Tanz in den Tod – Bernardo Bertolucci fordert Marlon Brando zum “Letzten Tango in Paris” auf

Getrieben von Schmerz, Einsamkeit und Verzweiflung irrt Paul (Marlon Brando), ein Amerikaner mittleren Alters, durch die Straßen von Paris. Seine Frau hat sich vor kurzem das Leben geommen. In einer leeren Mietwohnung begegnet er der jungen Pariserin Jeanne (Maria Schneider). Sie beginnen eine leidenschaftliche, tabulose Affäre jenseits bürgerlicher Konvention, die beider Leben verändert. Es gibt nur eine Bedingung: Namen und Vergangenheit, individuelle Identität und Geschichte dürfen nicht erwähnt werden.

Der erste Ton des Tanzes auf dem Vulkan ist ein Missklang. “Fucking God”, ruft Hauptcharakter Paul (Marlon Brando). Der vom alternden Hollywoodheroen Marlon Brando gespielte Verbitterte ist ein Amerikaner in Paris. Der Selbstmord seiner Ehefrau hat ihn hergeführt. Diese vertraute Fremde, seine Frau, konnte Paul nie durchschauen, was er sich nicht eingestehen will und letztlich in einer bewegenden Grabbeschimpfungsrede zugeben muss. Paul glaubt, die Frauen zu kennen, nicht ohne Selbstgefallen, und hält sich für abgebrühter als er ist. Mag sein, dass Brando diesen Grenzgänger so überzeugend verkörpert, weil diese Eigenschaften teilweise auf ihn zutreffen. Ein wenig spielte Brando immer Brando und war deshalb am überzeugendsten, wenn der Filmcharakter Aspekte seiner eigenen Persönlichkeit aufwies. Pauls erstes Wort spielt eine zentrale Rolle in der Handlung. Im mehrfachen Sinne, wie “Der letzte Tango in Paris” immer auf mehreren Ebenen getanzt wird. Zum einen, dies ist die interessantere Facette, da in Bertoluccis Drama alle heiligen Kühe der Gesellschaft verflucht werden, die Kirche samt dem Lieben Gott, die kleinbürgerliche Familie, die Ehe und obendrein, da Bertolucci nicht nur auf das Konventionelle abzielte, die Popkultur. Paul verdammt sie in beiläufigen Dialogen und in Litaneien. Ebenso brisant waren einige “unaussprechliche” Worte, welche die Protagonisten äußerten und die heute kein Wimpernzucken mehr hervorrufen, “Menstruation” und “Hämorrhoiden” etwa.

Soviel zum “Fucking”, im Sinne von “verdammt“. Ebenso präsent ist die Wortbedeutung der physischen Vereinigung. Paul praktiziert sie mit der jungen Jeanne. Die wie ihre Filmfigur zwanzigjährige Maria Schrader spielt Jeanne hinreißend sinnlich, unbändig und naiv zugleich. Keineswegs physisch makellos, ist Jeanne eine unvergesslich verführerische Filmfigur, gerade ob der fühlbaren Echtheit ihrer Darstellung. Jeanne ist ein junges Mädchen und ihr Verlobter Tom (Jean-Pierre Leaud) dreht über sie einen Film über “ein junges Mädchen“. Dieser eingebildete Möchtegernavantgardist, bewaffnet mit einem Kamerateam, nimmt Jeanne vor die Linse und schwatzt bei seinem vermeintlich lebensnahen Porträt Jeannes so arriviert, dass es zur Selbstparodie wird. Jeanne ist von feinerem Geist. Sie spielt mit, entblößt die Affigkeit Toms, indem sie zu seiner Begeisterung pathetische Schaudialoge abliefert. Zudem erzählt sie ausführlich von ihrer Kindheit. Von dieser Vergangenheit will Paul im Gegensatz zu Tom nichts wissen. “Es gibt keine Namen.”, sagt er, nachdem Jeanne und er in einer leerstehenden Wohnung eine spontane Affäre begonnen haben. Eine reine Körperbeziehung soll beginnen, die daran zerbricht, dass Körper und Geist nicht trennbar sind, dass das eine immer spürt, was das andere fühlt. Die Körperbeziehung zeigt “Der letzte Tango in Paris” ohne falsche Scham, was Bertoluccis Film berühmt und berüchtigt machte. Nur zeigt das psychologische Drama keine plumpe Sexualgymnastik. Man sieht reichlich nackte Haut, vor allem die Maria Schraders. Darin kippt Bertoluccis Blick eine Spur ins Altmännerhafte, doch giert sein Kameraauge nicht der Schrader hinterher. Beim Akt sind sie und Brando meist bekleidet, sie halten sich bedeckt im doppelten Sinne, seelisch und physisch. Nackt und verspielt sind sie dafür bei ihren gegenseitigen Neckereien.

Jeanne und Paul sind die während des Vorspanns gezeigten Figuren Francis Bacons: schmerzverzerrte Körper, die ihr Innerstes nach außen kehren, im Glauben es zu verbergen. “Wie wollen Sie Ihren Helden, blutig oder gut durchgebraten?“, formuliert es Paul. In der seelischen Offenlegung ist Bertoluccis Drama entblößend, manchmal drastisch, doch niemals herabwürdigend. Kurz vor Schluss wird tatsächlich angetreten zum Tangowettbewerb. Dessen Sieger stehen längst fest, Schrader und Brando. Er wischt beim Tangotanz mit ihr das Parkett. Doch Jeanne entpuppt sich als die Starke. Paul wird schwach. Er setzt Jeanne die Pistole auf die Brust, aber sie drückt ab. Mit diesem stillen Knalleffekt ist der Tanz aus wie auch der lange aber nicht zu lange Film. Ein Meisterstück der Erotik, des Dramas und der Bildkomposition, welches die große Leinwand verdient. “Und nun meine Damen und Herren viel Glück beim letzten Tango!” ”¦in Paris.

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Titel: Der letzte Tango in Paris

Originaltitel: Ultimo Tango a Parigi

Genre: Erotik-Drama

Land/Jahr: Frankreich / Italien  1972 

Kinostart: 16. Juli 2009

Regie und Drehbuch: Bernardo Bertolucci

Darsteller: Maria Schrader, Marlon Brando, Jean-Pierre Leaud, Massimo  Girotti, Maria Michi

Verleih: Neue Visionen

Laufzeit: 136 Minuten

Internet: www.neuevisionen.de

FSK: ab 18

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