Von Lauterbach nach Eggesin, oder was vom Osten übrig blieb – Romane aus ostdeutscher Feder

So beginnt der Tag, den sich Emma Braslavsky und ihr als Ich-Erzähler fungierender und bereits verstorbener Held Herbert für ihre trügerische Geschichte ausgesucht haben. Doppelsinniger kann kaum ein Roman beginnen. Vergnügt schmettert uns die Autorin in ein Sinnes- und Geschichtengemetzel, das sich über beinahe 400 Seiten lang austobt und den Leser unentwegt in Atem hält. Der Tag des Karnevalsbeginns in einer thüringischen Kleinstadt ist ein besonderer Elfterelfter, ein ebenso närrischer wie trister. Staatstrauer und Karnevalsbeginn trafen an diesen Novembertag 1982 zusammen, da der Genosse Breschnew am Vortag verstarb, ebenso wie die Mutter der acht Geschwister, die sich versammeln, um sie zu Grabe zu tragen. Die ganze Zeit sieht der Leser einen Film vor sich, in turbulenten Szenen schildern die über-lebenden sieben den Ablauf dieses einen Tages, wie sie sich an ihre Mutter Elfriede Stamm-Bluhme erinnern und sich in „Mutmaßungen über die Großmutter“ auch noch deren Leben und rätselhaftes Verschwinden ausmalen. Der titelgebende Traum von einer Überfahrt nach Amerika begleitet die illustre Schar auf ihrem Marsch nach Bischofsroda, ebenso der blaugefiederte Wellensittich Cowboy, der schießen und pfeifen kann – natürlich Westernmelodien. Der Geschichte sei nichts vorweggenommen, nur so viel – eine der Schwestern entspringt einem früheren Roman der Autorin, der 1969 in Erfurt spielt. Eben dort wuchs die Autorin selbst auf, von dort machte sie sich auf in die Welt.

Der komplexe Roman Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik steckt voller überraschender Einfälle und urkomischer Details. An einer Stelle morst es aus dem Sarg im Takt des Liedes „hörst du die Regenwürmer husten“, taucht ein altes Fußskelett auf und jemand ertrinkt in Kartoffelsuppe. Ganz nebenbei schimmert die ostdeutsche Realität der frühen Achtziger durch, sanft wie ein grauer Schleier über all dem knalligen bunt und blau. Emma Braslavsky liefert ein gelungenes Drehbuch für eine ostdeutsche Familiensaga, das zurückreicht bis in die frühen Jahre des letzten Jahrhunderts und weiter leuchtet bis hinaus auf den Atlantik, dessen Himmel vielleicht auch andere Farben zeigt. Rot und grau und gelb, oder violett?

Fazit: sehr zu empfehlen, sofort verfilmen!

„Als Kind hatte ich oft das Gefühl, zu spät geboren worden zu sein, sogar als allerletzte. Die Porträts des Staatsoberhauptes in den öffentlichen Gebäuden hingen immer schon so, der Frieden war ein ewiger, der Mittag hörte nicht auf.“ Wunderbar fügt die Autorin in diesem feinen Buch einen lebensprallen Sprachsplitter an den anderen, so schön haben wir das selten gelesen! Auf knappen 150 Seiten breitet Julia Schoch „Mit der „Geschwindigkeit des Sommers“ eine Kindheit in einer mecklenburgischen Kleinstadt aus, die keine gewöhnliche ist. Weder die Kindheit der Ich-Erzählerin noch die Kleinstadt. Zu DDR-Zeiten kursierte über den berüchtigten Ort der Sinnspruch „Waldmeer, Sandmeer, gar nichts mehr“ – und tatsächlich, außer der Grenze zum polnischen Nachbarn und endlosen Wäldern hatte Eggesin wenig zu bieten – berüchtigt war es für seine Truppenübungsplätze und Kasernen der NVA. Bis zu 27 000 nach Eggesin Einberufene verbrachten ihren Dienst bei der Volksarmee fast ausschließlich in Wäldern und Sandlöchern, von lächerlich wenigen Urlaubstagen abgesehen. Das zweifelhafte Glück, Kind eines der dort stationierten Offiziere zu sein und in einem „Buckelhaus“* aufzuwachsen, hat Julia Schoch nicht nur traumafrei überstanden, sie transformierte die Bilder und Gerüche, Blicke und Augenblicke dieses Leben in verdichtete Prosa. Es geht um die Schwester der Ich-Erzählerin. Und den Soldaten. „Sie haben diesen Treffen nie einen Namen gegeben. Haben nicht: Verhältnis oder Affäre gesagt. Sie besprachen, etablierten nichts. Mit den Jahren allerdings beanspruchte sie die Lust auf ein Zusammensein mit ihm fast trotzig. Es ging nicht um Schuld.“ In knappen Sätzen wird die Geschichte einer heimlichen Liebe abgehandelt, dem Verlust einer Kindheit, eines Landes, einer Hoffnung. Ein letztes Gespräch. Etwas ging allein seinen Weg. Ein Abschied. „Als seien die Menschen schon nicht mehr nötig“. Nichts ist sicher bei Julia Schoch, aber jeder Zweifel sitzt. Sticht. Und hallt nach. „Vielleicht. Es scheint. Ich nehme an.“

Wenn bei anderen Romanen hunderte Seiten problemlos gestrichen werden könnten – hier wünscht man sich mehr!

* Buckel leitete sich von der Abkürzung BU ab, bezeichnete zunächst die Berufsunteroffiziere,

aber auch für alle Berufssoldaten genutzt, später dann für nervende Kontrolloffiziere

und -fähnriche, Buckelhaus=Wohnhaus der Offiziere, meist Neubauwohnblocks

Emma Braslavsky, Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik, Roman, 390. S., 2008, Claassen Verlag, Berlin, 19.90 €

Julia Schoch, Mit der Geschwindigkeit des Sommers, Roman, 149 S., Piper Verlag 2009, München Zürich, 14,95 €

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