Tod des „Renaissancemenschen“ des Blues

Die weit verbreitete Bezeichnung “Godfather of Rhythm ’n’ Blues“ deutet darauf hin, wird der Person aber nicht ganz gerecht. Johnny Otis war derart vielseitig, dass er in einem Nachruf auf www.allmusic.com von Bill Dahl wie folgt charakterisiert wurde: „Wenn der Blues in seinen Rängen jemals die Existenz eines ’Renaissancemenschen’ für sich beanspruchte, dann hat ganz sicher Johnny Otis diese Rolle ausgefüllt.“

Johnny Otis, am 28.1.1921 mit dem Namen John Veliotes in Vellejo/Calif. als Sohn erst kürzlich in die USA eingewanderter Eltern geboren, gehörte offensichtlich zur Gruppe jener europäischer Einwanderer, die sich gegenüber den in den USA herrschenden White Anglo-Saxon Protestants (WASPs) in jeder Hinsicht in einer Minderheitslage befanden. Wie die türkischen Gründer des New Yorker Jazz- und Soul-Labels ’Altantic’ oder polnische Juden wie die New Yorker Komponisten Doc Pomus und Mort Shuman oder die Brüder Chess in Chicago und die Komponisten Jerry Leiber und Mike Stoller, die alle eine gewaltige Rolle für die unter dem Namen ’R&B’ bekannte Populärmusik der US-amerikanischen Schwarzen gespielt haben, scheint diese soziale Lage auch Johnny Otis zu einer – in seinem Fall fast übermäßigen – Identifikation mit der schwarzen Minderheit in den USA bewegt zu haben. Er bezeichnete sich als „genetisch reinen Griechen“ und „kulturell reinen Schwarzen“. In der Tat wuchs er zu einer Zeit heran, da Kalifornien dank des 2. Weltkriegs zu einem Magnet für die schwarze Bevölkerung der Südstaaten des und Mittelwestens wurde und damit zu einem der wesentlichen Entstehungsorte der Art von Blues, Jump Blues und R&B, die deutlich durch die Musik der hart swingenden und besonders bluesgesättigten Big Bands des Mittelwestens geprägt waren. So begann er seine Karriere als Berufsmusiker – Schlagzeuger und später Vibrafonist und auch Pianist – 1943 in Los Angeles bei ’Harlan Leonard’s Rockets’, einer Band, in der auch Charlie Parker einige Zeit sein Horn blies. Johnny Otis’ Plattenkarriere begann 1945 mit dem Instrumental ’Harlem Nocturne’. Johnny Otis war ein guter Musiker und spielte mit führenden Jazzmusikern wie Art Farmer, Paul Quinichette, Lester Young, Ben Webster und  Bill Doggett oder Bluesern wie Eddy ’Cleanhead’ Vinson und Big Jay McNeely zusammen, war aber nicht überragend oder gar stilbildend. Seine eigentliche Bedeutung lag in seiner Fähigkeit, zukünftige Stars zu entdecken,  ihnen in seinem Club im Los Angeles eine Bühne zu bieten, mit ihnen erfolgreiche Platten zu machen und ihre Zukunft zu organisieren. Die Liste dieser Entdeckungen sprengt den hier zur Verfügung stehenden Platz. Zu den wichtigsten gehören Esther Phillips (’What A Difference A Day Makes’), Etta James (siehe junge Welt), Big Mama Thornton (Originalversion von ’Hound Dog’), die später in „The Coasters“(’Charlie Brown’),  umgetauften ’Robins’, Hank Ballard (der Erfinder des Twist), Little Willie John (’Fever’) und Jackie Wilson (’Higher And Higher’) sowie  die Bluessängerin philippinischen Herkunft Sugar Pie de Santo. All das macht ihn aber noch nicht zu dem „Renaissancemenschen“, von dem Bill Dahl sprach. Nicht nur wirkte er als A&R-Man verschiedener Plattenfirmen, im Fernsehen mit seiner „Johnny Otis Show“, als Komponist solcher Songs wie „Every Beat Of My Heart“, einem der ersten Hits der Soulsängerin Gladys Knight, sondern er schrieb Bücher – 1965 nach der Ermordung von Martin Luther King und dem darauf folgenden Aufstand in Watts, dem Schwarzenviertel von Los Angeles,  das Buch ’Listen To The Lamb’, drei Jahre darauf ein weiteres über Rassismus, Gewalt und Integration, 1973 ein weiteres über die Geschichte des R&B in Los Angeles und später sowie zwei Kochbücher – nahm 1992 das für einen Grammy nominierte Album ’Spirit of the Black Territory Bands’ auf, wirkte in zwei Filmen mit, gründete eine eigene Kirche, unterstützte einen schwarzen Politiker der ’Demokratischen Partei’, der es schließlich in den Kongress in Washington D.C. schaffte, förderte seinen Sohn Shuggie Otis als Bluesgitarristen, eröffnete einen Bio-Markt, züchtete seltene Vögel, hielt Anfang des 2. Jahrtausends an der ’University of California’ in Bekley eine Vorlesung über ’Jazz, Blues and Popular Music in American Culture’ und schuf Gemälde, Skulpturen und Holzschnitzereien (siehe http://www.johnnyotisworld.com/art/paintings/gallery.html). Wenige Menschen haben die ihnen gegebene Lebenszeit so umfassend genutzt.

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