Warum der Kindsmörder Magnus Gäfgen nach den Folterdrohungen Schmerzensgeld erklagen „muss“

Der Polizeivizepräsident Daschner und ein weiterer Beamter sind deswegen schon vom Dienst suspendiert und zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Die unteren Gerichtsinstanzen lehnten die Schmerzensgeldklage ab und verwiesen auf eine Traumatisierung infolge des Verbrechens, wurden aber vom europäischen Gerichtshof zur Revision zurück gewiesen. Dieser bizarre Fall macht den Gerichten viel Kopfzerbrechen. Die Folterandrohung war als Mittel eingesetzt worden, weil noch gehofft wurde, den Jungen lebend vorzufinden.

Ich habe Magnus Gäfgen nicht gesprochen und untersucht und bin nur auf meine Erfahrungen und Gedanken angewiesen. Nimmt man Gäfgen und seinen Fall aus tiefenpsychologischen Erwägungen ernst, fragt nach den Hintergründen und Zusammenhängen und versucht diese zu verstehen, ergeben sich andere und neue Perspektiven. Verständnis heißt nicht Akzeptanz. Es bleibt immer noch ein fürchterliches Verbrechen.

Offenbar hat Gäfgen sein Verbrechen als Verbrechen völlig verleugnet. Aber wahrgenommen haben wird er wohl in traumatisierender Weise die Ächtung durch die Gesellschaft, sogar im Knast, seine lebenslange Haft und seine verlorenen Zukunftschancen, vor allem bei einem Menschen, der so existentiellen Wert auf äußeren Glanz und Schein legt. Ich nehme an, hätte er seine Untat als Verbrechen realisiert, wäre er durch sein Verbrechen derart traumatisiert, dass er erheblich suizidgefährdet wäre. Insofern garantiert die Verleugnung seines Verbrechens sein Überleben, und die bisherigen Gerichtsentscheidungen haben aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmung beim Hinweis auf den Grund der Traumatisierung unrecht.

Der Fall ist auch deswegen interessant, da Gerichte normalerweise auf die Wahrnehmung und den Rechtsstandpunkt des Verbrechers in keiner Weise eingehen, sondern sich nach der Rechtsordnung richten, die in derartigen Fällen auch der Rechtsstandpunkt eines Großteils der Bevölkerung ist. Auch deswegen ist der Fall interessant, da an ihm gut die Unterschiede in der Wahrnehmung einer massiven Persönlichkeitsstörung zu einer gesunden Persönlichkeit mit einer Rechtsauffassung nach der Rechtsordnung zu studieren ist. Für den europäischen Gerichtshof ist der Knackpunkt die im Völkerrecht verbotene Folterung. Gäfgen wurde aber gar nicht gefoltert, sondern diese nur angedroht. Für einen ängstlichen Menschen, der er trotz und gerade wegen seines blasierten und egozentrischen Auftretens, der von seinem Opfer wie von einem Objekt und nicht einem Menschen spricht und fürchten muss, dass sein Lügengebäude zusammen bricht, ist allein die Androhung der Folterung gleich zu setzen. So als ob er gefoltert worden wäre, gab er deswegen sein Geheimnis preis. Aufgrund der Nichtwahrnehmung seines Verbrechens kann er innerhalb seiner Wahrnehmung und Rechtsauffassung zurecht auf Schadensersatz klagen.

Der Fall erinnert mich auch an den Amokläufer Wagner Anfang des letzten Jahrhunderts. Wagner konnte sich seinen Wahn, dass ihm jeder auf der Straße seine Sodomie ansehe, bis zuletzt nicht eingestehen. Dieser Wahn diente seinem Überleben. Bei einer Realisierung seines Verbrechens hätte er sich vermutlich umgebracht. Als Lehrer und gebildeter Mann hatte er Bücher geschrieben und war von Fachleuten interviewt worden. Andere Amokläufer, die als Rache für ihre vermeintlich innere Schmach töten, bringen sich meist nach den Opfern um oder lassen sich umbringen. Wagner trug die Sodomie als massive Entwertung und Schmach im Selbstbild mit sich herum und blieb lebenslang überzeugt, jeder würde sie ihm ansehen. Dadurch war er traumatisiert, und sein Verbrechen in seinen wahnhaften Augen irgendwo gerechtfertigt. Die grundlegende Traumatisierung, einmal das innere Böse und die Wahrnehmung, jeder sehe es ihm an, muss schon weit vorher in der Kindheit gelegen haben und mit einer tödlichen Wut verbunden gewesen sein, aus der er einen Rechtsanspruch, zwar vermutlich im Affekt, des Mordens ableitete.

Welche Bilder, welchen Makel oder Stigmatisierung mag ein aus einfachen Familienverhältnissen stammender intelligenter und tüchtiger Jurastudent in sich herum getragen haben, der, statt stolz auf seinen Werdegang zu sein, meinte, mit den reichen Söhnen der Stadt Frankfurt in einem finanziell aufwendigen Lebensstil mithalten und die Mädchen blenden zu müssen? Die Inhalte kenne ich nicht. Seine selektive Wahrnehmung war, nicht seinen Erfolg zu sehen, sondern ausschließlich seine Schmach und Schande und als Ausgleich beansprucht er den Glanz der Reichen. Irgendetwas musste er in grandioser Weise kompensieren und eine tödliche Wut in sich herum getragen haben. In der Kompensation sah er und sieht noch heute als Wiedergutmachung einen Rechtsanspruch. Dieser Rechtsanspruch ging sogar soweit, dass er Entführung und Erpressung für gerechtfertigt ansah und in seiner tödlichen Wut sogar sein Opfer ermordete. Auch im Gefängnis dringt er noch beharrlich auf Wiedergutmachung. Tief in seinem Inneren muss er sich immer noch entwertet und irgendwo und irgendwie zutiefst ungerecht behandelt fühlen.

Da ich es nicht weiß, kann ich nur Rückschlüsse aus sonstigen Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen ziehen. Der häufigste und krankmachende Weg einer traumatischen Kindheit ist infolge der Verinnerlichung der frühen Objekte, meist der Eltern, und der Aggression gegen diese die Autoaggression. Autoaggression deshalb, weil die Eltern in der eigenen Person stecken und sich die Wut infolgedessen gegen die eigene Person richtet. Dabei werden nach außen die guten Beziehungen gewahrt, und die Aggression mit sich selbst ausgemacht. Durch die kulturell bedingte auf Äußeres ausgerichtete „gute“ Erziehung sind insofern Krankheiten ein Kulturprodukt.

Bei Persönlichkeitsstörungen ist das anders. Sie lassen andere leiden, sozusagen als Wiedergutmachung oder Rache für ihr eigenen Leiden. Oft wechselt sich beides ab oder vermischt sich. Der Depressive, Schmerzkranke oder der Alkoholiker im Rausch lassen gelegentlich ihre Aggressionen heraus. Wenn sie diese akzeptieren können und sich die Ursachen und Zusammenhänge klar machen, sind Schmerz und Depression gebessert, wenn nicht, verstärkt sich ein unheilvoller Teufelskreis von Schuld, Scham und Krankheit bis zum Suizid.

Von Angstkranken weiß ich, dass sie meist glauben, man würde ihnen ihre Angst, ihren Makel und ihre Schwäche ansehen, tun alles, um das in einem Gegenbild von Stärke und Souveranität zu verbergen und sind dann immer noch erstaunt, wenn man ihnen nichts ansieht. Mancher Angstkranke erzählte mir, die Öffentlichkeit ist für ihn wie ein Spießrutenlaufen, kein Wunder, dass sie sich manchmal in der Wohnung verkriechen. Infolge ihrer inneren und oft genug äußeren Entwertungen erleben beispielsweise Arbeitslose und Hartz4-Empfänger eine unglaubliche Belastung, stehen unter stärkerem Druck, als wenn sie arbeiten würden. Dermaßen entwertet zu werden, erzeugt in ihnen Aggressionen. Eigentlich ist die Angstkrankheit noch mehr als die Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung die Angst vor der eigenen Wut. Die Angstkranken müssen schon in ihrer Kindheit verinnerlicht haben, dass ihnen ihre Entwertung angesehen wird. Die Angstkrankheit mit ihren körperlichen Formen ist eine der häufigsten Erkrankungen. Der Übergang zur Depression ist fließend.

Ein weiteres Beispiel für die Macht der in dieser Weise wahrgenommenen Zwischenmenschlichkeit: 80% der Psoriatiker (Schuppenflechte, dritthäufigste Hauterkrankung) glauben, die Anderen glauben, sie selbst haben eine ansteckende Krankheit, 50% glauben selber noch, sie haben eine ansteckende Krankheit. Im zwischenmenschlichen Bereich derartig stigmatisiert und gemieden zu werden, erzeugt bei ihnen Wut, die als Hautausschlag nach außen sichtbar körperlich gebunden hervor tritt.

Viele stürzen sich in Schulden, um ihren Erfolg und Status in der Umwelt zu zeigen und müssen immer Angst haben, ihre Hochstapelei komme heraus oder werde durchschaut. Der äußere Glanz dient der Absicherung der Entwertung. Magnus Gäfgen ist so jemand, trägt dazu noch eine tödliche Wut in sich herum und kämpft für seine Wiedergutmachung. Die Höhe seines Geltungsanspruches in Geld, eine Million, steht im Verhältnis zur Tiefe seiner inneren Entwertung. Diese Wut wird seinen Primärbeziehungen entstammen, wo er entwertet, durchschaut, ihm das Böse angesehen wurde, und er mit allen Mitteln als Ausgleich auf Wiedergutmachung sinnt, früher in einer blendenden Welt, wo ihm sogar eine Millionenerpressung in seinen Augen zustand. Ohne diese Voraussetzungen wäre das spätere Verbrechen kaum möglich.

Die spätere Welt, auch heute noch im Gefängnis, soll seine frühkindlichen Traumatisierungen wiedergutmachen, um sein Selbstbild zu stabilisieren und korrigieren. Durch seine übersteigerten Rechte und den äußeren Schein sucht er seine innere Entwertung und sein inneres Unrecht auszugleichen und zu übertünchen. Seine Ängste macht er an der Folterdrohung fest. Jedoch bedeuten für ihn die Haft und Strafe eine erneute Traumatisierung, aus der er in einem Kreislauf erneute Rechte für sich beansprucht. Dass es ausgerechnet die hoch angesehene Frankfurter Familie von Metzler traf, hängt mit seinem Neid und der Vergeltung auf ihr Erfolgssymbol zusammen.

In milderer Form finden sich Verbrechen und ein fehlendes Unrechtsbewusstsein in den honorigsten Kreisen. Millionäre bringen ihr Geld in Steueroasen, Banker streben auf Kosten der Allgemeinheit nach dem schnellen Profit. Im Gesundheitswesen wird ebenfalls der schnelle Profit gesucht auf Kosten der Kranken und im Rechtssystem noch unterstützt. Vieles davon wird Gäfgen bekannt sein, und er gewinnt auch wie viele andere aus diesen Tatsachen seine Rechtfertigung „wenn die das machen, warum soll ich nicht auch!“. Welche inneren Entwertungen müssen diese Menschen in sich herum tragen, wenn sie nicht mit Reichtum und äußerem Glanz kompensieren können.

Achtung für sich und für andere wird Gäfgen kaum kennen gelernt haben. In seiner vermutlich wahnhaften Persönlichkeitsstörung hat er sein Verbrechen für sich wohl kaum realisiert. Das wäre auch sein Tod. Im Kampf um Wiedergutmachung und Schmerzensgeld haben sein Kampf im Gefängnis und sein Leben noch einen Sinn.

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