Philosophiererei ohne Ende – „Peer Gynt“ in Netzeband – Der Theathersommer Netzeband versucht sich nach Goethe und Shakespeare an einem Nationalepos

© Theatersommer Netzeband, Foto: Jacqueline Schulz, 2016

Netzeband, Brandenburg, Deutschland (Weltexpress). Einer zog aus, das Fürchten zu lernen, ein anderer wollte wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und schaffte es immerhin, einen Sumpf trocken zu legen. Hier begibt sich ein gewisser Peer Gynt, ein Bauernsohn aus Norwegen, in die Welt, auf der „Suche nach Anerkennung, Abenteuern, nach einer neuen Identität, nach Glück“. So interpretiert das Programmheft des Theatersommers Netzeband die Story des Dichters Henrik Ibsen aus dem Jahre 1867, auch als norwegisches Nationalepos deklariert.

© Theatersommer Netzeband, Foto. Jacqueline Schulz, 2016
© Theatersommer Netzeband, Foto: Jacqueline Schulz, 2016

Die Geschichte sei hier erzählt, weil kein Theater sie spielt – oder du musst 170 Seiten lesen: Peer Gynt, Sohn eines verkrachten Bauern aus den norwegischen Bergen, ein Angeber, Raufbold und Schürzenjäger, macht sich interessant durch Lügengeschichten, zum Beispiel, dass er Kaiser werde. Bei der Dorfjugend ist er unbeliebt und wird gemieden. Es gelingt ihm, Ingrid, die Tochter eines reichen Bauern, just an ihrem Hochzeitstag zu verführen (und gleich noch die schöne Solveig zu erobern). Wegen des Skandals muss er aus dem Dorf weg. Er sucht sein Heil beim König der Trolle, der ihm seine Tochter und sein halbes Reich um den Preis anbietet, auf Kontakte zur Außenwelt zu verzichten und »sich selbst genug zu sein«. Das lehnt Gynt ab. Nach einem Sprung von etlichen Jahren sieht man ihn wieder als reichen Mann in Amerika, der sein Vermögen durch Sklavenhandel gemacht hat. Gerade das Interessanteste, wie er das mit Gewalt, Betrug und Ausbeutung erreicht hat, bringt Ibsen nicht auf die Szene. Es wird erzählt. Gynts Reichtümer werden gestohlen, er versucht sich als Prophet in der Wüste und landet bettelarm in einem Kairoer Irrenhaus. Er findet zu Gott, kehrt alt und verarmt zurück und stirbt – noch nicht. Erst will ihn der „Knopfgießer“ umschmelzen und in die Ausschussmasse gießen. Als Individuum sei er zu uninteressant. Der Clou: er käme frei, wenn er ein Sündenregister vorweisen könnte. Das könnte ihn vor dem Teufel retten. Darüber wird endlos diskutiert. Niemand will für ihn zeugen. Er wird nur gerettet durch Solveig (das ewig Weibliche), indem sie ihn segnet, womit er in den Himmel kommt. Zuvor vergleicht er sich mit einer Zwiebel, die keinen Kern hat – wie er. Die Moral: versuch nicht, ein anderer zu werden, sei dir selbst genug. Was als Ibsens Protest gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden soll, mündet in der Zwecklosigkeit, sich oder die Verhältnisse verändern zu wollen.

© Theatersommer Netzeband, Foto. Jacqueline Schulz, 2016
© Theatersommer Netzeband, Foto: Jacqueline Schulz, 2016

Der Theatersommer Netzeband besteht seit zwanzig Jahren. Das Einmalige an ihm ist das Synchrontheater: das Spiel mit Masken, zelebriert zu Stimmen vom Band, von Schauspielern besprochen. Das Agieren zu den Stimmen überhöht und verdeutlicht die Vorgänge auf der Bühne. Das macht es den Schauspielern leichter, die Figuren nicht zu „verkörpern“, sondern auszustellen. Aus diesem Grunde haben auch Brecht und Besson gern diese Form gebraucht.

Stücke mit historischen Figuren, mit Geistern, Fabelwesen und Tieren bieten sich für das Synchrchrontheater an, natürlich auch „Peer Gynt“ mit seinen Trollen. Die Story von Peer Gynt aber ist vom ersten Moment an unglaubwürdig und stimmt von vorn und hinten nicht. Das Programmheft versichert, der Norweger Andree-Östen Solvik, Absolvent der Filmhochschule Babelsberg, der bereits in „Moscow“ auf der Bühne stand, inszeniere das norwegische Nationalepos und bringe trotzdem Norwegen nicht nach Brandenburg. Solvik aber findet eine „Parallele“ zu Brandenburg: „Viele Menschen haben nach der Wende Brandenburg verlassen, um ihr Leben zu verwirklichen. Zwangsläufig brachte das eine Neuorientierung der eigenen Identität mit sich. Wer bin ich und wie soll mein neues Leben aussehen? … Was musste ich hinter mir lassen, um diesen Schritt machen zu können und war er das wert?“ Der Regisseur sehe Peer aus der Perspektive eines Mannes, der aus dieser Gegend kommen könnte, wird erklärt.

© Theatersommer Netzeband, Foto. Jacqueline Schulz, 2016
© Theatersommer Netzeband, Foto: Jacqueline Schulz, 2016

Eine schöne Legende ganz im Sinne des „Zusammenwachsens“ „der Deutschen“. In Wahrheit gingen die Leute aus dem Osten von ihren stillgelegten Betrieben nach Lohn und Brot, um überhaupt existieren zu können. Sie folgten keinen Träumen. Die hatten sie eher verloren. Das Stück stimmt nicht, und der „aktuelle Bezug“ erst recht nicht. Etwas zu lernen wie aus „Die Nibelungen“ oder „Faust“ oder „Richard III.“ ist hier nicht. Allenfalls die Moral für die Kleinbürger: Wer hoch fliegt, wird tief fallen. Ein Fehlgriff.

Inszenierungen von vier bis fünf Stunden kommen in Mode. Wie aber Frank Matthus, ein erfahrener Theatermann, eine Sommertheater-Inszenierung dreieinhalb Stunden lang auswalzen lassen kann, ist schwer zu erklären. Wer kommt noch mit, wenn nach 23 Uhr philosophiert wird ohne Ende? „Ausgewertet“ werden ohnehin Episoden, die der Zuschauer schon gesehen hat. Der Sponsor Sparkasse Ostpriegnitz-Ruppin hatte „umwerfend gute Unterhaltung“ gewünscht!

© Theatersommer Netzeband, Foto. Jacqueline Schulz, 2016
© Theatersommer Netzeband, Foto: Jacqueline Schulz, 2016

Wie immer gibt es schöne Regieeinfälle, zum Beispiel die Rede des in Amerika „angekommenen“ Politprofis Peer Gynt. Die Laienschauspieler und –tänzer agieren großartig. Die Musik von Edward Grieg (im Programmheft vergessen) versöhnt ein bißchen mit der Langeweile. Der Song des Oktoberklubs, „Sag mir, wo du stehst“, als Hymne der Trolle – darauf muss man erstmal kommen. Ein Seitenhieb auf „früher“ muss ja sein.

Als Jubiläumsinszenierung enttäuschend. Frank Matthus inszeniert nicht mehr – er leitet die Kammeroper Rheinsberg. Das neue Team überzeugt nicht. Hoffnung macht das Brecht-Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ für den Sommer 2017. Für das Synchrontheater ist der Fundus unerschöpflich, zum Beispiel „Der kaukasische Kreidekreis“ oder „Mahagonny“ oder vielleicht „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Wallenstein! Aber auch das wäre Frühgeschichte. Wäre es nicht an der Zeit für Stücke des Volkstheaters von Peter Hacks, Rudi Strahl, Heiner Müller, Volker Braun? Für die Menschen von hier. Nicht auszumalen: die Verfremdung von DDR-Leben. Oder dramatisierte Romane von Christa Wolf (Medea!), Hermann Kant, Erwin Strittmatter. Stoff für die nächsten zwanzig Jahre.

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Vorstellungen am 5.,6.,12.,13.,19.,20.,26.,27. August 20167, 20:30 Uhr.

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