Und hinter tausend Stäben keine Welt? – Verständigungsschwierigkeiten mit „Le Savali: Berlin“ bei der Eröffnung der spielzeit’europa

Am Sonntag Abend gab es ungewohnt viele freie Plätze im Haus der Berliner Festspiele. Die Stimmung im Publikum schien dennoch erwartungsfroh, und da ich, eigentlich auf Langeweile eingestellt, vom ersten Augenblick an mit allen Sinnen und ungeheurer Spannung das Bühnengeschehen verfolgte, vermutete ich, dass die Premiere möglicherweise verunglückt war.

Die Ruhe im Zuschauerraum erwies sich jedoch als trügerisch. In der zweiten Hälfte des Stücks erhoben sich mehrfach Menschen von ihren Plätzen, strebten dem Ausgang zu, und immer wieder kollidierte das durch die geöffneten Türen hereinfallende Licht mit der kunstvollen Lichtkomposition auf der Bühne. Schließlich klatschte jemand in eine Pause hinein, Gelächter folgte, und ein paar weitere Klatscher signalisierten das Bedürfnis, das Stück möge aufhören. Als es dennoch weiterging, kehrte wieder Ruhe ein, und am Schluss gab es Höflichkeitsapplaus.

Le Savali ist, wie dem Programmheft zu entnehmen, das samoanische Wort für eine Vorwärtsbewegung im Sinn einer Reise mit dem Ziel, eine Botschaft zu überbringen oder Stärke und Einheit zu zeigen und beinhaltet ebenfalls eine Einladung an die Menschen, sich den Gehenden anzuschließen und mit ihnen gemeinsam die Stimme zu erheben.

Der samoanische Choreograf Lemi Ponifasio hat eine solche Reise durch Berlin initiiert mit seiner MAU Company, bestehend aus KünstlerInnen aus dem Südpazifik in Zusammenarbeit mit PerformerInnen aus Berlin. Das Werk, eine Auftragsproduktion der spielzeit’europa, wurde seit Juni in Berlin geprobt.

Zu Beginn rezitiert eine Frauenstimme Rilkes Gedicht „Der Panther“ mit veränderter Schlusszeile: Das Bild, das der Panther wahrnimmt, hört nicht auf, sondern „fängt im Herzen an zu sein“. Später erscheint eine Schrift mit einem Zitat aus den Duineser Elegien.

Was es bedeutet, dass in einem Stück, das von Bewegung, Tanz, Musik und Gesang lebt, die deutsche Sprache durch Rainer Maria Rilke vertreten ist, und wo der Bezug zu Berlin zu suchen sein könnte – – –  Das Bemühen, für die Darbietungen der Performance beständig Erklärungen zu finden, führt in die Irre und löst wahrscheinlich die Langeweile aus, unter der ein Teil des Publikums zu leiden hatte.

Als zuverlässige Führerin durch das Stück erweist sich die Musik, Kompositionen des Belgiers Fabrizio Cassol. Die Klänge kommen von weit her, werden außerhalb der Bühne live gespielt von Violinen, Saxophon, Oboe, Gaida, Akkordeon, Kontrabass und Schlagzeug und sehr zart gesungen von den Frauen des Berliner Chors Bulgarian Voices. Die Instrumentalmusik und die Gesänge vibrieren von Lebendigkeit, sind wie Fühler, die sich tastend ausstrecken.

Das Staunen, das in der Musik spürbar wird, die anrührend ist aber niemals sentimental oder pathetisch, prägt auch die Aktionen der PerformerInnen auf der Bühne. Die Gänge, zu denen sie sich, hintereinander aufgereiht, mehrfach formieren, erscheinen nur auf einen ersten, vorschnellen Blick wie feierliches Schreiten. Es ist ein äußerst konzentriertes Gehen, erhobenen Hauptes mit dem ganzen Körper den Raum wahrnehmend. Die nackten Füße erkunden sorgsam den Boden. Sie gehen nicht im Gleichschritt, sondern leicht versetzt, jede und jeder dem Rhythmus des eigenen Atems folgend.

Trotz der Entschleunigung, die dieser Abend auf vollkommenste Weise erfahrbar werden lässt, ist es unmöglich, alle Details wahrzunehmen. Es genügt ja nicht, aktuellen Anforderungen gemäß, mit schnellem Blick das vermeintlich Wesentliche zu erfassen und alles Andere außer acht zu lassen, denn hier ist alles wesentlich.

Die Beleuchtung ist während der gesamten Vorstellung düster. In diesem Halbdunkel volbringt die Lichtkünstlerin Helen Todd jedoch gestalterische Wunder. So verwandelt sich die Wand im Hintergrund, das einzige Ausstattungsstück, in eine von Nebeln umwehte Pyramide. Später neigt sich die Wand nach hinten, wird zur Schräge, und durch Lichteffekte bilden sich zwei Stufen heraus. Ein Mann steht in schwindelerregender Höhe in der Luft, die nackten Oberkörper der Performer sehen aus, als seien sie aus Marmor, und der Blick auf die Schräge wird, bei menschenleerer Bühne, zum faszinierenden Abenteuer.

Die Schlusssequenz des Stücks war bereits bei der Pressekonferenz am 28.09. zu sehen und hatte einige Ratlosigkeit hinterlassen. Lemi Ponifasio hatte vorab fröhlich lachend gesagt, die Szene sei ganz nackt und ohne Musik. Dabei ist sie alles andere als komisch: Ein nackter Mann balanciert oben auf der Schräge, steigt ein paar Schritte hinunter, fällt aufrecht mit dem Rücken auf den Boden, streckt die Arme seitwärts aus, klopft, mit zuckenden Gliedmaßen, einen schnellen Rhythmus auf das Holz und erstarrt.

Dann erscheint ein seltsames Fabeltier. Es trippelt vierbeinig an die Schräge heran, beäugt den reglos da Liegenden neugierig und wirft bedächtig rohe Eier um ihn herum, die auf der Schräge auslaufen.

Was wie eine Verhöhnung des Gekreuzigten aussehen könnte, erscheint im Zusammenhang des Stücks eher als Entlarvung des multikulturellen Wesens des Christentums, bei dem mit dem Tod und der Auferstehung des Heilands zugleich die außerchristlichen Rituale des Frühlingsopfers und des Fruchtbarkeitskults zelebriert werden.

Die Multikulti-Gesellschaft, angeblich eine Errungenschaft unserer Zeit, vielfach bereits als gescheitert abgetan, ist, wie wir doch alle wissen, auf uralten Traditionen begründet. Bei ihren Erkundungsgängen steigen die PerformerInnen auch in die Tiefen der Vergangenheit hinunter.

Die Einzelaktionen, bei denen es um Alltägliches wie das Ausziehen eines Hemds oder Künstlerisches wie das besessene Fiedeln beim Tanz mit einer Geige ebenso geht wie um Leben und Tod, sind, in ihrer Rätselhaftigkeit und Fremdheit, unmittelbare Lebensäußerungen mit kulturellem oder ganz persönlichem Hintergrund. So entsteht das Bild einer Gemeinschaft, die sich durch das Erproben unterschiedlichster Möglichkeiten beständig verändert und neue Zugehörigkeiten eröffnet, und so ist diese Performance eine wunderschöne Liebeserklärung an Berlin.

Brigitte Fürle, seit 2006/07 Künstlerische Leiterin der spielzeit’europa hat in dieser, ihrer letzten Spielzeit das Werk Lemi Pomifasios zum Schwerpunkt gemacht. Eine Videoinstallation von Helen Todd zeigt auf den großen Fenstern des Hauses der Berliner Festspiele Porträts der Mitwirkenden von „Le Savali: Berlin“ und vom 1. – 3. Dezember ist „Birds with Skymirrors“,  eine Komposition aus Tanz, Zeremonie, Poesie, Gesang und Sprachkunst von Lemi Ponifasio und seiner MAU Company im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.

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