwierig Jude zu sein, es ist ein kulturelles Phänomen.“ Im Roman ist dieser Georg einer, der ausbricht aus den geordneten Verhältnissen, jede sich bietende Gelegenheit ergreift, um über die Stränge zu schlagen und die sich im Zustand des „Vormärz“ befindliche Tschechoslowakei für die eigene Jugend zu nutzen. Eine handfeste Familiengeschichte und nichts für verzärtelte Gemüter. Das Prager Einmarschkapitel sei nur ganz kurz, vorher habe man echte Demokratie erlebt, offene Gespräche auf der Straße, aber dann gab es den inneren Zerfall, das Moralische, das Zwischenmenschliche ging kaputt. „Prag war furchtbar als Stadt, sie zerfiel seit den fünfziger Jahren, was nicht so wahrgenommen wurde, Dürrenmatt kam nach Prag und war entsetzt, wie es aussah. Ich sah den Zerfall erst in den Siebzigern“. Es gab trotz der Übermacht der herrschenden politischen Klasse prägende Momente auch dann noch. Es gab Nischen für Intellektuelle, Journalisten, die nicht mehr als Journalisten gearbeitet haben, gerieten ins semikriminelle Milieu, was der Autor bestreitet: „ Alle Rebellen waren meine Freund.“

Georg gerät in die Prager Dissidentenszene und an den geschassten Intellektuellen, der sich wie eine Sehender in der Stadt bewegt, obwohl er blind ist. Das nun wieder ist ein literarischer Topos seit Homer, von dem man sagt, er sei blind gewesen und seine Porträts so gestaltet. Die Lesung beginnt auf Seite 61 mit: „Daß bei uns zu Hause alles Männliche kompromißlos ausgelagert werden mußte, schien mir richtig und konsequent zu sein. Männer hätten unsere Harmonie nur gestört. Sie hätten unser Zusammenleben durcheinandergebracht, hätten sicher auch die fundamentalsten Regeln gebrochen oder sich sogar angemaßt, neue Regeln einzuführen. Die Liebhaber meiner Mutter waren zwar nie ausgelagert worden, sie wurden aber auch niemals wirklich eingelagert.“, und setzt sich als humoristischer Reigen von Männern und männlichen Vorbildern fort. „Warum so viel Sex?“, wird anschießend gefragt. Abgesehen davon, daß Jan Faktor ungefragt antwortet: „Mir macht das auch Spaß: Sex“, plädiert er dafür, sich die Ecken genau anzuschauen, „die schlimmsten verpißten Stellen, da gucke ich sofort hin, da gibt es die interessanten Menschen.“ Er habe grundsätzlich Nähe und Mitgefühl mit den Letzten, er, als jemand der ausgesondert werden sollte. Die auf der Hand liegende Frage nach dem Verhältnis zum Deutschen und zur Muttersprache Tschechisch, „läuft das Tschechische immer noch mit?“ folgt klar: „Nein, ich kann nur noch Deutsch schreiben, denn das Tschechische ist das der Siebziger Jahre. Ich liebe die Sprache, aber könnte nicht mehr darin schreiben.“

Alf Mentzer von hr2-kultur stellt Doron Rabinovici mit seinem Buch „Andernorts“ aus dem Suhrkamp Verlag vor und läßt sich erst einmal bestätigen: „Das ’i’ muß man unterschlagen, denn im Rumänischen macht es nur „c“ weich, aber dann waren alle direkt in unserer gesellschaftlichen Gegenwart, wenn gefragt wurde, ob man Kultur vererben könne und was man überhaupt vererben könne. Hintergrund der Frage ist nicht Sarrazin, sondern ein Rabbi, der den Kulturwissenschaftler Ethan Rosen, die Figur im Roman, dazu auffordert, eine Samenspende abzugeben, denn dieser habe das Erbgut des Heilands in sich und könne so dem Gekreuzigten und in den Himmel Aufgefahrenen die Rückkehr auf Erden möglich machen. Der Roman sei so ironisch witzig wie traurig. Denn hier reagiere ein Verzweifelter, der nicht im Glauben lebt, sondern im Eifer. „Die Idee, daß Kultur vererbt werden kann? Kultur muß man in der Mehrzahl denken, das ist keine Mutation, sondern sie entwickelt sich immer weiter.“ Auf jeden Fall äußerte Doron Rabinovici abschließend: „Meine voll formulierte Identität wird meine Grabinschrift zeigen, das lasse ich mir von keinem Gen nehmen.“

Der Roman handelt in Israel und Wien – wo der Schriftsteller auch lebt – und dazwischen im Flugzeug. Es geht um alles, wie immer, um die Vergangenheit von Juden, vom Überleben und dem Erinnern an die Gemordeten. Wieso sein Konkurrent um den Lehrstuhl in Wien, der verhaßte Rudi Klausinger auf einmal sein Bruder sein soll, sind so Fragen, die zeigen, daß hier alles hin- und her und dann noch verworfen wird. Grundsätzlich stellt sich dem Autor die Frage nach den Religionen, die vor allen in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen Hochkonjunktur haben. Seine Hauptperson hat auch mit Doron Rabinovicis Aufenthalten in Sri Lanka und Indien zu tun, wo es, was die Identität angeht, ebensolche Grenzgänger gibt. Die geben sich gerne als jemand anderer aus. Ob das eine fragile, oder stabile Identität sei? „Er muß immer dagegen sein. Er ist vor allem gegen den Konsens. Ein gelassener Kerl ist er nicht, ein Getriebener mit Widerspruch zu sich selbst.“ Alles wird in seiner Existenz aufgelöst, ein Stück nach dem anderen wird dem Kerl weggenommen. „Auch sein Vater ist nicht mehr sein Vater. Die Familie kann nur existieren durch ein Familiengeheimnis. Das wird zusammengelogen. Auch eine Nation kann nicht leben ohne Geschichtslüge. Was bleibt in Israel, wenn die Gründergeneration stirbt? Der Sechste des Abends liest dann einige Seiten, noch ziemlich am Anfang des Romans und bezeichnet danach das Gelesene als Identitätsironie, „der Witz, um mit dieser Welt zurechtzukommen.“ Ja, es sei eine jüdische Familie, aber betreffe nicht nur jüdische Familien.

Anders als im letzten Jahr wurden auf dieser Veranstaltung weit weniger der besprochenen Bücher verkauft. Uns scheint das nicht an den Büchern, sondern am Publikum zu liegen, das, so schien es auch in der Pause, weithin ein Fachpublikum ist, das sich die Bücher auf anderem Weg besorgt. Es kann aber auch jetzt schon zur Tradition gehören, daß Besucher sich die Bücher vorher besorgen und lesen, weil man dann einfach von dem Gespräch mit dem Autor und auch der Lesung mehr hat. Auf jeden Fall waren Spitzenreiter die zwei Frauen. Sechsmal verkauft sich der Roman „Tauben fliegen auf“ und zweimal Judith Zander „Dinge, die wir heute sagten“. Nur je einmal wurden Peter Warwerzinek und Doron Rabinovici verlangt und Jan Faktor und Thomas Lehr überhaupt nicht. Letzterer wurde als eindeutiger Favorit für den Preis in den Pausengesprächen bezeichnet, aber auch Warwerzinek liegt vom Hörensagen im Rennen. Gefallen hatten alle Teile, denn der Applaus war jeweils eindrücklich.

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