Vom Traum zum Alptraum – Das Centre Pompidou führt in Paris „Dreamlands“ vor

Manit Sriwanishpoom, Pink man in paradise, Sacré-cÅ“ur, 2002-2003, Photographie, 80cm x 120 cm, Galerie VU’, Paris

Tatsächlich war dies amerikanische Traumland für einige Jahre die Sehnsuchtsverkörperung der Menschen, die eine Architektur mit den technischen Errungenschaften der Zeit koppelte und die überschaubarer gewordene Welt anhand ihrer sichtbaren Besonderheiten als Kopien in einen Vergnügungspark sperren konnte, so daß Vater John, den Sohn Jim an der Hand, die Großeltern im Schlepptau jedem das Seine bot und die Gattin sich mit ihren Freundinnen auch noch dabei vergnügte. Das Prinzip „Vergnügungspark“ koppelt nun diese Ausstellung mit den wirklichen Zukunftsvisionen von Leben in den Städten der Gegenwart, die auf dem Reisbrett entworfen, retortenhaft aus dem Boden gestampft werden. Buchstäblich übrigens muß der Boden erst gestampft werden, dann nämlich, wenn solche Städte den Wassern der Erde abgetrotzt werden, wie es der eigene Ausstellungsraum über und von Dubai besonders eindrucksvoll – und furchterregend – vorführt.

Folgen wir dem Ausstellungsparcour, der nach der Erinnerung an das historische Dreamland richtigerweise noch weiter zurückgeht und uns mechanisches Spielzeug vorführt, das so allerliebst in bemaltem Blech auf Schienen gesetzt wurde. Es war die Biedermeierzeit, die erst die Kindheit als eigene gesellschaftliche Größe entdeckte und auch in Bilderbüchern und Spielzeug der Idee Form gab. Hierzu gehört auch das mechanische Theater und all die liebevoll konstruierten Halbmaschinen, mit denen man Kindern eine selbsttätige Welt vorgaukelte, wobei man aber noch heute spürt, daß sicher die Erwachsenen das meiste Vergnügen daran hatten.

Ebenso die Künstler. Denn insbesondere die Surrealisten gaben der Phantasiewelt neuen Stoff. Auch Salvador Dali und das nicht nur durch seine Malerei. Im gleichen Atemzug mit den Vergnügungsstätten der Zeit und ihren technischen Spielereien muß man nämlich die Weltausstellungen nennen, die in der gleichen Weise Zukunftsvisionen mit Sehnsucht und den architektonischen und technischen Möglichkeiten ihrer Zeit koppelten und neue visuelle Vorstellungen implantierten. Immer weiter, immer höher, immer toller. Aber auch immer absurder. So ist es folgerichtig, daß Dali es war, der auf der Weltausstellung von 1939 in New York einen eigenen Ausstellungspavillon errichtete: der Traum der Venus. Was uns eher an den Venusberg erinnert, in dem es spukt und das Unterste zuoberst gekehrt wird, wird von Dali als an Gaudi erinnernde amorphe Masse – in den Fotografien glaubt man Zementgebilden mit Höhlen und Augen und Nasen und Zähnen zu sehen – gestaltet, in der sich die Menschen ihre Dosis Erotik oder Grauen oder Lachen oder Weinen abholten.

Herrliche Exponate kann man sehen und die sich wiederholenden Filme aus dem Tanzspektakel „42nd Street“ von 1933 ziehen besonders die Zuschauergruppen an. Mit Recht. Denn was hier beineschwingend und im gleichen Takt an Massenbewegung auf New Yorks Straße abgeht, ist so durchschlagend, daß man die Tanzbewegungen der Zuschauer schon sieht und wie sie diese unterdrücken, denn die Musik ist derart auffordernd und das (gute) Vorführbeispiel von einer Verführbarkeit, daß nur die großstädtische Hemmung die Leute zurückhält, wie im Mittelalter bei den Veitstänzen mitzumachen, von denen man ja heute weiß, daß sie durch das Mutterkorn verursacht waren und eigentlich zwang- und krampfhafte Verrenkungen waren, die als teuflischer Tanz interpretiert wurden– so mancher konnte nicht mehr aufhören und kam ums Leben. Herrlich auch die Installation „Nothing stops a New Yorker“ 2005-10 von Malachi Farrell, wo inmitten einer Pappmüllandschaft schmale Hochhäuser aus Pappe aufragen, die an den Seiten durch Elektromotoren gesteuerte abgewinkelte Ärmchen haben, mit denen sie im Takt gymnastische Übungen vollführen, so wie es die Fernsehmatadorinnen wie Jane Fonda einst mit Aerobic vormachten.

Dies alles ist aber nur die Folie vor den echten Retortenstätten der Welt, wo ein Hochhaus ans andere gepflanzt wird und Autobahnen nicht mehr Fahrstrecken sind, sondern wie ein Planetensystem im Weltall die Städte durchschneiden, strukturieren und für Fußgänger untauglich machen. Dies am Beispiel Dubais zu erleben, ist für die, die diese künstliche Stadt zwischen dem Gesicht am Meer und dem Rücken zur Wüste nicht kennen, genauso informativ, wie für die, die sie erlitten haben. Wie in einer Schönheitsoperation werden derzeit nicht die Falten Dubais entfernt, sondern das Gesicht wird ausgeweitet, weil Dubai künstliche Inseln im Meer aufschütten läßt, die von oben gesehen einen Palmwedel ergeben oder eine Weltdarstellung in dem gigantomanischen Projekt, auf dem Meer in Form von Inseln den Globus mitsamt den Erdteilen nachzuahmen. Es stockt einem der Atem.

Die Welt von heute dagegen haben vor allem deutsche Fotografen in grellen Farben abgebildet. Das fällt im Centre Pompidou sehr auf, über wie viele Fotokünstler von Weltrang Deutschland verfügt: Thomas Struth, Martin Paar, Alexander Tinschenko, Thomas Weinberger und der Österreicher Reiner Riedler. Überhaupt die Künstler. Zwei sind es, die von ganz anderer Warte aus und weit voneinander entfernt sich ihren Reim auf die Städte und die Existenz von heute in ihnen gemacht habend. Das ist sarkastisch und komisch Bodys Isek Kingelez aus Kinshasa mit seinen knallbunten Nachbildungen einer Stadt, die sich jeder wünscht, vor allem jede Verkaufsindustrie. Und das ist mehr als melancholisch Liu Wei mit einer Arbeit von 2009 „Love ist! Bite it“, in der er aus dem Material für Kauknochen für Hunde eine Totenstadt wie aus verblichenem Pergament errichtete.

Gespenstisch, wie die ausgehöhlten Gebäude von nachgeahmten Touristenattraktionen der Welt – wie zum Beispiele dem Kollosseum in Rom – in einem Farbton eine äußere Hülle zeigen, wo man innen abgestorbenes Leben erkennt. Dies sind nur zwei Modelle von „Städten“, in denen Künstler auf unsere Zeit reagieren, die insgesamt aufzeigen, daß es nicht allzu gut um die Phantasie der Welt steht, wie man miteinander leben sollte im menschenerträglichen Maß. Konnten erstere, die Vergnügungsparks und Weltausstellungen der Vergangenheit, uns ob ihrer Komik und des Augenzwinkerns, mit dem wir mit Kopien und Illusionseffekten uns gerne täuschen lassen, noch lachen machen und die Erinnerungen daran genießen lassen, so sind es die Darstellungen und Phantasien zur gegenwärtigen Welt, die einen frieren läßt. Eine sehr ungewöhnliche und alle Sparten übergreifende Ausstellung, die dem Centre Pompidou gelungen ist und zu der wir gerne sagen: Das ist etwas Besonderes.

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Ausstellung: Bis 9. August 2010

Katalog: „Dreamlands. Des parcs d’attractions aux citès du futur, Centre Pompidou 2010. Der große Katalog bietet die Ausstellungsobjekte vollzählig und versehen mit vielen klugen Essays. In Französisch. Daneben gibt es aber noch einen dünneren Ausstellungsführer, der die wichtigsten Stationen der Schau benennt und abbildet. Dies auf Englisch. Beides zusammen ist eine Erinnerung für immer an die Stätten der Kindheit und an das, was die Welt als Zukunft im Jahr 2010 erwartete.

Internet: www.centrepompidou.fr

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