Tierarzt oder Lotse? – Versuch zur Klärung einer Lebensfrage

Ole (links) und Rocco Starker auf der Brücke

„Da kommt sie!“, zeigt der Elfjährige mit ausgestrecktem Arm aufgeregt nach vorn. Sie – das ist noch ein weißer Punkt. Aber der wird zunehmend größer am flimmernden Horizont. Hinter einem schäumenden Bart verbirgt sie sich, die fast 90 Meter lange Schiffsdame. Bis ihr Name in dicken Lettern klar und deutlich am Steven zu lesen ist: „WILSON HUSUM“.

Rocco Starker spricht über Funk mit ihr, besser: mit ihrem Chef, dem Kapitän. „Machen Sie bitte die Lotsenleiter an Backbord klar!“, gibt er seine erste Anweisung. Als Seelotse in der Brüderschaft Wismar-Rostock-Stralsund (WiRoSt) soll er den 4000-Tonner durch die Nordansteuerung nach Stralsund begleiten. Ole indes würde lieber mit den Badenden am Neuendorfer Strand tauschen. Hiddensee am Sonntagnachmittag.

Mit elegantem Schwung kurvt das Barhöfter Lotsenboot „Schnatermann“ ums Heck des norwegischen Frachters. Sein Heimathafen ist das wenig norwegisch klingende Bridgetown. Wo das wohl liege, möchte Ole wissen. „In der Karibik, aber da war der Dampfer noch nie und da wird er auch nie hinkommen“, erklärt sein Vater, „so spart der Reeder Steuern“.

Vom Hauptdeck baumelt die Strickleiter an der blauen Bordwand herab. Ein Matrose wartet in orangefarbenem Overall. „Der steht da zu unserer Sicherheit“, beruhigt der Vater den Sohn, der mit großen Augen nach oben schaut. Von der Brücke winkt jemand freundlich in die Tiefe. Das macht Mut.

Am Limit

„Schnatermann“ schmiegt sich an die Backbordflanke. „Nu man los!“, ermuntert Starker Senior seinen Junior, der mit beiden Händen in die Sprossen greift und entschlossen nach oben klettert. Vater sichert von achtern, bis oben der Matrose zupackt. Kurzes Winken nach unten – und Tschüss! Die „Schnatermann“-Motoren heulen auf. Mit aufgerichtetem Steven dröhnt das Boot nach Süden. Begrüßung auf der Brücke. Die erste Frage an Kapitän Kjell Jenssen gilt dem Tiefgang. Mit 3,40 Meter ist der in Ballast fahrende Frachter am Limit, denn zugelassen sind für die Nordansteuerung bei Tage nur 3,70 Meter. „Wenn er morgen Abend wieder ausläuft“, spricht der Lotse neben Ole wie zu sich selber, „dann geht er 5,50 Meter tief“. „Wilson Husum“ gilt als das Starschiff im Stralsunder Hafen. Fast jede Woche macht es zum Gipsladen für Norwegen oder Schweden in der Hansestadt fest. Rund 200.000 Tonnen fährt das bei Lotsen beliebte Schiff pro Jahr ab, informiert der freundliche Kapitän. Er wohnt, wie es sich für einen Norweger gehört, an einem Fjord im hohen Norden. „Dort oben nördlich des Polarkreises“, schwärmt Jenssen, „haben wir noch richtig kalte Winter“. Erster Offizier Maciej Kluska, zu Hause in der ehemals pommerschen Landeshauptstadt Stettin, wie er sagt, schüttet derweil Kaffe für die Erwachsenen und Saft für Ole in dicke Tassen. Kluska ist ein alter Studienfreund von Kapitän Krzysztof Kotiuk von der „Hansa Stavanger“. Er freut sich über den mitgebrachten „Stern“ mit der Entführungsgeschichte vor Somalia.

Tierisches Vergnügen

Rocco Starker gibt jetzt den Kurs an und fädelt das Schiff in den engen Gellenstrom, durch den eine starke Strömung setzt. Die grünen und roten Fahrwassertonnen legen sich schräg. Das Wasser ist hier so klar, dass man bis auf den Grund sehen kann. Ole staunt, erst recht, als ein mächtiger Seeadler auf dem schneeweißen Sandwatt an der geschützten Insel Bock in Sicht kommt. Da wird er richtig aufgeregt. Sofort aber klingt das ab, als sein Vater auf die elektronische Seekarte zeigt: „Da fahren wir jetzt lang“. „Papa, das sehe ich da draußen doch viel besser!“, kommt wie aus der Pistolie geschossen die kindlich-logische und leicht genervte Antwort. Spricht ´s und richtet sein Fernglas wieder auf die Scharen von Wasservögeln.

Ein paar Mal lässt Kapitän Jenssen das Typhon losdröhnen, so dass Ole sich erschreckt, trotz Kopfhörern auf den Ohren. Segler vergessen manchmal nach achtern zu sehen, bis ihnen der blaue Brocken zu dicht auf die Pelle rückt. Der schmale Schlauch der Vierendehlrinne, verzeiht keine Fehler. Für Ole sind die Schwäne, die neben der Fahrrinne stehen, jedoch viel interessanter. Befragt, ob er denn mal Seemann werden wolle, sagt der Hundebesitzer ohne zu zögern: „Nöö, viel lieber Tierarzt“. Vater Starker hört ´s und grinst gelassen: „Das wird sich bestimmt noch paar mal ändern“.

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