Verdrängtes Glück – „Die Fräulein von Wilko“, italienisches Theater in der Inszenierung von Alvis Hermanis zu Gast in der Schaubühne

Es gibt also überhaupt keinen Grund, sich zu ärgern, es sei denn darüber, den Italienischkurs abgebrochen zu haben und deshalb nun darauf angewiesen zu sein, immer wieder den Blick auf die Tafel mit der deutschen Übersetzung oberhalb der Bühne zu lenken und sich deshalb immer wieder losreißen zu müssen von der erträumten Wirklichkeit und der Realität, die in die Träume einbricht.

Einige Male vergesse ich die Übertitelungen, weil das Bühnengeschehen mich festhält, und obwohl ich den Text nicht verstehe, wird mir doch jedes Wort deutlich übermittelt zusammen mit dem rätselhaften Sinn hinter den Worten, der durch Übersetzung ohnehin nicht zu entschlüsseln ist.

Jedenfalls gewinne ich diesen Eindruck, obwohl der nur bedingt richtig ist. Abgesehen davon, dass in manchen Textpassagen inhaltliche Aussage und Darstellung einen reizvollen Kontrast bilden – so wird z.B. einmal eine ruhige Landschaftsschilderung höchst dramatisch und leidenschaftlich vorgetragen -, ist es wichtig zu wissen, dass dieses Stück ein Prosatext ist, in dem über die Hauptfigur Wiktor Ruben und seine Sicht auf die Fräulein von Wilko berichtet wird. Diese Frauen besitzen kein Eigenleben. Sie sind nur dadurch existent, dass Wiktor sie wahrnimmt, und sie agieren ausschließlich in Bezug auf ihn.

Zu Beginn der Vorstellung liegt ein Mann schlafend in einem Bett. Er erwacht, setzt sich sehr langsam auf, fängt äußerst mühsam an, sich anzuziehen und beginnt zu sprechen. Er erzählt von Wiktor Ruben, einem Mann über vierzig, der als Soldat gekämpft hat, den seine Kriegserlebnisse in Albträumen verfolgen und der erschöpft und ausgebrannt ist von seiner Arbeit. Sein Arzt hat ihm geraten, Urlaub zu machen. So fährt Wiktor in das Dorf, in dem er als Student einige Sommer bei seiner Tante und seinem Onkel verbracht und die sechs Töchter einer aristokratischen Familie auf dem Landsitz Wilko besucht hat.

Auf der Bühne rollt Sergio Romano, der Erzähler, der auch Wiktor darstellt, die Wand hinter seinem Bett beiseite. Es ist die Rückwand eines großen Kleiderschranks, dessen Türen nun den Eingang zum Landgut Wilko bedeuten. Während Wiktor davor steht und dieselben Gerüche wie früher einatmet, öffnen sich die Schranktüren und die Fräulein von Wilko kommen heraus. Jetzt fällt warmes Licht auf die gesamte Bühne und lässt die stimmungsvolle Ausstattung von Andris Freibergs sichtbar werden.

Zu sehen ist eine geräumige, helle Wohnküche oder Diele mit weißen Wänden. Im Hintergrund steht ein langer Tisch, an dem später gegessen oder Marmelade zubereitet wird. Hohe Glasvitrinen beinhalten Unmengen von Marmeladengläsern. Ein Torbogen in der Rückwand des Zimmers führt in einen weiteren Raum, in dem Heuballen aufgestapelt sind. Es ist ein Ambiente zum Wohlfühlen und Träumen.

Wiktor Ruben kehrt in die Vergangenheit zurück, die er in den 15 Jahren seit seinem letzten Besuch auf Gut Wilko vergessen hatte. Auch die Fräulein sind älter geworden, haben geheiratet, Kinder bekommen, einige sind wieder geschieden. Was aus ihren Eltern geworden ist und weshalb die Frauen ohne ihre Ehemänner immer noch oder wieder auf dem Gut leben, wird nicht erklärt.

Eine der sechs Schwestern ist bleich geschminkt und bewegt sich seltsam mechanisch. Als Wiktor nach Fela fragt, holt Jola ein kleines Mädchen herbei, das sich im Kleiderschrank versteckt hatte, ihre Tochter, die Fela heißt, benannt nach ihrer Tante, die kurz nach Wiktors letztem Besuch gestorben ist, angeblich an der spanischen Grippe, aber es wird deutlich, dass Fela den Abschied von Wiktor nicht verwinden konnte.

Mit der wieder auflebenden Vergangenheit wird auch Fela wieder lebendig, sie stirbt auch noch einmal, die Schwestern legen sie in eine Glasvitrine, sie versucht verzweifelt, aus diesem Sarg wieder herauszukommen, und dann liegt sie zwischen Blumen und Heubüscheln in ihrem Grab, um das die Schwestern sich nicht kümmern.

Wiktor, der sagt, er habe für keine der Frauen viel empfunden, erklärt dann wieder, er habe jede von ihnen, und jede als Einzige, geliebt.

Die sechs Frauen sind ganz unterschiedlich. Sie bilden aber immer wieder geschlossene Formationen, aus denen es unmöglich zu sein scheint, eine von ihnen dauerhaft herauszulösen. Manchmal erscheint die Eine oder die Andere in einer der Vitrinen, die unentwegt hereingerollt werden, steht da wie eine Schaufensterpuppe, während Wiktor über sie spricht. In den Vitrinen drängen sich auch manchmal mehrere Schwestern ängstlich zusammen, sie sind dort eingesperrt oder versteckt, und alle, in einer Vitrine eng zusammengedrängt, werden von Wiktor eine nach der anderen mit erotischen Annäherungen überfallen.

Die Choreografin Alla Sigalowa lässt die sechs Schauspielerinnen fast immer in tänzerischer Bewegung herumwirbeln, in der sich nicht nur die Lebensfreude der Frauen ausdrückt, sondern auch der Schmerz, die Angst und der Schrecken, von denen die Schönheit und Harmonie bedroht sind.

Wiktor küsst Tunia, die vor 15 Jahren noch ein Kind war aber, ebenso wie ihre Schwestern, auch damals schon für Wiktor geschwärmt hat. Wie vor 15 Jahren kann Wiktor jedoch auch jetzt keine Entscheidung treffen, und er kann seine Gefühle nicht zulassen. Wieder verlässt er Wilko, und wieder stirbt eine der Schwestern.

Auch der erschreckende Schluss ist ein wunderschön choreografiertes Bild: Die Schwestern öffnen eilig den Kleiderschrank und verharren entsetzt, als sie Tunia im Schrank finden, erhängt mit einem Gürtel. Im Hintergrund durch die Glasscheibe der Tür ist Wiktor mit dem Koffer in der Hand zu sehen.

Es ist alles ein bisschen zu schön in dieser Inszenierung, und die poetische Erzählung von Jaroslav Iwaszkiewics ist als Stoff für einen zweistündigen Theaterabend nicht ergiebig genug.

Die Inszenierung von Alvis Hermanis ist ein Gastspiel im Rahmen des europäischen Theaternetzwerks PROSPERO, das Theater aus Belgien, Finnland, Portugal, Frankreich, Italien und Deutschland verbindet. Die Schaubühne war in der Spielzeit 2007/08 eines der Gründungsmitglieder und begann die Zusammenarbeit mit Thomas Ostermeiers Inszenierung von „John Gabriel Borkmann“ am Théatre National de Bretagne in Rennes.

„Die Fräulein von Wilko“, Gastspiel vom Teatro Storchi di Modena war vom 28.-30.05. in der Schaubühne zu erleben.

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