Sturzgeburten des Chaos – Ein kostbarer Prosa-Nachlass

© Graf Verlag

„Als wir Gangster waren“ umfasst ein knapp 60- seitiges gleichnamiges Romanfragment und vier Erzählungen. Inhaltlich greifen die Geschehnisse ineinander über, springen ein wenig vor und zurück in der Zeit, deren Mittelpunkt das anarchische Jahr 1945 bildet, in welchem der junge Storz erwächst. Zeitlich vor dem Romanfragment liegt die Erzählung „Ein Ausflug im Sommer“, aus dem obiges Stimmungsbild zitiert wurde. Ein Junge begleitet heimlich die Nachbarsfamilie und vor allem deren Tochter Inge auf einen Ausflug. Der heiße Sommertag dominiert die Handlung, und doch schiebt sich in die Wanderung durch üppige Landschaften und schwüle Phantasien ein Ereignis, das als voyeuristischer Antrieb hinter allem lauert. In der Kleinstadt Brimmern geschieht etwas, was niemand verpassen möchte”¦

Storz beschreibt die Alltäglichkeit eines diktatorischen Grauens mit einer Leichtigkeit, die den Atem nimmt. Wie konnte er, der diese Erzählung um 1970 vollendete, sich so minutiös an Details erinnern? Die zarte Begebenheit des ersten Kusses mit einer Aufführung verbinden, die an Brutalität nicht zu überbieten ist? Das Ganze obendrein noch karikierend durch die Anspielung auf Schulrat Schmucker, der von der Jugend insgeheim der „Schellenschmucker“ genannt wurde! „Schellenschmucker“ antwortete im Freibad zum Gaudi der armhochreißenden Teenager pflichtgemäß auf den Hitlergruß, aber „er hob jedes Mal den Arm so steil, dass sich auch der Träger hob und den ganzen Badeanzug auf der rechten Seite ein Stück nach oben zerrte und unten in der rechten Beinöffnung genau für die Dauer der Worte „Heil Hitler“ etwas von ihm heraushing”¦“

Wenige Sommer später ist der Krieg aus, üben sich Sechzehnjährige im Schnorren und Schmuggeln, erleben Erwachsene vorwiegend als weibliche Multitalente oder Amerikaner mit weichen Schuhsohlen. Als Gefangene wie die schlohweiß ergraute „SS-Möse“ Helma oder erschreckend zugerichtete KZ-Häftlinge. Zu dieser Zeit taucht Elmar in ihrer Schulklasse auf. „Wir alle waren ja Sturzgeburten des Chaos, aber Elmar und Helma kamen aus einem tieferen Dunkel –”¦“ Elmar schert sich um keine Regeln und übernimmt binnen kurzem auch das verspielte Schmuggelgeschäft der „Gangster“ in Schwäbisch Hall – bis es ihn selbst erwischt. Storz schaut in seinem Romanfragment von heute auf die turbulenten Tage und Wochen, kehrt nach sechzig Jahren an den Ort seiner Jugend zurück und sieht noch immer Elmar über den Hof laufen, er hatte nur noch wenige Schritte bis zum rettenden Torbogen”¦

In der Erzählung „Flatts Sieg“ knüpft der Romancier direkt an diese Ereignisse an und führt uns in eine bühnenhafte Situation, ein Theaterstück mit Happy End, das sonst nicht hätte erzählt werden können und einem eher stummen Protagonisten zu verdanken ist, dem ehemaligen Häftling Knobel. Darauf folgt noch einmal das Freibad seines letzten Romans („Die Freibadclique“ von 2008), der Sommer und das wunderbare „Lied der heißen Tage“, das von Muschi, dem Wischer erzählt. Wehmut erfüllt den Leser, der das Buch schließlich ausgelesen weglegt. Darüber, dass nun nichts mehr folgen kann, von einem späten und doch so jungen, unverbrauchten Schreiber, der uns leichtfüßig in die Felder und Schluchten seiner Sommer führte, danke, Oliver Storz!

Es sei auf die kongeniale Umschlaggestaltung mit dem Konterfei von zwei Grinse-Gangstern hingewiesen, die das etwas feierliche Vorwort, welches besser nachgestellt worden wäre, aufs beste aufhebt.

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Oliver Storz, Als wir Gangster waren, Prosa aus dem Nachlass, mit einem Vorwort von Dominik Graf, 185 Seiten, Graf Verlag, München, 2012, 18,50 €

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