„Unser Land ist eine Goldhamsterzucht“ – Wo bleiben da Ethik und Moral?

An einer Autobahnunterführung im Nordberliner Bezirk Reinickendorf prangte kürzlich über der Straße dieser Grafiti-Slogan in großen Buchstaben: Unser Land ist eine Goldhamsterzucht. Irgendwie seltsam aber klar formuliert, daß der heutige Kollaps von Ethik und Moral unser demokratisches Land in Gänze und im Detail systematisch ergriffen hat: vom hehren Jesuiten-Kolleg, über öffentliche Administrationen, wissenschaftliche Institutionen, Netzwerke von Banken und Industrie-Unternehmen samt ihren Lobbyisten, Einrichtungen der legislativen und exekutiven Politik. Geschäftsführer, Inhaber von Unternehmen, Direktoren von Instituten, Präsidenten von Hochschulen, Bürgermeister, Abgeordnete, Journalisten: deklariertes und gelebtes Detail der beruflichen Aktivität ist die Selbstverständlichkeit der Maximierung des eigenen, persönlichen Gewinns. Es kommt heute offensichtlich nicht darauf an, eigene, persönlich entwickelte Theorien so in die Praxis umzusetzen, daß ein Nutzen für die Allgemeinheit entsteht; sondern ein Geschäftsführer wird „seine“ Firma auf dem Gebiet voranbringen, auf dem er die höchste Provision für sich selbst erwartet. Ist diese persönliche Gewinnsituation im eigenen Unternehmen nicht vorhanden, wird das Unternehmensnetzwerk eingesetzt, aqn anderer Stelle diese Gewinne zu erwirtschaften. Im Normalfall macht der Geschäftsführer „mit sich selbst“ Geschäfte, z.B. indem er mit seiner ihm gehörenden Consulting-Firma einen Beratungs-Vertrag abschließt, der die Beratung des von ihm geführten Unternehmens durch eben diese eigene Firma regelt – ssich selbst zu beraten, das klingt absurd, ist aber häufige Praxis. Diese super-intangible Dienstleistung ist der Gipfel der Insider-Geschäftspraktiken, von der suspekten „Geschmäckle“-Situation bis zur handfesten Korruption.

Beispiel wäre die Beauftragung einer Consulting-Firma zur Neu-Strukturierung einer öffentlichen Verwaltungseinrichtung durch Optimierung des Einsatzes digitaler Systeme: Der Auftrag wird erteilt durch eine Behörde, deren Präsident Inhaber dieser Consulting-Firma ist; der Auftrag läuft über zehn Jahre mit Einsatz von permanent fünf Ingenieuren: Gesamt-Volumen sechs Mio. €.

Beispiel wäre auch die Beteiligung eines deutschen Innenministers – verantwortlich auch für Bundesbeteiligungen, z.B. an der Bundesdruckerei – an eben dieser Bu7ndesdruckerei; just nachdem diese per Gesetz entstandene neue Personalausweise in Druckauftrag bekam.

Oder: die Mitarbeit eines deutschen Großstadtbürgermeisters in mehr als zehn aufsichtsräten von in seiner Stadt ansässigen Unternehmen. Wie kann ein sicher vielbeschäftigter Bürgermeister diese Mandate gewissenhaft wahrnehmen? Das funktioniert nicht. Hier wird nur abkassiert.

Oder: der Verkauf der Immobilien eines Kaufhauskonzerns an eine Immobilien-Gesellschaft, deren Inhaber Geschäftsführer im Kaufhauskonzern ist; die anschließende Erhöhung der Mieten der weiter vom Kaufhauskonzern genutzten Immobilienführte zum Bankrott der renommierten Kaufhaus-Gesellschaft.

Im Alltag des Normal-Bürgers drückt sich die „Goldhamsterei“ durch den Wahnsinn überhöhter Preise aus: Es geht nicht darum, durch vernünftige Preispolitik „sein Auskommen zu haben“, sondern „so viel wie möglich herauszuholen“. Der Kunde wird überall mit dem „Faktor zehn“ zur Kasse gebeten: Kaffee kostet pro Tasse 3,50 €, bei Kosten von weniger als 0,20 €. Ein Kletterpark verlangt pro Besucher 15,- €, bei Kosten von 2,- €. Das Essen im China-Restaurant um die Ecke wird mit 12,- € pro Person bezahlt, die Kosten für die Restaurant-Leistung liegen bei 1,50 €. Serway-Toiletten an deutschen Autobahnen kassieren 0,70 € pro Nutzung, die Kosten belaufen sich auf maximal 0,03 €. Eine Thüringer Bratwurst muß Händler-Kosten von 0,20 € decken, bei einem Verkaufspreis von 2,50 € pro Stück. Eine Tüte Speise-Eis wird mit 1,20 € total überbezahlt: die  durch den Geschäftsbetrieb plus Material entstehenden Kosten rechtfertigen 0,05 €.

Um es klar zu sagen: Jeder Händler soll etwas verdienen, aber muß er gleich so viel verdienen, daß er einen hochqualifizierten Ingenieur, der als Angestellter in der Industrie arbeitet, übertrumpft? Oder sogar einen Professor, Stufe W3 der Beamtenbesoldung? Wer will da noch studieren, oder langwierig lernen? Die „doofen“ (weil unausgebildeten) türkischen Gemüsehändler, die italienischen Eisverkäufer verdienen p.a. 200.000 €. Das sind Einkünfte einer Bundeskanzlerin, eines Bundespräsidenten, zweier Bundestagsabgeordneter oder von vier W2-Professoren oder Krankenhaus-Oberärzten in Berlin.

Die beiden „Goldhamster“ ALDI sind die reichsten Menschen in Deutschland. Nicht Siemens (die Familie gibt es tatsächlich noch)! Nicht ein Erfinder moderner Technik. Bill Gates ist innovativ und reich, aber er ist kein Deutscher. Welche Erfindungen kommen heute aus Deutschland, das vor 100 Jahren die meisten Nobelpreisträger der Welt hatte? Damals wohnten die Leiter der Berliner Krankenhäuser in noblen Villen in Köpenick oder Zehlendorf, ihre Nachbarn waren die Professoren der Berliner Hochschulen; dabei hatte man noch zusätzlich komfortable Stadtwohnungen z.B. am Kurfürstendamm in Charlottenburg. Ausbildung lohnte sich vor hundert Jahren wirklich.

Der heutige W2-Professor verdient 3.800 € brutto pro Monat, wovon er als Single 2.400 € netto behält; seine private Krankenkasse zahlt er davon selbst. Das ist vergleichsweise knapp. Jedenfalls für einen Vorlauf von mindestens fünfzehn Jahren für Studium plus Berufserfahrung, der für diese Tätigkeit gebraucht wird. – Die Villenbesitzer von heute sind Bänker, Versicherer, Händler; zugegeben, auch vor hundert Jahren gab es diese Spezies in den Villenvierteln des Berliner Grunewalds, aber daneben glänzten eben auch Borsig, Schwartzkopf, Siemens, Fritz Werner, Daimler, Rathenau von der AEG, Virchow, Robert Koch Zeiss, Einstein.die Siemens-Direktoren wohnten in Siemens-Villen in hervorgehobener Wohnlage. Einstein war Leiter eines staatlichen Forschungsinstituts und baute sich in Potsdam ein noch heute existierendes Domizil. Bis ca. 1960 residierten noch einige TU-Professoren in Dienst-Villen in Dahlem. Mit ihrer Emeritierung wurde dieses Previleg abgeschafft. Dem heutigen Prof. werden mit seiner Pensionierung die Bezüge um 30 Prozent gekürzt; das gab es bis dato auch nicht!

Ein „Goldhamster“ – wer also Geldverdienen möchte – braucht heute keine Super-Ausbildung. Er macht es wie der ehemalige Berliner Wirtschaftssenator Elmar Pieroth, der jedermann erzählte, daß er sein BWL-Studium nicht geschafft und deshalb abgebrochen hatte. Er wurde erfolgreicher Weinhändler, später erfolgreicher Politiker. – Der Inhaber eines Vergnügungsparks bei Berlin wurde in wenigen Jahren mehrfacher Millionär. Seine vorherige Doppelausbildung zum Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur brauchte er dazu nicht. Den Ingenieurberuf hat er nach sieben Jahren an den Nagel gehängt. Was macht die Maschinenbau-Industrie nun ohne ihn? Sie kauft heute Spezial-Knowhow von Forschungseinrichtungen in – China! Von der Forschungseinrichtung einer Pekinger Universität. – Der deutsche Fachmann betreibt mittlerweile seinen lukrativen Vergnügungspark.

Diese „Goldhamsterei“ wird uns fachlich „ausbluten“ lassen.

Auch in den technisch hochstehenden Firmen ist der Niedergang des Ansehens der Technik erkennbar. Viele deutsche Großfirmen befolgen die Regel der Drittelung der Beschäftigten in Stamm-Mitarbeiter, zeitlich befristet Beschäftigte und Leiharbeiter. Viele Ingenieure sind in prekären Beschäftigungsverhältnissen, mit häufigem Unternehmenswechsel verbunden. Bei Tätigkeiten, die ihren Schwerpunkt in „Kontroll“-Arbeit vorgegebener Prozesse haben. So ist z.B. ein hochqualifizierter Informatik-Ingenieur seit fünfzehn Jahren „gezwungen“, mangels anderer Angebote über die Verleih-Firma EURO-ENGINEERING zu jobben: er vergleicht in einem Maschinenbau-Unternehmen am Bildschirm Ist- und Solltermine an die Außenmontage zu liefernder Teile, mit abschließender Meldung der aufgelisteten Fehlteile an seinen Chef, Stamm-Mitarbeiter im Unte3nehmen mit einhundertfünfzig Mitarbeitern in der von ihm geführten Logistik-Abteilung. Die Arbeit ist wichtig, aber fachlich anspruchslos. Von dem an EURO-ENGINEERING für seine Arbeit gezahlten Geld sieht er nur einen Bruchteil. Hier sitzen die „Goldhamster“, bei EURO-ENGINEERING. Eine Weiterentwicklung technischen Knowhows findet so kaum statt; moderne Technik wird deshalb gerne „outgesourct“.

Wo soll da Knowhow wachsen oder erhalten bleiben? Die Sparte „Wissens-Management“ wird an Bedeutung zunehmen und vorstandsfähiges Thema sein. – Es wird auf den „Schweine-Zyklus“ hinauslaufen: Erst wenn die Erkenntnis ausreichend gewachsen ist, daß die Entwicklung von Wissen erforderlich und lohnenswert ist, wird wieder Geld hineingesteckt werden und das Ansehen der Knowhow-Träger und deren Bezahlung wachsen.

Die Bundeskanzlerin – wir haben nur eine! – braucht ein Einkommen, das in Deutschland auch den Vorstand der Deutschen Bank in den Schatten stellt; das sind 50 Mio. € p.a.: na und? Da wäre wenigstens auch für die Zukunft sicher, daß höchst qualifizierte Personen diese Aufgabe wahrnehmen und nicht auf – spätestens für die Zeit danach – „Nebeneinnahmen“ schielen müssen. – Und Ingenieure? Und Professoren? Die sollten so alimentiert werden, daß sie merken, daß sie in der deutschen Volkswirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Dieses „Bemerken“ setzt bei aktuell netto 100` bis 200` € p.a. ein (gegenüber heute 30` bis 50` € p.a.). Wird dieses Geld nicht gezahlt, wandern die so dringend benötigten Fachleute aus dem Lehr- und Forschungsberuf ab. Oderbetätigen sich in Nebentätigkeiten, die ihnen die erforderlichen Zusatz-Einkünfte bringen. Wobei der gesamte persönliche Aufwand für diese Nebenarbeit dem Hauptjob verloren geht. So entstehen „magere Goldhamster“, eine in Deutschland sicher zunehmende Zahldoppeljobbender Experten. Einen – inakzeptablen – Ausweg böte nur die Korruption, also illegales Handeln. Auch das ist heute Realität. Auch wir sind ein griechisches Wucherland mit Goldhamster-Mentalität.

Wo sind wir bloß hingekommen?

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