Tier-Versuche – „tier. man wird doch bitte unterschicht“ vom Schauspielhaus Wien beim Autorentheatertreffen in den Kammerspielen

Szene aus dem Stück "tier. man wird doch bitte unterschicht." von Ewald Palmetshofer. © Alexi Pelekanos

Erika, die Hauptfigur im Stück, sagt: „das eine Tier ist das, das bleibt, wenn man den Menschen subtrahiert, das and’re ist der abgezog’ne Mensch, die Differenz, die leider auch zum Tier verkommen, kältestarr in irgendeinem Loch verscharrt, zur Auferstehung, Wandlung, Menschwerdung nicht gemacht.“ Dabei scheint es doch um eine Metapher zu gehen.

Aber Tier hin oder her, wenn Erika gegen Ende des Stücks sagt: „Die Tiere aller Länder kehr’n sich um, und ihre Tierheit schultern, ausgegraben dieses Mensch, mit Feuer in den Augen steh’n sie da, die Tiere aller Länder, steh’n und schau’n und sind bereit“, dann mag das, was da in kaum erträgliche Sprache verpackt ist, inhaltlich verstehen wer will.

Zu Beginn des Stücks erscheinen alle Mitwirkenden, außer der Darstellerin der Erika, als „Unsichtbares Komitee“, das allerdings sichtbar ist und dessen Name vielleicht in Anlehnung an die „Unsichtbare Universität“ in den Scheibenwelt-Romanen von Terry Pratchett entstanden ist. Den ChoristInnen sind im Programmheft Stimmlagen von Sopran bis Bass zugeordnet, in etwa zu ihren Sprechstimmen passend, denn gesungen wird nicht.

Das Komitee redet aus- und abschweifend um seinen Auftrag herum, die Fäulnis am Rand, oder vielleicht schon im Kern, aufzuspüren. Es geht, wie sich irgendwann herausstellt, darum, herauszufinden, ob der Brand im Haus des pensionierten Schuldirektors von einer aufständischen Unterschicht gelegt wurde. Das Komitee spricht auch den abgerissenen Satz aus dem Titel des Stücks ganz aus: „Man wird doch bitte Unterschicht sagen dürfen.“

Im Titel fehlen die beiden letzten Worte dieses Satzes. Das ruft Neugier hervor. Ähnlich simpel ist das gesamte Stück konstruiert: es gibt sich intellektuell mit der Unverständlichkeit einer grob gedrechselten Kunstgewerbesprache.

Das Komitee klingt anfänglich ein bisschen wie ein Chor aus einem antiken Drama. Erikas Sprache hört sich an wie aus der unbeholfenen Aktualisierung eines christlichen Mysterienspiels entlehnt. Eine, die so spricht, erscheint irreal, und tatsächlich wurde diese Erika aus der Realität herausgeschleudert dadurch, dass sie als Schulmädchen vom Sohn des Direktors vergewaltigt wurde. Schon vor der Tat wurde Erika von ihren SchulkameradInnen gemobbt und war Opfer von sexuellen Übergriffen durch die Jungen. Die Vergewaltigung, von den MitschülerInnen unterstützt, war auch dem Schuldirektor bekannt, der die Angelegenheit, um seinen Sohn zu schützen, vertuscht hat.

Erika ist in dem namenlosen Ort, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, hängen geblieben, arbeitet in der Dorfkneipe, betreut auch den zunehmend pflegebedürftig werdenden Schuldirektor, ist immer noch Mobbing-Opfer für ihre ehemaligen MitschülerInnen und rebelliert in unermüdlichem Redefluss gegen das Es, das sprach- und zukunftlose Tier, das sich seit der Vergewaltigung in ihr angesiedelt hat.

Indem sie Feuer legt und dadurch auch den Schuldirektor umbringt, kann Erika sich von dem Es befreien und ein Ich werden. Juristische Konsequenzen hat diese Tat nicht, denn das Komitee stellt fest, dass der Brand nicht in krimineller Absicht von Außenstehenden verursacht wurde.

Myriam Schröder als Erika bewältigt ihre Textungeheuerlichkeiten mit spielerischer Brillanz. Doch trotz Schröders schauspielerischer Überzeugungskraft lässt sich diese Rolle, die nicht nur das Vergewaltigungsopfer, sondern alle Unterdrückten und Ausgebeuteten in unserer Gesellschaft beinhaltet, nicht wirklich zum Leben erwecken.

Erfreulich ist Nicola Kirsch als Greisslerin. Inmitten all der konstruierten Gestalten ist hier eine ganz normale bösartige Tratsche zu hören, wie sie im realen Leben vorkommt.

Michael Gempart als Schuldirektor bringt ein weiteres Problem ins Spiel: Der alte Mann, dessen Sohn in der Stadt wohnt und der deshalb den Vater nicht beständig versorgen kann, fürchtet sich davor, ins Heim gebracht zu werden. Mitleid für diesen Menschen scheint jedoch nicht angebracht, denn in Rückblenden ist zu erleben, wie sadistisch dieser Mann während seiner Amtszeit mit seinen Schülern umgegangen ist.

Ewald Palmetshofer, geboren 1978 im Mühlviertel, in der Spielzeit 10/11 Hausautor am Nationaltheater Mannheim, wurde 2008 von „Theater Heute“ zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt. Sein Stück „hamlet ist tot. keine schwerkraft“ wurde zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen und ist derzeit in der Inszenierung von Alexander Riemenschneider in der Box des DT zu sehen.

„tier. man wird doch bitte unterschicht“ wurde im September 2010 am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt. Zu den Autorentheatertagen wurde die österreichische Erstaufführung vom Schauspielhaus Wien eingeladen, die, in der Inszenierung von Felicitas Brucker, im Januar 2011 Premiere hatte.

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