Standing Ovations fürs Thalia Theater und eine Lektion in Empathie vom Theater Bremen – „Das achte Leben (für Brilka)“ und „GAS, Plädoyer einer verurteilten Mutter“ bei den Berliner Autorentheatertagen 2018

Roter Vorhang. Quelle: Pixabay, gemeinfrei

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es ist kaum möglich, den zahlreichen Lobeshymnen für Jette Steckels Inszenierung „Das achte Leben (für Brilka)“ etwas noch nicht positiv Hervorgehobenes hinzuzufügen. Allerdings wurde das Werk auch von der Jury des Theatertreffens diskutiert und nicht ausgewählt. Bemerkenswert ist es schon, dass noch keine von Jette Steckels Arbeiten beim TT zu erleben war.

Umso erfreulicher, dass es die Autorentheatertage gibt, wo das Berliner Publikum mit Begeisterungsstürmen und Standing Ovations auf das Gastspiel des Hamburger Thalia Theaters reagierte.

Nach fünf Stunden mit einer Pause, nach der fast alle wieder ihre Plätze eingenommen hatten, schien es so, als wollten die Zuschauer*innen die Menschen auf der Bühne gar nicht wieder loslassen. Die waren doch so lebendig aus dem Roman herausgesprungen als wäre es ihnen zu eng geworden zwischen den Buchseiten. Sie hatten ihre Geheimnisse preisgegeben, hatten an ihrem Leid, und manchmal auch an ihrem Glück teilhaben lassen, und sie hatten die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt aus georgischer Perspektive, die sich von der des Westens erheblich unterscheidet.

Emilia Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel haben aus Nino Haratischwilis 1273 Seiten-Roman ein Konzentrat erstellt, in dem alles Wesentliche, eng zusammengedrängt, enthalten ist. Manchmal wechseln Zeiten und Schauplätze in rasantem Tempo, aber es gibt auch sehr intensive Szenen, die qualvoll lange dauern oder genussvoll ausgekostet werden.

Wie im Roman gibt es auch im Stück eine Erzählerin, Niza, 1973 geboren, in fünfter Generation der Familie Jaschi. Niza erzählt jedoch nicht sehr viel, der Text ist zum größten Teil szenisch umgesetzt. Die Titel der acht Bücher des Romans erscheinen auf einer Tafel über der Bühne. Jedes Buch behandelt das Leben eines Familienmitglieds und trägt seinen Namen.

Den Anfang macht Stasia, 1900 geboren als Tochter eines Schokoladenfabrikanten. Als alte Stasia reinigt Barbara Nüsse einen Wandteppich und erklärt ihrer Urenkelin Niza (Lisa Hagmeister) Geschichte und Symbolik dieses Familienerbstücks.

Der Teppich wird zum wichtigsten Bestandteil von Florian Lösches Bühnenbild. Ein riesiger Teppich, der über eine Rolle immer ein Stück weiter von oben herabkommt, schließlich die ganze Bühne bedeckt und über die Rampe hinaus bis in den Zuschauerraum flutet, ein Kunstwerk, in das die Geschichte der Familie Jaschi und ihrer Zeit hineingewebt ist.

Barbara Nüsse verwandelt sich in die siebzehnjährige Stasia, ein eigenwilliges, dabei liebenswürdiges Mädchen, das im Herrensitz reitet, die Musik liebt, seit seiner Kindheit nur tanzen wollte und entschlossen ist, nach Paris zu fahren und sich dort beim Ballet Russe zur Tänzerin ausbilden zu lassen.

Aber dann verliebt sich Stasia in Simon Jaschi, Oberleutnant der Weißen Garde, und heiratet ihn. Diesen eleganten Charmeur, der flott auf einem imaginären, fröhlich wiehernden Pferd angeritten kommt, spielt Mirco Kreibich neben zehn anderen Rollen. In immer neuer Verkleidung mit immer anderer Stimme und unterschiedlichster Gestik und Mimik lässt Kreibich Frauen und Männer, gute und böse, lebendig werden, d.h. er tupft sie so hin, skizziert sie ohne ihnen ganz feste Konturen zu geben.

So eine hingetupfte Gestalt ist auch Mirco Kreibichs Brilka, für die Niza die Familiengeschichte geschrieben hat. Das achte Buch ist Brilka gewidmet, und im Roman folgen auf den Titel zwei leere Seiten, denn Brilkas Leben soll von ihr selbst gestaltet werden. Sie ist zwölf Jahre alt, so selbstbewusst und rebellisch wie alle Frauen der Familie Jaschi, und sie will Tänzerin werden wie ihre Ururgrossmutter Stasia. Vor Beginn des Stücks fliegt Brilka, mit einem Tutu über ihren Jeans, tanzend über die Bühne.

André Szymanski verkörpert drei Generationen der Familie Eristawi, beginnend mit Stasias Freundin Sopio, einer geheimnisvoll faszinierenden Dichterin, die durch einen Genickschuss endet. Ihr Sohn Andro, der einen Film über seine Mutter drehen wollte, kehrt als gebrochener Mann aus einem Arbeitslager zurück, und sein Sohn Miqa wird in einem Gefängnis zu Tode geprügelt.

Die Politik greift nicht nur von außen in das Leben der Menschen ein. Stasias lebensfroher Halbschwester Christine (Karin Neuhäuser) wird ihre Schönheit zum Verhängnis, aber sie nutzt die ihr brutal aufgezwungene Verbindung zum Geheimdienst, um ihre Familie zu schützen. Stasias Sohn Kostja (Sebastian Rudolph) wird vom sensiblen kleinen Jungen zum Helden im 2. Weltkrieg, entwickelt sich nach einer verlorenen Liebe zu einem verbitterten, bösartigen Menschen, der das Leben seiner Tochter Elene (Cathérine Seifert) zerstört, und als Mitarbeiter des Geheimdienstes dafür sorgt, dass seine Schwester Kitty (Maja Schöne), nach London übersiedelt nachdem sie Mittäterin bei einem Mord war, für den Kostja verantwortlich ist.

Es gibt viele Tote in diesem Stück. Kitty macht als Sängerin Karriere, begeht aber am Ende Selbstmord, vereinsamt und von traumatischen Erinnerungen verfolgt. Viel später bringt ihre Großnichte Daria (Franziska Hartmann) sich um, eine nach Anfangserfolgen gescheiterte Schauspielerin mit einer unglücklichen Liebe. Sie ist Nizas Halbschwester und die Mutter von Brilka.

Trotzdem wird gelebt, gefeiert, herumgealbert, gesungen und getanzt. Kinder bekunden mit Quäkstimmchen ihr Erscheinen auf der Welt, wachsen heran und werden unglücklich. Manches erscheint komisch, obwohl es entsetzlich ist wie Elenes Verführung des arglosen Miqas oder ein Totschlag mit einer Toilette zu Walzerklängen.

Pauline Hüners hat wundervolle Kostüme gestaltet, manche die unterschiedlichen Zeiten nur andeutend, aber auch so prachtvolle wie die roten Gewänder bei Christines Fest, bei dem sich das Leben der Gastgeberin erschreckend verändert.

In Filmeinblendungen sind die Machthaber zu sehen, deren Namen nicht genannt werden. Es geht nicht um sie, es geht um ihre Opfer, um Menschen, die in einem Jahrhundert leben mussten, „das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften.“

Zusammengehalten werden diese Menschen durch Stasia, auch eine Betrogene, aber tanzend bis ins hohe Alter, manchmal resigniert, weltabgewandt, Geister sehend, dann jedoch plötzlich immer noch kämpferisch und pragmatisch. Und wenn Barbara Nüsse, völlig unsentimental in einem trockenen Ton, liebevoll zu Niza sagt, sie sei etwas ganz Besonderes, dann bleibt die Zeit stehen, einen unvergesslich schönen Augenblick lang.

Das Publikum zu Tränen zu rühren, wie es den Schauspieler*innen in Jette Steckels Inszenierung einige Male gelingt, geschieht selten auf deutschen Bühnen.

Gefühle sind dort seit langer Zeit in Misskredit geraten. Theater gibt sich intellektuell und gesellschaftskritisch und grenzt sich, zugunsten der Ratio, gegen Emotionen ab, zumindest gegen das Mitleiden. Coolness ist angesagt, mit flotten Sprüchen lassen sich Tragödien kommentieren, und weil das Theater einen Bildungsauftrag hat, muss das Publikum aufgerüttelt und zum Denken gezwungen werden. Wut und Ekel sind erlaubt, aber nicht Empathie. Tränen der Freude oder der Trauer dürfen, auch von harten Männern, nach Fußballspielen vergossen werden, aber nicht im Theater.

Dabei sind coole Zyniker keine angenehmen Zeitgenossen, Schocks lähmen das Denken statt es zu beflügeln, und Ekel ist nicht der Kitt, der eine erlebenswerte Gemeinschaft zusammenhalten könnte.

Der belgische Dramatiker Tom Lanoye hat sich offenbar nicht vor dem Vorwurf der Rührseligkeit und des Drucks auf die Tränendrüsen gefürchtet als er sein Stück schrieb „GAS – Plädoyer einer verurteilten Mutter“, in dem reichlich geweint wird, auf der Bühne wie im Zuschauerraum, und das als Gastspiel des Theaters Bremen bei den Autorentheatertagen zu erleben war.

Tom Lanoye erzeugt nicht einen Schock, sondern er löst einen Schock auf. Es ist ein schockierender Gedanke, der Mutter eines Attentäters zu begegnen, eines zum Islam konvertierten Fanatikers, der von Polizisten erschossen wurde, nachdem er 200 Menschen mit Giftgas getötet hatte. Mit der Trauer einer Frau um ein solches Monster möchte doch niemand etwas zu tun haben. Wenn sie nicht imstande ist, sich von diesem Sohn zu distanzieren, den vielfachen Mörder aus ihrem Leben zu streichen, dann ist das vielleicht verständlich jedoch kaum zu verzeihen. Mit ihrer Trauer bleibt sie dem Täter verbunden und schließt sich damit selbst aus der Gesellschaft aus, die mit den Angehörigen die Opfer beklagt. Es ist besser, einer solchen Frau aus dem Weg zu gehen.

Aber da sitzt sie, in der Box des Deutschen Theaters, in der sich Nähe zwischen Darstellerin und Publikum leicht herstellen lässt. Sie sitzt in ihrer Küche am Tisch in Jeans und einer bunt gemusterten Bluse. Vor ihr steht ein Becher mit Milchkaffee, den sie mit den Händen umschließt.

Fania Sorel beginnt zu sprechen. Sie erzählt von der Geburt ihres Sohnes, nach der sie sich, trotz der Schmerzen und nachdem er schließlich per Kaiserschnitt geholt werden musste, vollkommen gefühlt habe. Sie berichtet über seine Kindheit, auch über die Trotzphase, die sie mit ihm durchgestanden hat. Den Namen ihres Sohnes spricht sie nicht aus. Er war ein Kind und ein Jugendlicher wie alle anderen. Später, nach seinem Übertritt, hat er sich einen neuen Namen gegeben, den seine Mutter sich nicht merken wollte.

Eineinhalb Stunden lang spricht Fania Sorel. Meistens hat sie Tränen in den Augen. Sie ist kurz vor einem Zusammenbruch, aber sie hält sich aufrecht. Die Rede ist fast zu gut strukturiert, um von einer Frau in einer so verzweifelten Situation gehalten zu werden. Sie müsste sich doch wiederholen, aus dem Konzept geraten, plötzlich Unsinn reden.

Sie bemerkt ja nicht einmal, dass die Kanne in ihrer Kaffeemaschine überläuft, geht achtlos durch die Lachen auf dem Fußboden. Sie gießt Milch in ihren Kaffeebecher, der überfließt ohne dass sie darauf reagiert. Sie rührt einen Kuchen zusammen, schlägt Eier hinein und wirft dann ganze Eier mit der Schale dazu.

Diese Frau ist am Ende, hat niemanden mehr, mit dem sie reden könnte, wird von Reportern verfolgt und in den Medien angeprangert. Psychologen finden Erklärungen dafür, weshalb ausgerechnet dieser junge Mann zum Attentäter wurde. Aufwachsen ohne Vater ist Grund genug. Ein anderer behauptet, es sei der Kaiserschnitt gewesen, der eine Fehlentwicklung bewirkt habe.

Fania Sorel überzeugt mit dem Plädoyer, in dem alle Aspekte enthalten sind, unter denen der Fall dieser Frau, die wie ihr Sohn keinen Namen hat, betrachtet werden kann. Diese Mutter hat kein anderes Interesse, als ganz genau zu überprüfen, weshalb ihr Sohn zum Verbrecher werden konnte. Sie hat alles richtig machen wollen und kann nicht entdecken, wo sie versagt haben könnte. Hätte sie ihm verbieten sollen, dass er, wie alle seine Freunde, zu viel Zeit vor seinem Computer verbrachte? Er wurde nie auffällig, hat die Schule und ein Studium ordentlich abgeschlossen. Hätte sie ihn zurückhalten sollen als er, als erwachsener Mann, aus der Wohnung seiner Mutter auszog und ihm nachspionieren, als er sich nicht mehr bei ihr meldete?

Mit dem bärtigen Toten, der ihr in der Gerichtsmedizin gezeigt wurde, fühlt sie sich nicht verbunden, und seine Tat verabscheut sie. Sie trauert auch um die Menschen, die ihr Sohn ermordet hat und fühlt sich ihnen verbunden, auch wenn die nichts mit ihr zu tun haben wollen. Das Recht, das Kind, das sie kannte und aufgezogen hat, weiterhin zu lieben, will sie sich nicht nehmen lassen.

Fania Sorel hat mit ihrer Regisseurin Alice Zandwijk das eindringliche Porträt einer Frau geschaffen, die völlig unerwartet in eine schreckliche Situation gerät. Ausstatterin Nadine Geyersbach hat einen Trickfilm gestaltet, der die Vorstellung begleitet. Neben der Küche, in der die Mutter sitzt, ist ein leeres Zimmer mit einer Schrankwand. Dort erscheint mehrfach ein skizzierter Junge, der sich im Zimmer bewegt oder in einem ebenfalls skizzierten Bett liegt. Manchmal ist das schemenhaft gezeichnete Gesicht des Jungen durchgestrichen.

Die Tränen von Fania Sorel sind ansteckend, aber sie vernebeln das Hirn nicht. Ganz im Gegenteil bewirken sie die Auseinandersetzung mit den Vorurteilen und Schuldzuweisungen, mit denen wir alle es uns oft allzu leicht machen.

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