Virtuelle Realität oder die Wahrheit ist auf dem Rasen – Arminia Bielefeld gegen den 1. FC Union Berlin 1:1 (0:1)

Denn in meiner Kneipe, gleich um die Ecke, kann ich im Fernseher dieses Spiel beobachten. Fragt mich bitte nicht, wie das alles funktioniert. Gewiss ist das Treffen lediglich eine Inszenierung des Senders, der sich „Himmel“ nennt.
Auf jeden Fall haben sich mit mir noch gut zwei Dutzend Leute am Tresen unseres kurdischen Wirts versammelt. Tatsächlich laufen dann auch unsere rot gekleideten Helden auf dem grünen Rasen in einer Schüco-Arena genannten Spielstätte ein. Die Gegner von der Arminia tragen schwarze Hosen und blaue Blusen. Nein, keine FDJ-ler, sondern DSC-ler. Das ist die Abkürzung für Deutscher Sportclub. Irgendwo in der Nähe soll es die Teutoburger Schlacht gegeben haben. Aber auch darüber streiten die Historiker.

Hinter mir sitzen Ecki und Rosi. Rosi hat ihren Schal trotz der 30 Grad im Schatten mitgebracht. Darauf ist die Aufschrift Eisernes Mädchen gestickt. Okay, Mädchen ist wohl ein wenig geschmeichelt. Der Schal hängt auch nur als Schmuck über der Stuhllehne. Auf dem Bildschirm erscheint das Antlitz des Schiedsrichters und mir schwant nichts Gutes. Deniz Aytekin entscheidet manchmal oft etwas seltsam und verschenkt gern auch mal sechs bis acht gelbe Karten in einem Spiel.

Vor uns auf den Tischen steht kühles Bier. Obwohl – ich habe mir ein Potsdamer einschenken lassen, dass heute eher Radler genannt wird. Es ist eben doch ziemlich heiß, und ich möchte nachher noch meine Eingangstür finden. Vor dem Spiel hatten die meisten getönt: Die hauen wir weg wie frische Schrippen. Oder: Nach dem Fehlstart gegen Bochum müssen wir uns die drei Punkte eben in Bielefeld holen. Wie gesagt, ein schwieriges Unterfangen, wo es doch nur ein fiktiver Ort sein soll. Auch unser Trainergott Uwe Neuhaus hatte bereits gewarnt: „Wir müssen höllisch aufpassen. Wer Bielefeld unterschätzt, macht einen riesigen Fehler, der garantiert bestraft wird.“

Höllenähnlich präsentiert sich bald auch das Schauspiel, dass sich dann auf dem Rasen abspielt. Gefühlte 100 Grad Hitze lässt das Blut in den Adern der Akteure sieden. Und auch in unserer Kneipe kocht die Stimmung hoch. „Mann, Mann, Mann“, brüllt Paule am Tresen, als Michael Parensen links wiederholt viel zu weit vor stand als hinter ihm sein Gegner frei Richtung Strafraum einen Konter fährt. Zum Glück geht die Flanke knapp ins Leere. Zwei, drei Mal tauchen so oder so ähnlich die Arminen vor dem Tor unseres gelb gewandeten Torhüter-Titanen Daniel Haas auf.

Vielleicht ist es Schicksal, hat Haas doch etwas gut zu machen nach seiner Gurke aus dem VfL-Spiel. In der 15. Minute tut er das dann auch mit einer Riesenparade. „Uff“, schnauft es mehrfach in meiner Nachbarschaft und auch ich nehme erst einmal einen kräftigen Schluck meines Kaltgetränks. „Das kann doch nicht wahr sein, so eine Scheiße darf nie passieren“, tobt Ecki hinter mir darüber, weil erst der leichtfertige Ballverlust von Damir Kreilach diese gegnerische Großchance ermöglichte.

Und es ist auffällig, die Gastgeber greifen viel herzhafter an, sobald ein Unioner am Ball ist. Die Arminen attakieren, rempeln und beißen. Solche Methoden gehören seit der Varusschlacht hier im Teutoburger Wald zu den Grundtugenden der Eingeborenen Ostwestfalen. Und natürlich pfeift Aytekin das nie. Jedenfalls nicht bei den Gastgebern. Dafür zeigt er sich den Eisernen gegenüber großzügig: schenkt ihnen fünf Gelbe Karten und schickt letztlich auch noch Trainer Neuhaus auf die Tribüne, wegen Waterboarding an einer Wasserflasche.

Die Arminen bleiben in dieser Hinsicht verschont – wie schon gesagt. Dafür geschieht in der 25. Minute angesichts des bisherigen Spielverlaufs etwas Unglaubliches: Parensen kann einmal ungestört von links in den Strafraum flanken, Adam Nemez, unser langer slowakischer Mitbürger, segelt auf hoher Flugbahn heran und rammt mit seiner seiner Stirn die Kugel unaufhaltsam ins gegnerische Tornetz.

Ecki hinter mir gelingt aus dem Sitzen ein anderthalbfacher Rittberger, Rosi wirbelt ihren Schal und brüllt als hätte sie sich auf eine rotglühende Herdplatte gesetzt. Paule räumt seinen Humpen und den eines Nachbarn vom Tresen, der Wirt ruft: „Eisern!“ Und alle antworten: „Union!“

Die Wiederholungen des Tores läuft scheinbar in Endlosschleife über den Flachbildschirm und Fachkommentare sprudeln nur so. „Jetzt muss aber nachgelegt werden“, fordert Paule. Indes die Kicker auf dem Platz bekommen erst einmal Gelegenheit zu einem Schluck aus der Pulle. Der DFB – ganz im Zeichen der Klimaerwärmung – hatte wegen des tropischen Wetters viertelstündliche  Trinkpausen empfohlen. So dürfen die Unioner wohl erstmals ein Tor direkt nach Erzielung begießen.

Der Spielrhythmus indes ist unterbrochen. Gesetzt, es hat ihn je gegeben. So richtig gespielt hatte eigentlich bisher niemand, eher gebolzt. Union – so scheint es in den folgenden Minuten – verwaltet nun das 1:0. Und die Arminen? Erstmal ratlos. Aus Pässen werden Fehlpässe, einfache Bälle verstolpert.

Nach der Pause sieht es nicht viel besser aus – zunächst. Dann aber ist es der gute Schweizer Mario Eggimann, der den Ball mit dem Kopf aus dem Strafraum heraus einem Gegner direkt vor die Füße serviert. Der schiebt das Spielgerät seinem Kollegen Fabian Klos zu und der haut das Ding unhaltbar an Haas vorbei ins Tor. Es ist die 54. Minute. Zwei Minuten später verhindert Haas das mögliche 2:1 mit einem tollen Reflex.

Neuhaus ist mittlerweile stinksauer. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Aber wie schon der französische Philosoph Jean-Paul Satre weiland feststellte: Im Fußball verkompliziert sich alles durch das Vorhandensein der gegnerischen Mannschaft.“

Am Tresen meldet sich nun einer, der bislang schwieg: Günter. Der ist wie ich auch schon grau auf der Birne. „Seit Sigusch hat doch keiner mehr ein Tor aus der Ferne geschossen“, sagt er.  Sigusch, auch Bulle genannt, spielte zu Zeiten, die nur vereinzelte Anwesenden hier noch aus eigenem Erleben kennen. Derweil foult Torsten Mattuschka an der Mittellinie seinen Gegner, nachdem der ihm den Ball abgeluchst hat. „Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann…“ höhnt einer irgendwo hinten in der Ecke. Rumpelfußball scheint sich inzwischen etabliert zu haben. Da ist wieder mal eine Flaschenpause angesagt. Tropfen auf heiße Steine.

Kohlmann ist inzwischen für den heute schwachen Damir Kreilach gekommen. Wenig später verabschiedet sich der angeschlagene Eggimann. An seine Stelle tritt der lange Christian Stuff. „Stuffi“, jubelt Rosi.

Und der schafft es sogleich mit seinen scheinbar staksigen Stelzen einen Gegner elegant auszutanzen. „Mann, Stuffi, du bist ja ein Brasilianer!“ Hoffnung kommt unter den eisernen Fans auf. Auch als Sören Brandy sich elegant im Arminia-Strafraum freispielt. Doch der genialen Aktion folgt ein blamabler Abschluss lasch in die Arme von Stefan Ortega Moreno. Der Mann mit dem schönen Namen ist Torwart des Deutschen Sportclubs.

Nun kämpfen die Eisernen tatsächlich. Aber es fehlt der letzte genaue Pass. Alles, was in der Vorbereitung so gut funktionierte, scheint in der Praxis der Punktspiele gelöscht zu sein.

Zwei Minuten Verlängerung werden verkündet. „Jetzt bloß nicht noch eins fangen“, beschwört Ecki. Dann der Schlusspfiff. Zeit für eine neue Getränkerunde auch hier in der Pinte. „Wenigstens ein Punkt“, meint Ecki. „Ach, alles Käse“, schimpft Paule. „So wird das doch nichts. Die spielen wie die Amtmänner, da muss einfach mehr Biss ins Spiel.“ Ich mache mich vom Acker. Das kenne ich: jetzt haben zwei Dutzend Trainer das Wort. Mir ist eine frische Dusche lieber. Da kann ich mich nahe bei den Spielern fühlen, wenn auch nur virtuell.

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