Moderne Fabel von Nachtigall und Blaumeise: eine deutsch-deutsche Lovestory – Zur Premiere des Udo-Lindenberg-Musicals “Hinterm Horizont“ im Theater am Potsdamer Platz

Doch ganz so harsch darf man im Falle des medial recht aufwändig angepriesenen Udo-Lindenberg-Spektakels „Hinterm Horizont“ wohl nicht reagieren. Schließlich handelt es sich hier um ein als Musical aufbereitetes Stück jüngster Berliner, also auch deutsch-deutscher Geschichte. Die East-West-Side-Story kreist um Udo Lindenbergs schon 1973 besungenes „Mädchen aus Ostberlin“ vor dem Hintergrund von Mauerbau über Mauerfall bis zur Deutschen Einheit. Eine politisch-musikalische Zeitreise. Durchaus ein interessanter Stoff also. Und viele alte, jedoch auch neuere Kultsongs von Udo erklingen: ob „Reeperbahn“, „Andrea Doria“,„Sonderzug nach Pankow“, „Wenn du durchhängst“, „Ich mach mein Ding“ oder natürlich „Hinterm Horizont“.

Am Donnerstagabend nun erlebte das – wie es im Untertitel heißt – „Musical mit den Hits von Udo Lindenberg“ nach mehrjähriger Anlaufzeit und dreimonatigen Proben im Berliner „Theater am Potsdamer Platz“ endlich seine durchaus spannend erwartete Uraufführung. Produziert wurde es von Stage Entertainment in Kooperation mit dem St. Pauli Theater Hamburg (Regie: Ulrich Waller, Buch: Thomas Brussig). Für das Bühnenbild zeichnet Raimund Bauer verantwortlich. Seine geniale Idee: Ein übergroßer, drei Tonnen schwerer Lindenberg-Hut als Bühne auf der Bühne. Die zündenden Tanznummern (z. B. „Gitarren statt Knarren“ und „Wir sind das Volk!“) choreographierte Kim Duddy. Panik-Rocker Lindenberg selbst gehört ebenfalls zum Kreativteam und soll der opulenten Produktion den „Meisterschliff“ gegeben haben.

Das in Hamburg ansässige Musical-Unternehmen Stage spricht gerne von „Weltpremiere“. Unter dem läuft ja offenbar neuerdings nichts mehr. Auch im Friedrichstadtpalast wird jetzt beim Start einer neuen Show von „Weltpremiere“ gesprochen, obschon niemand ernsthaft an internationale Vermarktung solcher Eigengewächse glauben mag. Berlin ist nun mal weder Broadway noch London, von wo aus Musicals oder Shows in die Welt hinausziehen. Haben wir es dann, bitte schön, nicht auch eine Nummer kleiner?

„Hallöchen, keine Panik! Wir heben ab!“ So begrüßte Udo selbst, der Nuschler der Nation, aus dem Off sein Premierenpublikum. Schon brandete Beifall auf. Das war es aber auch schon mit Lindi. Denn auf der Bühne agiert dann als Udo Lindenberg ein gecastetes Double, der türkischstämmige Serkan Kaya (33). Jessy, das Mädchen aus Ostberlin, wird von Josephin Busch (24) gespielt, die tatsächlich aus dem Berliner Osten, Bezirk Pankow, kommt. Beide machen ihre Sache schauspielerisch und stimmlich ganz ordentlich. Kaya hat sich geschmeidig in die Kultfigur Udo Lindenberg hineingefühlt, trifft seine Klamotten und Kaspereien, seinen Schlenkergang und Nuschelgesang fast punktgenau. Josephin Busch besticht mit einer angenehmen und kräftigen Stimme, die man schon seit Wochen im Radio hören kann. Denn den Titelsong „Hinterm Horizont“, 1987 von Udo Lindenberg herausgebracht, singt sie in einer offenbar zur Promotion des Musicals 2010 neu aufgenommen Duett-Version mit dem Meister – chartverdächtig.

Die sowohl authentische als auch fiktive Züge tragende Story von „Hinterm Horizont“ ist einfach und überschaubar. Rockstar Udo aus dem Westen, der sich ja gerne eine „Nachtigall“ nennt, lernt bei seinem legendären ersten Konzertauftritt in der DDR am 25. Oktober 1983 im Berliner Palast der Republik das „Mädchen aus Ost-Berlin“ kennen. Es ist die mit FDJ-Chor in blauer Bluse singende Jessy (Udo-Jargon: „Blaumeise“). Beide verlieben sich ineinander, könner aber wegen fehlender Reisefreiheit in der eingemauerten DDR nicht zusammen kommen. Dazwischen steht die böse Stasi, aber auch Jessys Familie. Die Fabel von der Nachtigall und der Blaumeise – eine moderne Romeo-und-Julia-Story. Zwei Jahre später treffen sie sich in Moskau wieder. Jessy wird schwanger, wovon aber Udos nichts mitbekommt, weil sich beide wieder aus den Augen verlieren. Jessy singt das berührende, doppelsinnige Lied „Ich lieb’ dich überhaupt nicht mehr“ von 1988. Erst nach dem Mauerfall und deutscher Vereinigung gibt es im Hamburger Hotel „Atlantic“, wo ja Lindenberg wohnt, bei einem fulminanten Freudenkonzert ein Wiedersehen. Jetzt lernt Udo nun endlich auch seinen Sohn Steve kennen: ein unangepaßter, rebellischer Typ wie er selbst. Optimistische Moral von der Geschicht’: „Hinterm Horizont geht’s weiter”¦“

Ist damit alles klar auf der Andrea Doria? Oder anders gefragt: Kann das Musical seinen Weg machen? Die Stage möchte das Stück in Berlin, das ja bekanntlich ein schwieriges Pflaster für solcherart Entertainment ist, mindestens ein Jahr spielen; Lindenberg hofft auf mehrere Jahre. Sicher, das spielfreudige 30-köpfige Ensemble gibt sich alle Mühe, wofür es rasenden Premierenbeifall erhielt. Als dann ganz am Schluß der inzwischen 64 Jahre alte Panik-Rocker Udo Lindenberg überraschenderweise als „Stargast“ in seiner eigenen Show selbst auf die Bühne kam und das Theater, unterstützt vom ganzen Ensemble, mit einem Medley rockte, hielt es keinen mehr auf dem Sitz. Standing Ovations. Nur: Wird das immer so sein, auch ohne das Original? Sind Lindenbergs Songs, ihre Massenwirkung, nicht doch ganz eng an ihn, die Kultfigur, gebunden? Den Meister scheint Ähnliches zu bewegen. Er behält sich nämlich vor, mal immer wieder selbst auf der Musical-Bühne mitzumischen. Für das zahlende Publikum ergibt sich allerdings die spannende Frage: Wann wird das sein?

Ansonsten hat die Inszenierung bei aller üblichen Premieren-Euphorie auch ihre durchaus erkennbaren Schwächen. So räumte im RBB-Fernsehen die Schauspielerin Daniela Ziegler „kleine Einschränkungen“ ein und sagte: „Die Stasi-Szenen in ihrem kabarettistischem Ansatz”¦das ist mir zu viel. Das sind nicht alles Vollidioten gewesen. Kann nicht sein.“ Auch hätte es ihrer Meinung nach „etwas mehr Rock“ sein dürfen. Und Toni Krahl, Sänger der Ostberliner Band „City“ übte sogar recht heftige kollegiale Kritik unter Musikern: „Ich finde die Inszenierung grauenvoll, die Story flach. So flach war Lindenberg nie. Er war immer philosophisch.“

Nun ja, Udo Lindenberg hat dieses erste Ost-West-Musical selbst als Abenteuer und Experiment bezeichnet. Man wird sehen, ob das Ganze ein Publikumsrenner wird. Mein Tipp: Hingehen und sich selbst ein Bild machen.

Info:

Musical HINTERM HORIZONT, täglich außer Di.,Theater am Potsdamer Platz, Marlene-Dietrich-Platz 1, 10785 Berlin; Tel. 030 / 259290; Fax 030 / 25929100; Tickets: 01805-44 44 oder 01805-23 27 00; Internet: www.stage-entertainment.de

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