Vom Nutzen der Biographien anderer für das eigene Leben – Serie: Die letzten Ratschläge für Bücherkäufer, auch nach Weihnachten (Teil 6/10)

Völlig anders, aber ebenfalls bei Wagenbach herausgekommen, ist „Dieses Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Eine Kindheit zwischen 1940 und 1948“ von Ilka von Zeppelin. Die 1936 Geborene ist heute Psychoanalytikerin und geht mit deren Methoden auch den eigenen Erinnerungen auf den Grund. Der Vater ist ein überzeugter Soldat in Hitlers Armee, der Großvater will keine evakuierten ’Nazikinder` in seine fränkischen Burg aufnehmen, hat aber Hermann Göring zu Gast und auch Robert Kempner, den stellvertretenden Chefankläger der Nürnberger Prozesse. Mit den Blicken, den Gedanken und Gefühlen der Zwölfjährigen versucht die Autorin diese Gemengelage zu durchschauen. Ein Dutzendschicksal, nur haben die wenigstens es reflektiert, geschweige denn zu Papier gebracht.

Sehr speziell auch „Mein Leben und Ich. Schweizer Lebensgeschichten seit 1800“ aus dem Limmat Verlag Zürich. Der Verlag beschenkt sich mit diesem Buch selbst zum 30jährigen Verlagsjubiläum. Von den unzähligen Leben, die vor uns ausgebreitet werden, kennen wir nur Friedrich Glauser, Max Frisch, Marcel Lévy und vielleicht eine der Ich-Erzählerinnen. In so viele Leben hineinzutauchen ist ein Unterfangen. Aha, der Schweizer Glauser ist in Wien geboren, 1896 war das, aber schon mit 14 ereilt ihn das Schweizer Landeserziehungsheim Glariseg und obwohl er geliebt wird, kann ihn nichts vor der Depression, den Drogen und den Selbstmordversuchen abhalten. Wie aus einem seiner Romane als Figur konzipiert, stirbt er 1938 am Abend vor seiner Hochzeit. Die gut vier Seiten Niederschrift des eigenen Lebens können den Schrecken zwar zeigen, unter dem er litt, aber die Grundlage nicht nennen. Max Frisch macht das anders. Er führt ein Gespräch mit einem fiktiven Enkel über den Sinn und Unsinn der Schweizer Armee, was damals ein Skandalon in der Schweiz wurde.

Da ist man dann so froh, von Jorge Semprun „Der Tote mit meinem Namen“ aus dem Suhrkamp Verlag zu lesen. Das Buch ist nicht neu, aber die Geschichte darin ist es immer wieder, denn der erste demokratische Kultusminister Spaniens nach Franco hatte Buchenwald überlebt und das Buch handelt nicht vom Sterben, sondern vom Leben. Warum wir es erneut herausholten, hat mit Franziska Augsteins „Von Treue und Verrat. Jorge Semprun und sein Jahrhundert“ zu tun, das bei C.H. Beck erschienen ist und einen mitnimmt in eine Lebenswelt, wo es kein Richtig oder Falsch gab, weil beides tödlich sein konnte, wo aber der innere Kern eines Menschen wie Jorge Semprun ständig aufleuchtet, weil es inmitten von Lügen und Betrügen so etwas wie eine Wahrhaftigkeit aufscheinen läßt, die Jorge Semprun zu einem der wahren Helden des 20. Jahrhunderts werden läßt. Ach, denken wir mit einigem Neid, wer wäre diesem, das Deutsche und die deutsche Kultur so liebenden linksherzigen Humanisten in Deutschland ähnlich? Wir hätten ihn gerne.

Nun schon wieder völlig anders geartet „Du bist mein Augenstern. Was die Zeit aus Ehen macht“, eine interessante Fragestellung, die Ursula und Stephan Lebert im Blessing Verlag beantworten. Hintergrund ist eine Serie in der Frauenzeitschrift Brigitte, die Ursula Lebert in Zeiten über Eheschließungen machte, als diese zugunsten von freiem Zusammenleben nicht angesagt schienen, weil freie Liebe als das Wahre, Ehe als spießig erschien. Ihre 40 Interviewpartner kamen aus allen Schichten, Männer und Frauen und sie hatten durchaus Bammel vor der Zukunft, ob ihre Ehe das halten könnte, was sie sich gemeinsam davon versprachen. Sohn Stephan hat dann 2002 diejenigen interviewt, die seiner Mutter vor 20-30 Jahren Rede und Antwort standen und sie nach der aktuellen Einschätzung ihrer Ehe und ihres Lebens befragt. Zwar kann man allgemein sagen, daß alle Fälle dabei waren: die großen Lieben, die grandios scheiterten, die heute als Bruder und Schwester miteinanderlebenden ehemaligen Liebesleute, die sich durch Gespräche beieinander haltenden Paare”¦ Was am Buch aber faszinierender ist, sind die Einschätzungen der Beteiligten zum eigenen Lebensweg. War und ist die Ehe das, was das Glück bedeutet, hätte es andere Lebensformen gegeben, woran liegt Scheitern, an einem selber oder dem anderen oder oder.

Louis Begley schreibt über „Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe“ aus der Deutschen Verlagsanstalt und meint damit Franz Kafka. Der heutige New Yorker Begley, selbst noch als Kind polnischer Juden 1933 in der Ukraine geboren, entkam den für ihn vorgesehenen Konzentrationslagern und wurde nach seiner beruflichen Karriere als Anwalt in den USA mit „Lügen in Zeiten des Krieges“ ein bekannter Autor, was weitere Bücher stützen. Er fühlt sich durch seinen Lebensweg mit Kafka noch enger verbunden als jeder Literat, der sich als verkannt und ungeliebt und doch eigentlich als Genie fühlt. Er interpretiert Kafka, das sagt er ganz offen, aber diese Offenheit läßt einen auch am Bild, das er von Kafka entwirft, weiterstricken, denn nicht mal, wie einer genau gewesen ist, ist dann das Wesentliche, sondern was ich hineinphantasiere und herauslese, weil das auch etwas über mich selber aussagt. So ist das ein sehr persönliches Buch geworden, das zwei Schriftsteller beim Umgang miteinander zeigt, wobei Kafka das Genie bleibt und Begley sein hingebungsvoller Bewunderer.

„Nietzsche, Cosima, Wagner“, heißt ’das Porträt einer Freundschaft`, was Dieter Borchmeyer im Inseltaschenbuch it 3363 vorgelegt hat. „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zuführt“ schreibt Wagner nach der Grundsteinlegung des Festspielhauses von Bayreuth an den Philosophen. Ach, wie hat Wagner sich hierin geirrt, aber es zeigt eben auch einen rechnenden, einen berechnenden Wagner, der mit Gewinn umgehen will. Es ist eine tragische Freundschaft, weil es Momente von großer Innigkeit gab, die lokalisiert sind auf Tribschen bei Luzern, wo Nietzsche Gast der Wagners ist und sich alle miteinander wohlfühlen. Nietzsches Buch „Menschliches, Allzumenschliches“ räumt damit auf und läßt erbitterte Feinde zurück. Borchmeyer versucht, dem dokumentarischen Material ’gerecht’ zu werden, aber letzten Endes gibt es hier keine Instanz, die richten könnte. Verstehen kann man im Wechsel beide: „Zarathustra contra Parsifal“. Aber wir stehen, obwohl wir Wagners Musik lieben, mit dem Herzen doch sehr viel stärker auf Nietzsches Seiten, das fiel uns beim Lesen auf, auch wenn das Buch keine Parteinahme evoziert. Aber das Verhältnis beider und die Trennungsgründe tun dies.

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