Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? – Jon J. Muths Comic “M – eine Stadt jagt einen Mörder” erscheint in einer hochwertigen Neuausgabe

Zitrone, Banane, der lockt die Kinder an”¦”
(aus Georg Seeßlens Einleitung zu “M“)

Auf 192 Seiten kondensierte der Jon J. Muth “M – Eine Stadt jagt einen Mörder” Fritz Langs psychologischen Kriminalfilm. In verwischten Grau- und Brauntönen entführt er den Betrachter in die tunnelartigen Straßenschluchten Berlins zwischen zwei Weltkriegen. Die Gewalt gärt in diesen Jahren in Form von organisierter Kriminalität, Korruption und einer Häufung von Serienmördern, meist sexuellen Urspungs. Kürten, Denke, Haarmann – sie inspirierten Leierkastenlieder und Kinderverse und leben so im kollektiven Gedächtnis als beängstigende Schreckgestalten weiter. Halbdunkel beherrscht Muths beklemmenden Zeichnungen, die Fotorealismus mit Expressionismus vereinen. Mit Freunden, Verwandten und Fremden inszenierte Jon J. Muth die Szenenbilder, um sie abzulichten. Die so entstehende Fotostrecke verwandelte er durch Überzeichnen in eine surreale und dennoch bestechend wirkliche Schattenwelt. Jeder kann der Kindermörder sein. Die kollektive Paranoia bleibt erschreckend in Langs Film und Muths Comicroman. Gut und Böse, Schuldig und Unschuldig verblassen zum gleichen sepia-grauen Farbgefüge im Gassenlabyrinth, welches gleichzeitig ein Trieblabyrinth ist: Des Tötungstriebs des Mörders und des Tötungstriebs der Gesellschaft, krimineller und rechtsstaatlicher, gegenüber dem Täter. Nicht zufällig untertitelte Filmregisseur Fritz Lang seinen Vorreiter des Thrillers “Eine Stadt jagt einen Mörder”, nicht “sucht einen Mörder“. “M” schildert eine doppelte Verfolgung: die des Täters von Kindern und die der Ober- und Unterwelt von ihm, dem Kindermörder. In Langs und Muths “M – Eine Stadt jagt einen Mörder” heißt er Hans Beckert. Tatsächlich hat er viele Namen: Mumus, Bogeyman, Monsieur du Garnier, Schwarzer Mann. In seinem ausführlichen Vorwort spürt der Filmkritiker Georg Seeßlen der Schreckgestalt nach, über die jeder einen Kinderreim kennt. Die Kinderverse, in welchen er überall auf der Welt auftaucht, wissen um das Grundprinzip seines Zuschlagens. Den bunte Ball, einer der vereinzelten mahnenden Farbkleckse in Jon J. Muths “M – Eine Stadt jagt einen Mörder”, zeigt die Einbandinnenseite. Ein dunkler Abgrund, der den Fänger verschlingen wird. “Du bist raus.” Dich holte der Schwarze Mann. Die anderen sind davongekommen, bis zur nächsten Runde.

„Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?“
“Niemand, niemand!”
“Und wenn er aber kommt?”
(Kindervers) 

Das grausige Fangspiel kann nicht aufhören in “M”. “Will nicht, muss!”, schreit der Täter vor dem Unterwelttribunal, vor welches ihn die Meute Krimineller im abschließenden vierten Buch von “M – Eine Stadt jagt einen Mörder” zerrt. Die Schuldfrage hängt über dem Gesamtwerk Film-Bilder-Roman. Die Szenen erschließen, weshalb die Nazis Langs Kriminalfilm als subversiv empfanden. Der Verbrecheranführer “der Schränker“ schlüpft in Muths Comic einmal in Polizeiuniform. Wie in Langs Film verknüpft Parallelmontage die Kriminellenberatungen mit den polizeilichen. Die Jäger entmenschlichen den Täter als “Bestie”, “Monster”, als einen sozialen Schadfaktor, den es auszurotten gilt. Darin, in der erbarmungslosen Verfolgung des Mörders und in der symbolischen Brandmarkung mit einem weißen Kreide-“M” erinnert “M – Eine Stadt jagt einen Mörder” beunruhigend an die wenige Jahre nach Erscheinen des Kinofilms einsetzende Menschenjagd der Nazis. Noch jungenhafter als der auf der Kinoleinwand brillant von Peter Lorre verkörperte Filmmörder sieht Muths Tätergestalt aus. Ein kindergesichtiger Kindermörder, der wie die Kinder das Mörderlied, seine eigene Melodie aus Griegs Oper “Peer Gynt” summt. Mehrer Seiten widmet Jon J. Muth allein Beckerts verzweifelter Verteidigungsrede, in welcher er sich auf seinen inneren Zwang beruft. Die grausige Leerstelle des Töters hat ein Gesicht erhalten, unschuldig und alltäglich aussehend. Im Augenblick größter Bedrohung versetzt Muth den Leser in die Täterperspektive, macht ihn zu dem in die Enge getriebenen “Hund”, wie Beckert von den Kriminellen genannt wird, den man “totschlagen” solle.

“When everybody ´s sound asleep
I ´m out there right now with my midnight creep
Yes, I ´m a back-door man
The men don ´t know but little girls understand”
(Howlin ´ Wolf)

“Mord” (21), Razzia” (67), “Die Jagd” (113)  und “Der Prozess” (155) betitelte der Künstler Muth auf insgesamt 208 Seiten die vier Kapitel seiner grafischen Novelle. Eine subtile Veränderung der Filmvorlage, wie die charakterisierende Szene, in welcher ein Brief einer Kollegin den Mörder Beckert einfühlsam anspricht. Der “liebe Hans“ ist er im Brief, dem seine Vermieterin nichts Böses zutraut. In besonderer Weise findet Muth  für die wortlosen Momente des Schreckens in “M -Eine Stadt jagt einen Mörder” eine kongeniale Bildersprache. Ein menschenförmiger Luftballon fliegt wie eine Kinderseele in eine Stromleitung. Das Taschenmesser des Mörders durchschneidet einen roten Apfel, ein Lockgeschenk an ein Mädchen, wie Menschenfleisch. Eine besondere Funktion nehmen die sparsam verteilte Farbe sowie die Noten auf den Notenlinien innerhalb der Abbildungen ein. Wecken die erdbraunen Noten in Verbindung mit dem leicht geöffneten Mund auf Seite 91 noch die Assoziation an die Melodie, die im Kopf hämmert, wie die Geste auf der selben Seite zeigt, so werden sie auf Seite 94 zu den Blutstropfen, die der Blinde schon imaginiert, erkennt er doch in der Melodie den Mörder der Elsie Beckmann, den es nun zu verfolgen gilt. Hat man ihn auf Seite 97 im Visier taucht erstmalig und einmalig Scharlachrot auf, überdeckt von den grafisch angeordneten 20 Messern in Überbelichtung, die sofort suggerieren: viele, viele Messerstiche. Ein Blickfang wie von einem Werbeplakat auf Seite 88 der angebissene leuchtend grüne Apfel, wieder über den Notenlinien, über die ein derber Männerschuh hinwegschreitet. Muth kürzt die ausgedehnte filmische Täterverfolgung und steigert die Spannungskurve bis zur Konfrontation zwischen Verbrecher und Verbrecherorganisation. Im Konflikt um Vergeltungsausübung von Polizei und Verbrechern erscheint Beckert seltsam unschuldig. Beckert verabscheut, was er tut. Der Mörder will als einziger nicht morden. Dies ist das paradoxe Ende von „M“.

Die Sinnlosigkeit der Selbstjustiz verdeutlichen die abschließenden Worte der Mütter. Parzenartig sitzen drei Mütter in Trauerkleidung vor dem Gerichtssaal. „Man muss halt besser aufpassen auf die Kleinen.“  Die Worte sind trauriger Widerhall der Vergeblichkeit. Soviel „besser aufpassen“, dass niemals dem Kind etwas geschehen könnte, ist unmöglich. Es hieße, keine spielenden Kinder mehr auf Höfen, auf Spielplätzen, nirgends. Noch intensiver als Fritz Lang in seinem Kinofilm konzipiert Jon J. Muth den Täter als Leerstelle. Ein Synonym für Furcht, welches selbst von Furcht vor der Entdeckung und dem inneren Unhold getrieben wird: “Da ist einer hinter mir her. Das bin ich selber.” Auf einer Triebtäter auflistenden Krankenakte erhält der Mörder erstmals einen Namen. Hans Beckert steht zwischen “Froedrich Nietzsche” und “Edward Gein Housen”. Die Adresse im Comic ist 66 Sechs Straße, 666. Ein schwarzhumoriger Seitenhieb Jon J. Muths auf den realen Serienmörder Ed Gein. Den Schwarzen Mann gibt es überall, manchmal bleibt er unerkannt, manchmal erhält er eine bürgerliche Identität.

Heute könnte sich die beklemmende Handlung ähnlich abspielen. Im Wechselspiel zwischen Sachlichkeit und Verfremdung erinnert die molochartige Betonlandschaft in Jon J. Muths Zeichnungen an eine moderne Metropole. Mit seinen unvergesslichen Bildern ist Muths “M – Eine Stadt jagt einen Mörder” ein Brückenschlag zwischen dem Klassiker von 1931 und der Moderne. Der Comic ist ein verstörender Bilderroman von ungeahnter erzählerischer Tiefe und visueller Ausdruckskraft. Symbolistische Motive transportieren den fast dokumentarischen Bildinhalt auf eine psychologische Ebene. Kinder huschen in „M“ durch Strassen, schlendern vor Schaufenster, singen in Hinterhöfen zu Beginn von Muths „M“. Am Ende sind sie bis auf eine schaurige Opfervision des Täters abwesend. Die Stadt hat sie gefressen, der schwarze Mann hat sie geholt. Wie der Kinderreim haftet das atmosphärische Werk Muths im Gedächtnis, um bei jeder erschreckenden Zeitungsmeldung leise anzuklingen. “Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht rum. Fängt er mich, fängt er dich”¦”

Autor und Zeichner: Jon J. Muth, Titel: M – Eine Stadt sucht einen Mörder, Verlag: Cross Cult, erweiterte Neuauflage 2009

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