Paradies später – Über den virtuosen Debüt-Roman von Grace McCleen

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„Ich heiße Judith McPerson. Ich bin zehn Jahre alt. Am Montag ist ein Wunder geschehen. So werde ich es nennen. Und ich habe das Wunder vollbracht. Weil Neil Lewis gesagt hatte, er würde meinen Kopf in die Toilette stecken. Weil ich Angst hatte. Aber auch, weil ich Glauben hatte.“

Judith lebt mit ihrem Vater in einer ganz normalen Kleinstadt. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, es gibt keinen Fernseher im Haus, dafür ein Kinderzimmer voll nachgebauter Häuser aus Keksschachteln. Flüssen aus Krepppapier und Alufolie, Bergen aus Pappmaschee und Rinde, Feldern aus braunem Cord und Teppichbodenstücken. Außerdem Sonne, Mond und Meer. Papiervögel, Wollkaninchen und Filzkatzen. Glitzernde Fische, Muscheln, Krebse und Vögel auf ganz dünnen Drähten. Judith modelliert ihre eigene Welt und baut ganz zum Schluss Menschen, zieht sie an, gibt ihnen Haare und atmet in ihre Lungen.

„Und ich betrachtete die Menschen, ich betrachtete die Tiere, und ich betrachtete das Land. Und ich sah, dass sie gut waren.“

Die Modell-Welt der zehnjährigen ist gut, aber alles drum herum ist ihr, zumindest latent, feindlich gesonnen. Der Vater liebt sie nicht, weil die Mutter ihretwegen gestorben ist und die Mitschüler ignorieren oder quälen sie – bis Judith anfängt, sich Dinge zu wünschen. Schnee zum Beispiel, so viel Schnee im Oktober, dass die Schule geschlossen bleibt. Dafür dekoriert sie ihr Universum „Das Land der Zierde“ mit Watte, baut aus Styroporkugeln einen Schneemann und unterhält sich zum ersten Mal mit Gott.

In kurzen Kapiteln aus der Innensicht des Mädchens schildert Grace McCleen eindringlich eine religiöse Besessenheit. Eine innewohnende, denn im Gegensatz zum Vater ist Judith in die Gemeinschaft der strenggläubigen Jehovas hineingeboren worden und hat sie nicht frei gewählt, wie ihre Eltern. Deshalb erscheint ihr naturgegeben, dass sie und ihr Vater  jeden Tag beten, samstags die Gemeindepredigt besuchen und zu Hausbesuchen in ihre Stadt aufbrechen, um die Mitmenschen zu bekehren. All dies wird voller Empathie erzählt, ohne die skurrilen Zeugen Jehovas bloßzustellen, ein grandioser Roman, der sofort einen Bann erzeugt und bis zur letzten Seite durchhält! Die Sprache ist metaphernreich und altklug, wie ein isoliertes, intelligentes Kind sie glaubhaft aufbringen könnte.

„Ich weiß nicht, wie Vaters perfekter Tag aussehen würde. Wahrscheinlich wäre er voll von notwendigen Dingen wie Bibelstudium, Predigen und Nachsinnen, Stromsparen, Leisesein und Spare-in-der-Zeit-so-hast-du-in-der-Not. Aber dann ist jeder Tag ein perfekter Tag.“

Wie der Sog der religiösen Besessenheit zu einer gegen sich selbst wendenden Manie werden kann, ist dermaßen nachvollziehbar und spannend erzählt, dass wir in den Roman aufbrechen wollen, um Judith zur Seite zu stehen. Den Vater aufzurütteln. Aber vielleicht bringen die Wunder einen Wandel in die immer bedrohlichere Szenerie, die sich vor unseren Augen entwickelt? Was eine Handvoll Senfkörner, ein Streik, ein verschwundener Kater und eine Mauer um Judiths Land der Zierde bewirken, lesen Sie selbst nach.

Von dieser Autorin wünschen wir uns mehr zu lesen!

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Grace McCleen, Wo Milch und Honig fließen, Aus dem Englischen von Barbara Heller, Roman, 384 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, DVA Belletristik, München, 19,99 €

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