Weissflog, Geschichten meines Lebens – 17 Millionen Einwohner und davon 17 Millionen Aufpasser?

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Dies trifft auf „Jens Weißflog – mein Leben“ nicht zu. 50 ist er in diesem Jahr geworden. Zeit, als einer der erfolgreichsten Skispringer weltweit schon mal das Gewesene Revue passieren lassen.

Auch passt das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls zur Buch-Herausgabe.

Denn der „Floh vom Fichtelberg“ hat ein Alleinstellungsmerkmal – hat sich für zwei Staaten von den Schanzen gestürzt. Kennt Leben und Erfolge in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Ist  Olympiasieger/Weltmeister/Sieger der Vierschanzen-Tournee für die DDR und dann nach deren Angliederung an die Bundesrepublik Deutschland auch für die BRD geworden.

Eine andere Besonderheit ist, dass Weißflog auch die „Revolution im Skispringen“ – die Umstellung vom Fliegen mit paralleler Skiführung zum V-Stil – als einer der wenigen erfolgreich gemeistert hat. Als einer von weltweit vier Athleten war er sowohl Gewinner der Vierschanzen-Tournee (vier Mal/Ahonen inzwischen 5 x), wie auch Weltmeister (3x), Olympiasieger (3x) und auch Weltcup-Gesamterster!

Talent, Ehrgeiz und Bodenständigkeit sind die drei Säulen, auf denen seine Karriere aufbaut.

Sein Talent zeigt sich früh. Mit 13 kommt der schmale Junge aus dem kleinen Plöha (Erzgebirge) auf das Talenteinternat Kinder- und Jugend-Sportschule Oberwiesenthal. Wird Gewinner der Spartakiade, dem DDR-Talentesieb, und mit 15 (!) in den Kreis der DDR-Nationalmannschaft berufen. Mit 19 gewinnt er überraschend olympisches Gold in Sarajevo.

Sein körperliches Talent erweist sich eindrucksvoll bei Sprungkraft-Tests ohne Ski. Mit 1,70 m und 55 kg hatte er ideale Voraussetzungen in der Ära der Springer-Leichtgewichte. Seine mentale Stärke, pädagogisch klug geführt von Trainer Joachim Winterlich, etabliert er sich fest in der Weltelite. Dokumentiert durch insgesamt 33 Weltcupsiege. Damit ist er national unerreicht. Martin Schmitt folgt mit 28.

Mit Hilfe des Wiener Journalisten Egon Theiner zeichnet Weißflog – nicht chronologisch – seine wichtigsten sportlichen Stationen nach.

Siege, Niederlagen, emotionale Höhen und Tiefpunkte.

Dem Österreicher Theiner ist es wohl auch mit zu verdanken, dass der Wende-Gewinner Weißflog nicht dem aktuellen Mainstream des eindimensionalen Rückblicks auf die verflossene DDR folgt.

"Mein Ehrgeiz, der war nicht staatlich verordnet. Der war und ist drin in mir", sagt er beispielsweise. Oder: Wer in der DDR nicht gegen das System kämpft, lebt relativ normal.

Seine Eltern – Angestellte in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) – kämpfen nicht. Und lassen sich als Mitglieder der hier und heute oft verteufelten SED gewinnen. Warum soll es ihnen der junge Spitzensportler Weißflog – für den SC Traktor Oberwiesenthal und für die DDR startend – nicht gleich tun?

Er hat"eine Kindheit wie auf dem Bauernhof, treibt unter ehrenamtlichen Übungsleitern Sport, kommt aufs Internat. Entwickelt seine sportlichen Fähigkeiten und erhält parallel eine Ausbildung zum Elektromechaniker…

Weißflog, der heute vor allem ein Hotel in Oberwiesenthal betreibt, bekundet, ein Problem zu haben, dass die DDR seit der Wende "derart negativ dargestellt wird". Nach manchen Talkrunden oder Podiumsdiskussionen "denke ich: Aha, die DDR hatte 17 Millionen Einwohner und davon waren 17 Millionen Aufpasser".

Man berücksichtige nicht die Lebenswirklichkeit und nicht, dass die kleine DDR und ihr System in die globale Ost-West-Konfrontation eingebunden waren.

Zum Thema Doping bestätigt er, dass auch im Skisprung Präparate und Medikamente im Umlauf waren. Deklariert als Vitamin- und Mineralienbeigabe. Mit Kollegen Ulf Findeisen habe er sich geweigert, Dopingmittel zu nehmen. Die berühmt-berüchtigten blauen Tabletten Turinabol (anabole Dopingwirkung) habe er nie zu Gesicht bekommen. Jene hatten als Nebeneffekt auch eine Gewichtszunahme, was weiten Flügen von der Schanze in jener Ära nicht förderlich war.

Seine großen Siege nach 1990 unter strengeren Kontrollauflagen bezeugen indes, dass das Ausnahmetalent Weißflog seine Erfolge nicht dem einseitig der DDR zugeschriebenen Dopingsmissbrauch zu verdanken hat.  

Im Gegensatz zum füheren DDR-Skisprung-Star Hans-Georg Aschenbach, der noch vor Mauerfall seine Familie im Stich ließ und allein im Westen blieb (seine Horrorstories über den DDR-Sport dann versilberte), habe er nie gedacht, die Familie/Heimat nach dem Mauerfall zu verlassen. Obwohl er lukrative Angebote von Westvereinen erhielt, wollte er auch seinen Trainer und Mentor Joachim Winterlich nicht verlassen.

Bei der Vermarktung hatte Weißflog nicht die Aura und den Erfolg des von ihm bewunderten Fußball-Kaisers Franz Beckenbauer. Obwohl sich dessen Manager Robert Schwan auch des kleinen Sachsen diesbezüglich widmete.Als ZDF-Experte entwickelte sich Weißflog, dem zu DDR-Zeiten der verbale Kontakt mit den Medien schwer fiel, indes auch rhetorisch in bemerkenswerter Weise.

Ähnlich wie Beckenbauer hat der Schanzenkönig vom Fichtelberg erst nach mehreren Anläufen die richtige Lebenspartnerin gefunden. Und ist bei allen vier Kindern mit drei Frauen um gute und herzliche Kontakte bemüht.

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Weissflog – Geschichten meines Lebens, Von Jens Weissflog mit Egon Theiner, ca. 304 Seiten, schwarz-weiß, mit 4c-Bildstrecken, Format 14 x 21 cm, egoth Verlag GmbH, Wien 2014, ISBN: 978 – 3-902480-94-1, Preis: 24,90 EUR

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