Pervertierung des Arztberufs – Eine wissenschaftliche Konferenz widmete sich der Täterforschung vor dem Hintergrund der »Führerschule der deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse

Die Rassen- und Vernichtungsideologie der Nazis war Programm und seit 1925 in Hitlers »Mein Kampf« formuliert. Die ersten gesetzlichen Grundlagen wurden unmittelbar nach der  Errichtung des Naziregimes gelegt: mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April 1933), mit der Verordnung über die Krankenkassenzulassung von Ärzten (22. April)  und mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (14. Juli ). Im Januar 1934 wurden die ersten von zirka 400 000 Zwangssterilisationen durchgeführt. Und als weitere Folge 150 000 bis 200 000 Euthanasiemorde zwischen 1934 und 1945. In den psychiatrischen Anstalten wurde der Großversuch für den millionenfachen Mord an Juden, Sinti und Roma durchgeführt.

Verbrechen dieses Ausmaßes waren nicht zu bewältigen ohne ein Heer von Erfüllungs-gehilfen: Ärzte, Richter, Pflege- und Verwaltungspersonal, Hebammen und Wachmannschaften. Eine Schlüsselrolle kam den Ärzten zu, die Behinderte sowohl stationär als auch in ihren Praxen betreuten, die »Erbkranke« meldeten und Gutachten abgaben für die »Erbgesundheitsgerichte« (für Zwangssterilisationen) und später für die Tötungsaktionen. Angesichts von Arbeitslosigkeit und Armut fiel die von den Nazis entfaltete Propaganda für einen »gesunden Volkskörper« auf fruchtbaren  Boden. 

1935 wurde im Park des Gutes Alt Rehse am Tollensesee die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« eingeweiht. Dieses Schulungslager – auf Initiative des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, der sich als »Kampforganisation der Volksgesundheitsidee« verstand, und des Hartmannbundes, dem  Martin Bormann 1934 das Gut durch Enteignung zugeschanzt hatte, errichtet –  erfreute sich von Anfang an der Gönnerschaft weiterer Nazigrößen wie Rudolf Heß, Gerhard Wagner,»Reichsgesundheitsführer«, und  dessen Nachfolger Leonardo Conti. 

Bis 1943 wurden in ein- bis zweiwöchigen Lehrgängen etwa 10 000 Ärzte, darunter 2 500 »Jungärzte«, und darüber hinaus 2000 Apotheker und Hebammen geschult. Im Mittelpunkt stand die Rassenlehre und ihre Realisierung. Die Ärzte sollten sich als medizinische Elite und als »ärztliche Führer« im NS-Staat verstehen. Die Wirkung der Kurse auf die ethischen Vorstellungen der Teilnehmer und auf ihre weitere Karriere lässt sich ohne Kenntnis der Biographien vorerst nicht nachweisen. Auch nicht, inwieweit sich die Kursanten schließlich an Verbrechen beteiligten. Wichtigste Quelle wären die Teilnehmerlisten der Lehrgänge. Die wurden vermutlich vor der Einnahme des Ortes durch sowjetische Truppen vernichtet.

Der Aufklärung der in Alt Rehse engagierten Täter – Dozenten und Kursanten – sollte eine Tagung der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse und der Rosa-Luxemburg-Stiftungen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern vergangene Woche in der Hochschule Neubrandenburg dienen. Die Vorträge von Historikern widmeten sich vorwiegend den  Biographien von prominenten Medizinern, die in Alt Rehse Dozenten waren oder den Inhalt der Lehrpläne bestimmten. Judith Hahn, Berlin, analysierte die Karrieren der führenden SS-Ärzte Ernst Robert Grawitz und Karl Gebhardt. Beide hatten Schlüsselstellungen im Sanitätsdienst der SS, ihnen unterstanden die aktiven SS-Ärzte bis zum Lagerarzt. Sie organisierten Menschenversuche an Häftlingen in Konzentrationslagern sowie die Selektionen in den Vernichtungslagern.

Grawitz war erfahrener Klinikarzt. Er verzichtete auf eine wissenschaftliche Laufbahn zugunsten einer SS-Karriere. Seit 1931 NSDAP- und SS-Mitglied, avancierte er 1935 zum Reichsarzt SS und 1937 zum Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes. In dieser Doppelfunkton organisierte er die Verflechtung von DRK und SS. Seine Berufung zum Honorarprofessor 1941 nutzte er zur Befriedigung seiner wissenschaftlichen Ambitionen. In Abstimmung mit Himmler veranlaßte er Menschenversuche in Konzentrationslagern, bezeichnenderweise in Kooperation mit dem Robert-Koch-Institut und anderen angesehenen Institutionen. Als Wissenschaftler behielt  er sich die Begutachtung der Experimente vor. Fanatischer Nazi, beging er im April 1945 Selbstmord.

Karl Gebhardt erhielt seine Ausbildung zum Chirurgen bei Ferdinand Sauerbruch und Erich Lexer. Dank seiner SS-Mitgliedschaft wurde er 1933 Chef der Heilanstalt Hohenlychen, 1936 Leitender Arzt der Olympiade, 1937 Lehrstuhlleiter für Sportmedizin in Berlin, 1938 Begleitarzt Heinrich Himmlers und 1939 Beratender Chirurg der Waffen-SS. Gebhardt organisierte Menschenversuche im KZ Ravensbrück. Er wurde im Nürnberger Ärzteprozeß 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Judith Hahn verwirft die These vom  SS-ärztlichen Psychopathen, vom Monster und unqualifizierten und charakterlich defekten Einzeltäter. Die Experimente an Gefangenen wurden von anerkannten Forschern durchgeführt, von Fachkollegen anerkannt und gingen in die medizinischen Literatur ein. Medizinverbrechen waren nicht nur von der SS, sondern auch von renommierten Instituten wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und dem Robert-Koch-Institut sowie der Wehrmacht initiiert. Bekannt ist, dass auch Sauerbruch sich an der Diskussion über Gebhardts Versuche in Ravensbrück beteiligte. Hahn konstatiert  die »relative Normalität« der Verbrechen und des Handelns der Ärzte, ohne deren gesellschaftliche Wurzeln zu hinterfragen.

Wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Schulungen in Alt Rehse, insbesondere auf die Indoktrinierung der »Jungärzte« übte Kurt Blome aus, Stellvertreter des »Reichsgesundheitsführers«, Stellvertretender Vorsitzender der Reichsärztekammer und SS-Brigadeführer. Als »alter Kämpfer« der Nazipartei betrieb Blome konsequent ihre Rassenpolitik, z.B. beim Entzug der Approbation für die jüdischen Ärzte. Zunächst engagiert in der Krebsforschung, förderte und betrieb er seit 1939/40 Menschenversuche an polnischen Tuberkulosekranken, an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten, an KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen. Schwerpunkt war die Biowaffenforschung. Blome betrachtete Menschenversuche als Gewohnheitsrecht der Ärzte. Gabriele Moser von der Universität Heidelberg charakterisierte ihn als Beispiel ethischer Verrohung und Selbstmobilisierung, insbesondere vermittels der Kollaboration von Wissenschaft und Naziregime. Blome wurde in Nürnberg angeklagt, aber mangels Beweisen freigesprochen. Nach 1945 führte er ein ruhiges Leben in einem angesehenen Beruf, während seine Opfer, so sie denn überlebt hatten, lebenslang litten.

Dozent in Alt Rehse war auch der »Reichsgesundheitsführer« Leonardo Conti. 1920 am Kapp-Putsch beteiligt, 1923 SA-Mitglied, 1927 NSDAP, 1929 Mitbegründer des NS-Deutschen Ärztebundes. Als Reichsgesundheitsführer  war Conti involviert in die Euthanasieaktion und in die Impfstofforschung. Berüchtigt: sein Geheimerlaß zur Zwangsabtreibung an Fremdarbeiterinnen. Einer Verurteilung in Nürnberg entzog er sich durch Selbstmord. Anja Peters, Doktorandin der Universität Greifswald, bemüht sich um seine Entmythologisierung durch die Analyse seiner Einbettung in eine Nazi-Familien-Biographie, als eines Mannes, der seine Nazikarriere zugleich mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwägerin verfolgte. Peters‘ Charakterisierung Contis als eines Protagonisten der Naziideologie paßt jedoch nicht zur vermeintlichen Rolle des Muttersöhnchens der »Reichshebammenführerin« Nanna Conti, der zuliebe er ein Hebammengesetz lancierte, das die Hebammen zu Vollstreckerinnen des Erbgesundheitsgesetzes machte, indem sie gegen ein Salär von zwei Reichsmark kranke und behinderte Neugeborene oder »erbkranke« Erwachsene meldeten.

An der Mordmaschinerie beteiligt war auch der Naturheilmediziner und SS-Inspekteur Ernst Günther Schenk, über den Christoph Kopke, Potsdam, referierte. Auf seine Initiative hin wurde in Alt Rehse ein harmloser Heilkräutergarten angelegt, der das Modell der berüchtigten »Plantage« im KZ Dachau war, wo sich mehr als 100 Häftlinge zu Tode schuften mussten. Auch Schenk kam straflos davon. 

Zum Personal der »Führerschule« Alt Rehse berichtete Rainer Stommer anhand der noch vorhandenen Personalakten. Namentlich bekannt sind sechs leitende Kader, darunter Kurt Blome und der Leiter des erbbiologischen Forschungsinstituts, Hermann Alois Boehm, die Stommer als »mehr oder minder befehlsgebundene Direkttäter« klassifiziert. Von den 45 Angestellten ist kaum mehr bekannt, als dass sie fast ausschließlich Mitglieder der Nazipartei waren und dass sie für ihr Schweigen über Gehörtes und Gesehenes übertariflich entlohnt wurden. Über die Landarbeiter des Gutes und ihre Familien, die Bewohner des eigens neu erbauten Musterdorfes, weiß man lediglich, dass der Gutsverwalter Helmut Vehrs gute Beziehungen zu Martin Bormann pflegte. Stommer rechnet sie zu den »Bystanders«, d.h. Profiteuren und Mitwissern. Nach wie vor herrscht Schweigen unter den Altansässigen in Alt Rehse und ihren Nachkommen. Stommer meint, dass die Dorfbewohner wegen der guten Arbeitsmöglichkeiten in der »Führerschule« mit dieser in Einklang standen. Die Rekonstruktion der Lebensverhältnisse und der Sozialstruktur im Dorf sei noch zu leisten. 
Namhaft gemacht werden konnten 191 Dozenten, von denen etwa ein Viertel in führenden Funktionen in der NSDAP, im NS-Ärztebund, an Universitäten und im Gesundheitswesen tätig gewesen sind. Zu ihnen gehörten Blome, Conti, Gebhardt, Grawitz, der »Reichsärzteführer« Wagner, der Protektor von Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank, der Schulleiter Hans Deuschl, aber auch namhafte Gelehrte wie Georg Bessau, Ordinarius an der Charité, verantwortlich für tödliche Impfversuche an behinderten Kindern, und Otmar von Verschuer, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Genetik, verantwortlich für Menschenversuche in Auschwitz. Beide blieben straflos. Auftritte in Alt Rehse hatten auch die Naziführer Rudolf Heß, Heinrich Himmler, Robert Ley, Alfred Rosenberg und Julius Streicher.
Hinsichtlich der 12 000 Lehrgangsteilnehmer tritt die Forschung in Alt Rehse auf der Stelle. Mehr als 60 von 12 000 sind nicht bekannt. Die Listen gelten als verloren. An eine (ungesicherte) Besichtigung durch Marschall Georgi Shukow 1945 wird die Hypothese geknüpft, die Sowjets hätten nach Ergebnissen der Krebs- und Biowaffenforschung gesucht (das Gebiet von Kurt Blome) und verbliebene Akten abtransportiert. Die Erschließung von sowjetischen Militärakten hält Stommer für aussichtslos. Der weiße Fleck bleibt.
Seit 2001 hat sich der Verein für die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse der Aufarbeitung der Geschichte gewidmet. Als Arbeitsstätte konnte er 2008 das Gutshaus kaufen. Nach Vorstellung von Roman Skoblo, Vorsitzender des Berliner Landesverbands Jüdischer Ärzte und Psychologen, soll der »geräuschvoll beschwiegene Ort« ein Platz der interdisziplinären Forschung und Begegnung von Philosophen, Historikern, Humangenetikern, Juristen und Ärzten werden. Dafür ist der Ausbau des Gutshauses ab Herbst 2010 geplant. Die Bausumme von vier bis fünf Millionen Euro soll durch Zusagen der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern und »des Bundes« gesichert sein. Große Erwartungen setzt der Vereinsvorstand Manfred Richter-Reichhelm in die von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wiederholt zugesicherte Unterstützung. Das eigentlich Gelände der »Führerschule« ist seit 2005 im Besitz der »Tollense Lebenspark(!) Gesellschaft«, die es für nicht näher definierte Schulung und Erholung nutzt. Zwischen beiden Einrichtungen gibt es keine Gemeinsamkeiten. Den höflich-nachbarschaftlichen Beziehungen steht im Wege, dass der Chef des «Lebensparks«, Georg Wallner, 3 Euro Eintritt in den Park verlangt und auch keinen Gruppenrabatt gewährt. Bei Führungen, die Rainer Stommer mit Schulklassen und Jugendgruppen durchführt, müssen 7 von 10 Gruppen auf den Park mit seinen Anlagen verzichten, weil sie so viel Geld nicht haben. Das erspart den Besuchern wenigstens das Kopfzerbrechen über den Spruch auf einem Gedenkstein im Park: »Das Geheimnis unserer Erlösung ist die Erinnerung.« Welche Geister sollen da erlöst werden?

Erstveröffentlichung in junge Welt vom 03.12.2009.

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