Ohren putzen – ARTE zeigt „Der Traum des Dirigenten“ – ein Porträt des Dirigenten Kent Nagano

Kent Nagano
Kent Nagano in "Der Traum des Dirigenten". © Vincent TV

Berlin, Deutschland (Weltexpress). »Wie man eine Brille putzt, müsst ihr eure Ohren putzen, um genau zu hören, was die Musik euch sagen will. Die Ohren erzählen uns die Wahrheit», sagt Kent Nagano zu den jungen Musikern »aus der Nachbarschaft» in Hamburg. Mit den Laienmusikern verfolgt der amerikanische Dirigent, seit 2015 Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, das interessante Projekt, Mozarts »Zauberflöte» in der Oper und danach an anderen Orten der Stadt in zeitgemäßer Weise aufzuführen.

»Ich träume von einer Welt, in der jeder Zugang zur klassischen Musik finden kann.»

Dieser seiner Mission gehen Inge Kloepfer und Nadja Frenz in ihrem Dokumentarfilm »Der Traum des Dirigenten Kent Nagano» nach. Nagano will Menschen aller Herkunftsschichten überzeugen, dass klassische Musik ihnen etwas zu sagen hat. Macht und Besitz hätten auf das Musikverständnis keinen Einfluß, meint er. Den Traum Naganos hat wahrscheinlich jeder Dirigent. Der Meister sucht unermüdlich Wege, ihn zu erfüllen. Das beste Rezept ist – logisch – die Arbeit mit und unter Kindern und Jugendlichen. Andere Dirigenten wollen studierte Profis, meint Nagano. Er aber will mit Jugendlichen arbeiten, die Musik in ihrer Freizeit spielen. Seit zehn Jahren ist er Musikdirektor des Orchestre symphonique de Montreal. Die Musiker sagten: »Unser Problem sind die Grauen» – ein überaltertes Publikum. Das änderten sie. Gemeinsam mit Nagano gründeten sie einen Musikkindergarten und gingen in die Schulen, um ihre Instrumente vorzuführen und die Kinder für das Musizieren und für Konzertbesuche zu interessieren. Heute besteht das Konzertpublikum zur Hälfte aus Teenagern. Aha? Vor 20, 30 Jahren haben auch die Berliner Symphoniker diese Arbeit mit ihrem »klingenden Klassenzimmer» gemacht, beispielhaft, bis ihnen 2004 der Senat mit Klaus Wowereit und Thomas Flierl die Zuschüsse komplett gestrichen hat und sie diese Arbeit einstellen mussten. So fällt Berlin hinter Montreal zurück. Aber in Berlin sieht man es versöhnlicher und sagt vom Publikum vornehm »Silbersee».

Die Klassik

schließt für Nagano auch klassische Moderne ein. Neben der »Zauberflöte» unternehmen Nagano und der Intendant Georges Delnon ein Experiment mit der Inszenierung von Alban Bergs Oper »Lulu». Weil die unvollendet ist, beschließt Nagano das Stück mit Alban Bergs Violinkonzert. Die Geigerin Veronika Eberle wird zur szenischen Figur. Drei Stunden Marathon, ein Versuch, der Mode wird (acht Stunden »Faust»!), ob überzeugend, bleibt offen. Das zweijährige Projekt war ein Erfolg, sagt Nagano. Die Spielstätten waren ausgebucht. Leider werden keine Beispiele gezeigt. Stattdessen ein Konzert für die G 20 in der Elbphilharmonie. Wie interessant: die Kamera schwenkt über einen gelangweilten Trump und einen müden Putin. Die Autoren können es sich nicht verkneifen, »brennende Barrikaden» in Hamburg einzublenden, doch sie erkennen eine Botschaft des Friedens und der Brüderlichkeit.

Der »Symphonic Mob»

Keinen einzigen überzeugen musste der »Symphonic Mob» des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Seit 2014 strömen auf seinen Aufruf hin einmal im Jahr Laienmusiker und –sänger zusammen, um öffentlich zu musizieren. Der Film dokumentiert den »Mob» am 16. Mai 2016. Kent Nagano als Ehrendirigent des Orchesters leitete ein Konzert in der Mall of Berlin mit 600 Musikern und 400 Sängern, umgeben von Massen Zuschauern bis hinauf zu den Brücken. Der Sprecher im Film meint, dies sei für Nagano ein Wagnis gewesen. Eine Bewährungsprobe vielleicht, wie jedes Konzert oder jede Opernvorstellung. Ein Wagnis, nein. Bei der Begeisterung der Mitmacher konnte nichts schief gehen. Für den Dirigenten muss es ein Glück sein, wenn nicht ein Privileg, mitten im Volk zu stehen, gerade für Nagano mit seinem Traum.

Der Film

erzählt eine Erfolgsgeschichte, die auf der Leistung und den Ideen des Meisters beruht. Nagano sagt viele goldene Worte, doch die sind mitunter von der Realität weit entfernt. Wie soll die Oper ein Haus des Volkes sein, wenn sich nicht jeder eine Karte kaufen kann? Auch für die Filmemacher ist es kein Problem, was der Eintritt in die Konzerte oder in die Oper kostet oder wie die Projekte finanziell zustande kommen konnten. Fördermittel sind knapp und werden bevorzugt an jene vergeben, mit deren Berühmtheit man sich schmücken kann. Ich kenne Leute, die nicht einmal das Fahrgeld hätten, um zum Konzertsaal zu fahren. Oder die Regierenden sparen Theater und Orchester kaputt, wie die Berliner Symphoniker, das Metropol-Theater oder das Schillertheater in Berlin. Wenn die schließen, bleiben auch die Besucher weg, die verhältnismäßig günstige Eintrittspreise noch bezahlen konnten. Ein weites Feld, aber ein ödes Feld.

In der Premiere des Films in Hamburg sagte Marion Sippel von der Presseabteilung: »Die kenne ich doch!». Im Publikum des Symphonic Mob hatte sie Katharina Schulze entdeckt, die im Oktober verstorbene Autorin des »Weltexpress», des »Ossietzky» und der »jungen Welt». In der DDR war sie bekannt als Redakteurin des »Eulenspiegel». Blass und schmal von der Krankheit, war sie unverwechselbar durch ihren prächtigen Haarschopf. Das war 2016, als noch Hoffnung auf Gesundung bestand. Der Film über den Traum des Dirigenten – für Sekunden ein Dokument über eine Kollegin.

Der Traum des Dirigenten Kent Nagano, Dokumentation von Inge Kloepfer und Nadja Frenz, ARTE / NDR, Deutschland 2017, 55 Min., Sonntag, 26.11. 23.30 Uhr auf ARTE.

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