Stehende Leichen – Stephan Kimmigs pointierte O’Neill-Inszenierung im Deutschen Theater

Für die Personen in seinem Stück wählte O’Neill Namen, die an die Namen ihrer griechischen Vorbilder anklingen. Ezra Mannon ist Agamemnon, Christine ist Klytaimnestra und Lavinia und Orin sind Elektra und Orest.

Götter gibt es in O’Neills Trilogie nicht mehr, und im Vergleich zu den antiken Gräueltaten sind die Verbrechen der Menschen sehr viel weniger monströs. Der Fluch der angesehenen  Reederfamilie Mannon hat erst mit dem Vater des derzeitigen Familienoberhaupts Ezra begonnen.

Abe Mannon, obwohl bereits Familienvater und von puritanischer Gesinnung, verfiel den Reizen des kanadischen Kindermädchens Marie Brantome. Marie liebte jedoch Abes Bruder Daniel, der sie heiratete, nachdem sie schwanger geworden war. Abe verstieß seinen Bruder, brachte ihn um sein Erbe und ließ sogar den geschändeten Familiensitz abreißen und an seiner Stelle einen Tempel des Hasses erbauen.

Ezra, als kleiner Junge in sein Kindermädchen verliebt, heiratet später Christine, die Marie ähnelt. Die Ehe zwischen dem strengen Puritaner und der sinnlichen Frau wird nicht glücklich, und Christine hasst nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter Lavinia, das Ergebnis ihrer Hochzeitsnacht. Den später geborenen Orin hingegen überhäuft Christine mit der Zärtlichkeit, an der es in ihrer Ehe mangelt.

Iphigenie fehlt bei O’Neill, die älteste Tochter, die von Agamemnon für guten Wind auf der Kriegsfahrt gegen Troja geopfert wurde. Dafür hasst Klytaimnestra ihren Mann verständlicherweise.

Ezra Mannon hat seiner Frau nichts Vergleichbares angetan. Er passt einfach nicht zu ihr und ist ihr im Verlauf ihrer Ehe immer widerlicher geworden. Grund, sich an den Mannons zu rächen, hat einzig Adam Brant (= Aigisthos). Er ist der Sohn von Ezras Onkel Daniel und Marie Brantome.

Adam lernt Christine kennen, während Ezra als General im Bürgerkrieg kämpft. Zunächst denkt Adam nur daran, den ihm verhassten Mannon zu demütigen, indem er ihm die Frau ausspannt, aber dann erwacht in Adam, der ja auch ein Mannon ist, leidenschaftliche Liebe zu der Frau, die seiner verstorbenen Mutter ähnelt, und Christine entbrennt für den Mann, der sie an den Ezra denken lässt, den sie liebte, bis sie mit ihm verheiratet war und seine fehlenden Liebhabertalente entdecken musste.

An Mord wird erst einmal gar nicht gedacht. Als Ezra jedoch zu Beginn des Stücks siegreich aus dem Krieg heimkehrt, ergibt sich die Tötung wie von selbst, denn Elektra hat ihrer Mutter nachspioniert und droht, Ezra über die Affäre mit Brant aufzuklären.

Der Krieg, bei O’Neill Hintergrund für die Handlung, ist in der Inszenierung von Stephan Kimmig Ursache für die private Tragödie. Die geschwächt und traumatisiert heimkehrenden Männer tragen den Krieg in die Familie hinein, wo er von den Frauen weiter geführt wird. Die neuen Feldherren sind Christine und Lavinia. Sie verteidigen ihre Territorien mit brillanten Strategien und mörderischer Entschlossenheit.

Im Unterschied zu den Männern, die durch die Vernichtung ihrer Feinde Ruhm erwerben, müssen die Frauen ihre Taten insgeheim ausüben, um nicht als Kriminelle vor Gericht gestellt zu werden. Die Frauen vermeiden deshalb auffällige Blutspuren und sorgen für dezente Tötungen.

Christine versetzt Ezras Medizin mit Gift, Adam Brant wird einfach die Nase zugehalten, und Christine und Orin werden dazu getrieben, sich selbst zu entleiben. Ezra und Adam bleiben als Tote aufrecht, Verweis auf die Achtlosigkeit, mit der die Opfer einfach stehen gelassen werden aber auch auf die Sagen, in denen Kriegshelden stehend, in ihren Stiefeln, sterben.

Das Töten im privaten Rahmen, ganz ohne Fanfaren und Kriegsgeschrei, erscheint als Groteske, die auch im Spiel der DarstellerInnen zum Ausdruck kommt.

Stephan Kimmig und der Dramaturgin Sonja Anders ist es gelungen, O’Neills ausufernden Dreiteiler in ein überschaubares Stück mit nur zweistündiger Spieldauer zusammenzukürzen, wobei auch die erzählte Vorgeschichte verständlich bleibt.

Sämtliche Nebenfiguren sind gestrichen. Als Außenstehende fungieren nur Hazel und Peter Niles, das sympathische Geschwisterpaar aus der Nachbarschaft, mit Lavinia und Orin seit ihrer Kindheit freundschaftlich verbunden und nun auch als EhepartnerInnen in Betracht kommend.

Natalja Belitski als Hazel ist anfangs voller Hochachtung für die angesehenen Mannons. Sie wagt kaum, das Haus zu betreten, stottert beim Sprechen und sieht so aus, als wolle sie am liebsten davon laufen. Je mehr sie das Böse spürt, das in der Familie geschieht, desto mehr verliert sich Hazels Schüchternheit. Schließlich tritt sie Lavinia fast wie eine Heldin gegenüber, und nachdem sie Orin nicht helfen konnte, gelingt es ihr immerhin, ihren Bruder zu retten.

Auch Peter (Sebastian Grünewald) erscheint zunächst unsicher und linkisch. Als er sich dann von Lavinia geliebt glaubt, packt ihn eine düstere Leidenschaft. Schließlich ist er aber doch zu schwach und zu gutartig, um Lavinias Erwartungen zu entsprechen. Lavinia wendet sich lachend von ihm ab wie von einer allzu leichten Beute.

Maren Eggert ist als Lavinia eine Frau mit vielen Gesichtern, ein verlorenes Kind, das um Geborgenheit bettelt und den bewunderten Vater beschützen will, eine enttäuschte Liebende, die den Schmerz über Adam Brants Verrat  fest in sich verschließt und in Hass und Rachsucht verwandelt, eine Kämpferin, die endlich triumphierend ihre Mutter besiegt, nach deren Tod eine von leidenschaftlicher, maßloser Lebensgier Besessene und am Ende eine Gescheiterte, die sich selbst bestraft.

Diese Lavinia ist keine Heldin. Sie ist eine Kranke, verletzbar und bösartig, mutig und heimtückisch. Sie ist immer wachsam, begreift blitzschnell, was in den Menschen um sie herum vorgeht, weiß es für ihre Pläne zu nutzen und entzieht sich mit ihrem Irrwitz jeder Empathie.

Die verstörte Lavinia ist ein Opfer ihrer Mutter, die in ihrer Tochter wohl nicht nur ihren Ehemann hasst, sondern auch die mögliche Rivalin. Friederike Kammer rauscht bei ihrem ersten Auftritt als Christine herein wie eine Herrscherin, die sich ihrer Macht bewusst ist. Die majestätische Präsentation erweist sich jedoch als fragwürdig, wenn Christine sich gleich darauf  aufreizend und ein bisschen vulgär gibt.

Erschreckend ist die Gleichgültigkeit und Kälte, mit der Christine ihrer Tochter leichthin auseinandersetzt, weshalb sie nicht imstande war, sie zu lieben, und ein ganz mieses Spiel treibt Christine, wenn sie Hazel in ihre Intrigen hineinzuziehen versucht. Klasse hat diese Christine nicht, aber eine unwiderstehliche Wirkung auf Männer, auch auf ihren Sohn, der ihr in inzestuöser Liebe verfallen ist. Die ist aber auch die Schwachstelle, die Lavinia nutzt, um Orin  gegen die Mutter aufzubringen.

Eifersucht veranlasst Orin dazu, Christine in den Selbstmord zu treiben. Den Mord an seinem Vater könnte Orin seiner Mutter verzeihen, nicht jedoch ihr Verhältnis mit Adam.

Orin (Alexander Khuon) ist traumatisiert durch seine Kriegserlebnisse. Physisch ist er, trotz Kopfverletzung, nicht beeinträchtigt. Er steht ganz selbstverständlich aus dem Rollstuhl auf, in dem er nach Hause gekommen ist. Das Töten jedoch, für das er als Held gefeiert wurde, hat ihn völlig aus der Bahn geworfen. Übergangslos wechseln seine Stimmungen von Verzweiflung und Angst zu stumpfer, brutaler Gleichgültigkeit. So gehorsam, wie er  sich von seinem Vater und seiner Schwester in den Krieg schicken ließ, begeht er schließlich Selbstmord auf Anweisung von Lavinia.

Die Männer im Stück werden von den Frauen wie Spielfiguren hin- und hergeschoben und begreifen nicht einmal, was mit ihnen geschieht. So versucht Ezra Mannon (Helmut Mooshammer), seine Ehe zu retten, während Christine seinen Tod schon beschlossen hat und ihn so lange provoziert, bis er seine Medizin verlangt, in die Christine das Gift mischt.

Helmut Mooshammer wirkt fast zu milde für den strengen General. Der aber ist kriegsmüde, hat zu viele Tote und zu viel Blut gesehen und sehnt sich nach Leben. Während er seine Frau anbettelt, mit ihm zu reden, findet er befehlshaberisch harsche Worte für seine Tochter, die ihm in ihrer berechtigten Besorgnis allzu aufdringlich erscheint.

Bernd Moss als Adam Brant hat keine Zeit, den Charme des romantischen Kapitäns auszuspielen. Dieser Adam ist ein Gehetzter, der die Regeln nicht versteht, die sein derzeitiges Leben bestimmen. Er muss akzeptieren, dass er Ezra nicht im offenen Kampf gegenübertreten darf. Obwohl er Skrupel hat und sich als Feigling empfindet, überlässt er sich willig der Führung von Christine.

Die Darstellungs- und Sprechweise der AkteurInnen verändert sich im Lauf des Stücks. Aus standesbewussten VertreterInnen der bürgerlichen Oberschicht zu Beginn des 20. Jhs. werden allmählich Menschen unserer Zeit, ohne dass der Text gewaltsam modernisiert wäre.

Diese Annäherung ans Heute zeigt sich auch in den Kostümen von Anja Rabes. Zu Beginn tragen die Frauen ausladende Reifröcke und die Männer schnittige Uniformen, dann wird die Kleidung zunehmend legerer.

Katja Haß hat wieder einmal ein beeindruckendes Bühnenbild geschaffen, einen Marmor getäfelten, fensterlosen Raum, der bedrohliche Enge und Kälte vermittelt. Dieser Bunker, in dem die Kriegstraumata ein wahnwitziges Eigenleben entwickeln, wird am Ende zur Familiengruft, in die Lavinia sich einschließt.

Die einfühlsame Begleitung von Livemusiker Ingo Schröder ist eine geniale Ergänzung zum dramatisch-grotesken Bühnengeschehen.

„Trauer muss Elektra tragen“ von Eugene O’Neill hatte am 18.10. im Deutschen Theater Berlin Premiere. Nächste Vorstellungen: 11., 17. und 30.11., sowie 04., 12. und 25.12.2011.

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