Über die Hintergründe von Zukunftsängsten und -sorgen – Dem Psychotherapeuten über die Schulter geschaut

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Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland (Weltexpress). Ein 47 jähriger Patient berichtete über Zukunftsängste, er könne kaum schlafen und sehe sich schon in der Gosse landen. Er erzählte, dass er regelmäßig leicht in die Miesen komme. Freiberuflich bekomme er trotz intensiver Bemühungen kaum neue Aufträge. Deswegen habe er zur Absicherung halbtags einen Job übernommen, wo aber das Geld kaum reiche. Ich sah die Ängste ziemlich übertrieben an. Zuerst fragte ich ihn, ob er nichts erben könnte, da sein Vater früher stellvertretender Bürgermeister war und wohl einiges angesammelt haben dürfte. Er sagte, als sein Vater an Krebs todkrank war, habe dieser ihn gebeten, zu Gunsten der wesentlich jüngeren Schwester und seiner zweiter Frau auf sein Erbe zu verzichten. Er habe verzichtet, heute bereue er es und könne sich selbst in den Arsch beißen.

Meine Devise ist „hast du klagen, Mutter fragen“, d.h. ich klopfe erstmal die Mutterbeziehung ab, weil von dort sehr viele Ängste kommen. Ich fragte also nach der Mutterbeziehung, und er sagte, er erzähle ihr von seinem Leben schon lange gar nichts mehr, da sie immer das schlimmste sehe und befürchte. Er nehme dabei Rücksicht auf die Mutter, aber auch auf sich selbst, da diese nur seine Ängste steigern würde. Obwohl er mit ihr mehrfach in der Woche telephoniere, verheimliche er ihr seine Ängste. Weihnachten sei er mit ihr ein paar Tage nach Süddeutschland gefahren, um seinen Onkel zu besuchen. Dieser lebe obdachlos in einer miserablen Unterkunft. Während der Fahrt habe er sich im Gegensatz zu sonst ausnehmend wohl gefühlt, er erläuterte, daß Mutter’s Ängste sich auf den Onkel konzentriert hätten, und er aus dem Schneider war. Der Onkel sei selbst an seiner Lage schuld, da er nichts tue, um sein schlimmes Schicksal abzuwenden.

Von dem Patienten weiß ich, daß er seinen zwar strengen Vater sehr bewunderte, da er fleißig und erfolgreich gewesen war. Er selbst arbeite auch rund um die Uhr, gönne sich kaum einen Urlaub, da er den doch nicht genießen könne. Seinen Schlaganfall vor 2 Jahren führe er auch darauf zurück, da er die Arbeit favorisiert und diese den Mittelpunkt seines Lebens gebildet habe. Er befürchtet selbstverständlich einen 2. Schlaganfall, und der ist meist schlimmer als der 1. Ich selbst gerate im Angesicht dieses Patienten auch selbst in Spannung. Sein Druck überträgt sich auf mich, und ich ertappe mich dabei, ich wäre froh, wenn ich ihn los werden könnte. Normalerweise wird so ein Patient weiter überwiesen. So sehr übertragen sich unerträglichen emotionale Spannungen unter Erwachsenen, wie viel mehr in einer Mutterbeziehung? Kein Wunder, daß er ihr nichts mehr erzählte, da er kaum Trost und Beruhigung erlebt hatte. Aber von früher, seiner Kindheit hatte er diese verinnerlicht und heute noch übertragen sie sich wortlos. Den Hintergrund bilden meist nicht faßbare Ängste, die oft schon über Generationen übertragen werden. Sie suchen sich oft ein Objekt, um sie faßbarer zu machen.

In seinen Ängsten hatte er seinen Onkel vor Augen. Er selbst hatte sich wie sein Vater arbeits- und erfolgsbetont mit allen Fasern seines Lebens dagegen gestemmt. Da er aber an seine Ängste glaubt, verhält er sich entsprechend seinem Glauben und durch die Handlungsumsetzung bestätigt er sie – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Seine Ängste hat er also zurecht. Weiterhin hat er das Krebsschicksal seines Vaters ebenfalls vor seinem inneren Auge, das gleiche Schicksal wie er zu erleiden. Dort besteht eine Familiengemeinsamkeit, an die geglaubt wird. Man spricht auch medizinisch von Vererbung, spricht von den Genen. Gegenüber diesem gemeinsamen Schicksal besteht eine Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit wird verinnerlicht, und dann kann nichts getan werden. Gleichzeitig bestehen krankmachende Schuldgefühle, am eigenen Schicksal selbst schuld zu sein. Diesen Schuldgefühle hatte er durch Arbeit entgegen zu wirken versucht, um seinem drohenden Schicksal zu entgehen. Im griechischen Mythos wälzt Sisyphos unentwegt den Fels herauf, und wenn er kurz oben zu sein scheint, rollt er wieder hinunter. Das ist die Strafe der Götter. Das wird auch von außen zugeschrieben und ist schon in ihm selbst. Siehe den Patienten, der seinem Onkel die Schuld an seinem Schicksal gab.

Des weiteren spielt ein gewisser selbst schädigender Trotz eine Rolle, eine Autoaggression „wenn du immer behauptest, dass ich ein Versager bin, dann sollst du recht haben“. Das führt auch zur Hilflosigkeit und wegen der unendlichen Bemühungen zur Hoffnungslosigkeit. Gleichzeitig fühlt sich das Kleinkind empathisch in die Ängste der Mutter ein und verinnerlicht diese, umso mehr je überzeugter die Mutter von der Realität ihrer Ängste ist, und je wohlmeinender sie das Kind vermeintlich schützen muss.

Meist trifft der Trotz die Braven und Angepassten. Das hatte er bewiesen, als er auf das Recht seines Erbteils verzichtete. Meist steht eine Drohung im Hintergrund, wehe, wenn nicht… In seinem Fall fürchtete er endlose Streitigkeiten, weswegen schon die Ehe der Eltern auseinander gegangen war. Da die Mutter dann arbeiten gehen musste, wurde er von der Großmutter versorgt und bildete einen Partnerersatz für seine Mutter. Das und seine verinnerlichten Ängste waren der Grund für seine Mutterbindung, die in den regelmäßigen Anrufen zum Ausdruck kommt. Im Extremfall bei Psychosen oder Borderline schützt die Mutter den Patienten vor den Ängsten, die sie ihm selber gemacht hat. Das erinnert mich an die Maus, die ausgerechnet unter dem Leib der Katze Schutz sucht – vor der Katze. Aber auch diese Mütter sind zu verstehen, denn sie sind von den Tatsachen erfüllt, vor denen sie ihr Kind schützen wollen. Sie sind schon in der Kindheit geprägt, stellen ihr Verhalten darauf ein und erleben diese Dinge immer wieder. Landläufig sagt man, Angst ist ein schlechter Ratgeber.

Normalerweise, wenn Mutter und Oma das Kind gleichzeitig versorgen, ergeben sich Streitigkeiten zwischen der Mutter und der Oma, auf wen das Kind mehr hört und in den Normen, Geboten und Verboten mehr bezogen ist. Gleichzeitig kämpft das Kind um seine Mutter und ist froh, wenn es die Mutter endlich hat – oder die Oma? In dieser erstickenden Atmosphäre entwickelt das Kind oft Asthma, und die Eltern bieten alle ihre Kräfte auf, dem Kind zu helfen. Als ich diesen Sachverhalt einem Bekannten, der in der Kindheit selbst unter Asthma gelitten hat, meinte er bitter „und wenn sie es geschafft haben, liegen sie sich glücklich in den Armen“ – Familienharmonie auf Kosten des Kindes. Andererseits wissen es die Eltern nicht besser. Sie waren halt auch Opfer ihrer Prägung.

Es besteht noch ein weiterer Grund für seine Mutterbindung. Seine Mutter muß er in allen Frauen fürchten, und da er brav und angepasst ist, ihnen recht geben muß, muß er die Vereinnahmung der Frauen fürchten. Er hat ja schon in der Mutter genug von den Frauen. So blieb er ehe-, partner- und kinderlos. Wenn dann noch die Mutter in den Männern das Böse sieht, wofür die Streitigkeiten und die Trennung des Vaters sprechen, muß er das Gegenteil beweisen, dass er nicht so einer ist. Dann ist er leicht händelbar durch Frauen, ein Softie, und er muß sie vermehrt fürchten, da er sich nicht mit ihnen auseinander setzen kann. Ein Softie, Muttersöhnchen ist bei den anderen Männern wenig angesehen. Er wird die Urteile anderer Männer fürchten, wie er in den Augen der anderen da steht.

Noch ein weiterer Grund besteht für die Mutterbindung. Da er die ewige Angstübertragung satt hat, möchte er sich gerne von ihr lösen. Dann bekommt er aber Schuldgefühle, die er fürchten muß, und diese erfordern wiederum eine Selbstbestrafung, wie sie im Schlaganfall zum Ausdruck kam. Dann muß er zur Vermeidung der Strafe gebunden bleiben. Schon alleine, dass er die Mutter aus seinem Leben heraus hielt, impliziert die Schuld und Schuldgefühle. Des weiteren darf er seine Mutter nicht im Stich lassen, wo er ihren Partnerersatz bildete, das würde wiederum bei ihm Schuldgefühle hervorrufen. Auch war es sein kindliches Bestreben, seine Mutter endlich ganz und gar für sich zu haben, und jetzt hat er sie für sich. Dann würde sein hochambivalenter Traum enttäuscht.

All diese Verstrickungen bilden den Hintergrund für seine Zukunftsängste. Ein weiterer mag das normative Verhalten des Umfeldes für ihn haben, das wenig Verständnis hat. Die Norm ist, dass er in seinem Alter, noch dazu als Akademiker, verheiratet ist und Kinder hat. Demzufolge muß er sich als Versager fühlen, und den Versager muß er in den Augen des Umfeldes fürchten.

Ein hoher Wirtschaftsboss, der sich als Patient zu mir verirrt hat, litt unter ähnlichen Zukunftsängsten. Er sah seinen sozialen Abstieg voraus und sich in der Gosse landen. Seinem Vater war es ähnlich ergangen, und seine Mutter und Tanten hatten ihn hochgejubelt. Als wir seine Ängste Schritt für Schritt durch phantasierten, und er in der Gosse landete, war er regelrecht erleichtert, jetzt konnte ihm nicht mehr passieren. Unter solch starkem Druck hatte er gestanden, dass er sich sogar in der Gosse befreit fühlte, der Mutter und den Tanten zuliebe.

Ich hatte einen MS-Kranken als Patienten, der unter seiner Einsamkeit litt. In seiner Sexualität fesselte er gerne in der Phantasie Frauen und verbrachte viel Zeit mit Videos und in Zuschauerkabinen. Er betrachtete sein Leben nicht als erfolgreich. In einer Psychotherapieklinik hatte er eine Frau gefunden, die das mitmachte. Aber schon nach wenigen Versuchen verloren beide in der Realität die Lust. Wenn er seine Mutter besuchte, fragte sie ihn nach den Erfolgen in seinem Leben, und er erzählte ihr, wonach sie so sehr lechzte. Er und seine Mutter waren glücklich. Auf der Heimfahrt ärgerte er sich über sich selbst, dass er seiner Mutter für einen kurzen Moment des Glücks etwas vorgespielt hatte. Er war 3 mal gefesselt, einmal in seiner Form der Sexualität, zum 2. als MS-Kranker in der Angst vor dem Rollstuhl und 3. von der Mutter bzw. von sich selbst. Diesem Patienten konnte ich wenig helfen, zu sehr war er gefesselt, außer dass ich ihm in akzeptierender Weise zuhörte.

Ein Homosexueller sucht mich wegen Examensängsten auf. Er war schon in der Kindheit von der Mutter, der Großmutter und den Tanten zu einem Tugendbold hochgejubelt worden. Er raucht nicht, trinkt nicht und lässt auch die Frauen in Ruhe. Die Frauen in der Familie hatten halt schlechte Erfahrungen mit den Männern gemacht. Während seines Sozialpädagogikstudiums qualmte er wie ein Schlot, soff wie ein Loch. Er favorisierte Darkrooms und Klappen. Wenn er sich mit anderen herumprügelte, standen die übrigen um sie herum und sprachen ehrfurchtsvoll vom Kampf der Giganten. Aber er ließ die Frauen in Ruhe, denn er war homosexuell. Als er ins Examen ging, fiel er durch, und die Mutter wurde wegen des Verdachts eines Schlaganfalls in die Klinik eingewiesen. Beim 2. Versuch bestand er. Als ich nach ein paar Wochen erstaunt nachfragte, was mit der Mutter sei, antwortete er, sie habe vorsorglich eine Kur angetreten, und er habe sie gut versorgt gewusst. So eng war er mit der Mutter verbunden, dass sie körperlich in der Angst vor seinem erneuten Versagen, und er psychisch aus Angst vor der körperlichen Erkrankung der Mutter reagierten, aber auch, dass Vertrauen eingeflößt wurde. Auch wird augenfällig, einerseits seine Trotzreaktionen und andererseits seine tiefe Loyalität zu seiner Mutter.

Alle vier Patienten waren infolge des Prägungsprozesses eng mit den Müttern und dem Umfeld durch gemeinsame Bilder verbunden. Therapeutisch gilt es, sich diese Zusammenhänge und Hintergründe emotional klar im Kopf zu machen. Rational nützt nichts. Dabei sind die Selbstakzeptanz, -anerkennung, -würdigung und Selbstliebe notwendig, damit den Schuldgefühlen und den Autoaggressionen entgegen gewirkt wird. Schuldgefühle sind ja auch schon eine Autoaggression. Durch das Selbstverständnis, Verstehen von mir selber, wird auch Verständnis für andere, vor allem sein frühes Umfeld, möglich. Er kann wieder Hoffnung schöpfen. So sind Loslassen und Verzeihung möglich. Wenn man sich Vorwürfe macht, muß man sich klar machen, man hat es nicht besser gewusst. Es haben viele bewusste und unbewusste Gründe, Hintergründe, die sozusagen selbstverständlich sind, sich automatisch von selbst verstehen, zu meinem Handeln geführt. Zum Zeitpunkt des Handelns habe ich es nicht besser gewusst. Im Nachhinein ist man immer schlauer, aber die Besserwisser haben dann Hochkonjunktur. Bei mir selbst heißt Verstehen auch Akzeptieren, beim anderen kann ich verstehen, muß es aber nicht akzeptieren, weil es um meine Belange geht. Ich stehe selbst im Mittelpunkt meines Lebens bei allem Verständnis für die anderen.

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