Wer vieles bringt… – Eröffnung der Autorentheatertage des DT mit „Das fliegende Kind“ und „Der Wind macht das Fähnchen“

Vom 05. bis 16. Juni wird wieder einmal in allen Räumen des Deutschen Theaters gespielt, gelesen, referiert und diskutiert, und auf dem DT-Vorplatz werden im grünen Kinderzimmer die prämierten Texte des Treffens Junger Autoren der Berliner Festspiele 2011 als szenische Umsetzungen in täglich wechselnder Auswahl präsentiert.

Am Eröffnungstag waren im DT „Das fliegende Kind“ von Roland Schimmelpfennig, in den Kammerspielen „Der Wind macht das Fähnchen“ von Philipp Löhle und in der Box „Fabelhafte Familie Baader“ von Carsten Brandau zu erleben. Letzteres Stück wurde bei den Autorentheatertagen 2010 als Werkstattinszenierung in der Langen Nacht der Autoren vorgestellt und war nun in der Uraufführung durch das Neue Theater Halle zu sehen.

Roland Schimmelpfennigs neues Stück „Das fliegende Kind“, unter der Regie des Autors im Februar 2012 am Akademietheater Wien uraufgeführt, ist tragisch und komisch, verbindet Tiefsinniges mit Banalem, Wissenschaft mit Religion.

Die Geschichte ist einfach und auf erschreckende Weise grotesk: Am Martinsabend beim Laternenumzug verliert ein kleiner Junge sein schwarzes Matchboxauto. Das Kind läuft suchend den Weg zurück.Als es das Spielzeugauto auf der Straße entdeckt und aufheben will, wird das Kind von einem großen schwarzen Wagen überfahren. Der Fahrer des Wagens ist der Vater des kleinen Jungen.

„Ein schwarzer Wagen fährt bei Nacht durch die Stadt, nach Einbruch der Dunkelheit fährt ein großer schwarzer Wagen durch die Straßen der Stadt, und holt unsere Kinder.“ Diese Textzeilen werden im Verlauf des Stücks immer wieder rezitiert.

Das Stück ist eigentlich eine kleine poetische Erzählung. In Roland Schimmelpfennigs Inszenierung erwecken sechs großartige SchauspielerInnen die handelnden Personen zum Leben, wechseln mit brillanter Leichtigkeit von einer Rolle zur anderen, singen, sprechen im Chor oder artikulieren beeindruckend Tierlaute im Regenwald.

Die Bühne von Johannes Schütz ist schwarz ausgeschlagen, simuliert eine düstere Stadt im November, in der sich die von Lane Schäfer und Johannes Schütz mit dunkler Kleidung ausgestatteten Personen geisterhaft in fahlem Licht bewegen. Auf der Bühne sind nur ein paar Stühle und im Hintergrund – sehr dekorativ – drei Glocken in verschiedenen Größen, die von Johann Adam Oest geläutet werden.

Drei ängstlich besorgte Lehrerinnen (Christiane von Poelnitz, Regina Fritsch und Barbara Petritsch) haben die Kinder mit ihren bunten Laternen unbeschadet durch die Gefahren des Straßenverkehrs geführt und in der Kirche in Sicherheit gebracht. Dort haben sich auch die Eltern versammelt, um dem Gesang ihrer Sprösslinge zu lauschen. Alles erscheint ganz harmonisch, der Gottesdienst zu Ehren des Heiligen Martin ist offenbar ökumenisch, denn gesungen wird auch „Ein feste Burg“ von Martin Luther.

Während die Lehrerinnen die Kinder außer Gefahr glauben und sich von ihrer Überwachungsaufgabe erholen, sind die Eltern des kleinen Jungen, anstatt sich ganz auf   ihren Sohn zu konzentrieren, mit ihren eigenen, außerehelichen, Angelegenheiten beschäftigt.

Die kleine Schwester des Jungen schreit mörderisch. Die drei Schauspielerinnen setzen sich nacheinander eine rote Mütze auf und spielen das schreiende kleine Mädchen, das sich nicht beruhigen will, denn es schreit ja Alarm wegen seines Bruders, aber niemand versteht das. Später, nach dem Tod des Jungen, schreit die Mutter.

Zunächst aber verlässt die Mutter für ein paar Augenblicke die Kirche und trifft sich vor der Tür mit ihrem Liebhaber. Der Vater macht sich gänzlich davon. Er will sein neues Auto abholen und damit zu einem Vortrag über den südamerikanischen Regenwald fahren in der Hoffnung auf ein anschließendes Rendezvous mit der attraktiven Referentin.

So kann sich der kleine Junge unbemerkt auf den Weg machen, um sein Matchboxauto zu suchen.

Die drei Arbeiter unter der Erde (Peter Knaack, Falk Rockstroh und Johann Adam Oest), über die, ebenso wie über die Lehrerinnen, mitgeteilt wird, sie seien unterbezahlt, womit auch ein Tupfer Sozialkritik ins Stück eingefügt ist, hören alles, was über ihnen geschieht, können jedoch das Unheil nicht verhindern. Da die Männer mit ihren Lampen an den Helmen tief unten sind, sinnieren sie tiefsinnig über das physikalische Problem der Teilchenbeschleunigung.

Der Vater des Jungen fährt stolz mit seinem großen neuen Auto durch die Dunkelheit. Er hat vergessen, das Licht einzuschalten, und während er unter dem Sitz nach seinem heruntergefallenen Handy sucht, überfährt er, ohne es zu bemerken, mit seinem großen schwarzen Wagen seinen kleinen Sohn, als der gerade nach seinem kleinen schwarzen Matchboxauto greift.

Adam Oest, auf einem Stuhl stehend, ist der Glöckner auf dem Turm, dem Himmel nah, und der sieht plötzlich auf einem Sims einen grünen Leguan, ein Tier aus dem Regenwald, den die vom Vater des kleinen Jungen begehrte Wissenschaftlerin erforscht.

Aus dem Leguan wird der kleine Junge, der im Augenblick seines Todes in eine Dimension eintritt, in der Zeit und Raum sich verändern. Nach dem Zusammenprall mit dem Wagen seines Vaters fliegt das Kind hoch hinauf, wechselt vorübergehend seine Gestalt, führt dann mit dem Glöckner ein Gespräch über die Unendlichkeit, bevor es auf die Straße hinabstürzt.

Die mysteriösen Zusammenhänge in Roland Schimmelpfennigs Stück wären sehr schwer verdaulich, wenn nicht das grandiose Schauspielensemble, geführt von einer geschickten Regie, so wundervoll komödiantisch agieren würde.

Während in Schimmelpfennigs Stück die Grenzen von Zeit und Ewigkeit überschritten werden, beschränkt Philipp Löhle sich in „Der Wind macht das Fähnchen“, das der Autor als „Einfamilienstück“ bezeichnet, auf reale Gesellschaftskritik. Symbolgehalt hat das Stück insofern, als die Familie hier, als ihre Keimzelle, die Gesellschaft vertritt.

Die Geschichte beginnt in den 1990er Jahren, als Vater, Mutter, Tochter und Sohn noch in trautem Glück vereint sind. Vater ist Vertreter, und seine Familie ist sein ganzer Stolz. Er nennt sie sein Nauru nach einer kleinen Pazifikinsel, deren BewohnerInnen mit phosphathaltigem Vogeldung reich wurden.

Auch die namenlose Familie gelangt zu Wohlstand. Der Vater bekommt einen Dienstwagen und damit geht es ab in den Urlaub nach Italien. Eltern und Kinder zählen die Details ihres Zusammenlebens auf, Vorkommnisse aus der Zeit, als der Sohn noch nicht sprechen konnte, Aufsässigkeiten der Tochter, all die kleinen Dinge, die familienintern von Bedeutung und für Außenstehende eher langweilig sind, und selbstverständlich wird immerzu alles auf Fotos festgehalten.

Die Ausstattung von Karoline Bierner, ein kleines Podest, auf dem die Familie zusammengedrängt ist, im Hintergrund eine Sperrholzwand mit Blümchentapete, daneben eine weitere Wand mit einer Palme, dazu der übergewichtige Vater in weiten Shorts als unangefochtener Alleinherrscher über sein kleines Volk, das alles lässt eher an die 1960er Jahre denken. Ganz so spießig waren die 90er nicht mehr, und nachdem die Achtundsechziger den Aufstand gegen die Väter und die Frauenbewegung den Protest gegen die männliche Vorherrschaft ausgerufen hatte, hörte die heile Kleinfamilie zwar nicht auf zu existieren, als Norm, wie von Philipp Löhle intendiert, galt sie aber in den 90ern nicht mehr.

Nun ging es Löhle aber offenbar darum, zu demonstrieren, dass in den 1990ern dank Wohlstand allgemeines Wohlbefinden und Einigkeit vorherrschten, dass die zufriedene Sattheit aber die Verantwortungslosigkeit förderte, durch die dann, nach der Jahrtausendwende, Finanzkrise und  Chaos verursacht wurden.

Die Familie bricht auseinander, nachdem der Vater, aus verletztem Stolz, seine Stelle gekündigt hat. Nun gibt es keinen Dienstwagen mehr, und die Kinder begehren auf, weil sie in den Ferien zu Hause bleiben müssen. Die Mutter, die sich vorher diplomatisch dem Haushaltsvorstand untergeordnet hatte, zeigt kein Verständnis für den arbeitslosen Ehegatten, trennt sich von ihm, findet selbst eine Arbeit und lebt in der neuen Freiheit ein bisschen auf.

Tatjana Pasztor als Mutter nutzt sehr beeindruckend die Möglichkeiten, die ihr mit dieser einzigen Rolle im Stück offenstehen, die nicht ganz typisiert ist. Tatjana Pasztor spielt eine Frau, die sich nicht traut, ihre Potentiale auszuschöpfen. Sie versucht, nicht ganz in der Rolle als Ehefrau und Mutter aufzugehen, genießt dann mit gebotener Vorsicht ihre Selbständigkeit, und kehrt, nachdem sie arbeitslos geworden ist, doch wieder ängstlich zu ihrem Mann zurück.

Der Vater (Rolf Mautz), zunächst aufgeplusterter selbstherrlicher Familienboss, verliert durch seine Arbeitslosigkeit  Macht und Selbstvertrauen, denn Frau und Kinder stehen in Zeiten der Not nicht hinter ihm. Er steigt dann ins Internetgeschäft ein, seine Frau kehrt zurück, aber ganz der Alte wird er nicht mehr. Als auch der neue Job verloren ist, verheimlicht der Vater seine Arbeitslosigkeit und verbringt, wie Arthur Millers Willy Loman in „Tod eines Handlungsreisenden“, seine Tage irgendwo in der Stadt.

Anders als Willy Loman bringt der Vater sich nicht um. Nachdem er mehrmals in Parks und Anlagen Bekannte getroffen hat, hofft er, in einem Bordell ein sicheres Versteck zu finden. Die Serviererin, die ihm dort begegnet, ist dann aber seine Frau. Da weder Mutter noch Vater gravierend gegen die Regeln der Sexualmoral verstoßen haben, können sie jedoch einträchtig miteinander nach Hause gehen.

Vor Diebstahl schrecken die Beiden allerdings nicht zurück. Die Eltern durchwühlen die Wohnung ihrer Tochter, die erfolgreich im Internet Mode verkauft, finden große Mengen Geld und nehmen es beglückt an sich. Dabei werden sie von ihrem Sohn überrascht. Der ist inzwischen Polizist geworden, verhaftet seine Eltern und seine Schwester, die ihre Einnahmen nicht versteuert hat, gleich mit.

Die Tochter (Philine Bührer) ist vorwiegend schnippisch und oberflächlich, während Birger Frehse als Sohn etwas geheimnisvoll Dunkles umgibt. In seiner Pubertät schreibt er heimlich schlechte Gedichte im Keller, und später wird er zu einem gnadenlosen Ordnungshüter, der von einem totalen Überwachungsstaat träumt.

Regisseur Dominic Friedel unterbricht die konstruierten Dialoge gelegentlich mit Aktionen, bei denen Wände eingerissen werden und hat auch die eingestreuten Wortspiele deutlich herausgearbeitet. So schlägt der Sohn seiner Schwester für ihre geplante Modefirma den Namen Tragik vor. Die Schwester versteht erst einmal nicht, formuliert dann aber begeistert: trag ick und trag isch.  Die altmodischen Eltern sprechen über das Internetz und der Vater sagt von sich selbst, er sei ein Arbeitslooser.

„Der Wind macht das Fähnchen“, ein Auftragswerk für das Theater Bonn, wurde dort im Januar 2012 uraufgeführt und war ihm Rahmen der Autorentheatertage auf der Hinterbühne der Kammerspiele zu erleben.

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