Mit Recht geehrt und in Deutschland immer noch zu entdecken – Claudia Piñeiro erhält für „Elena weiß Bescheid“ aus dem Unionsverlag den LiBeraturpreis in Frankfurt am Main

Ganz Argentinien weiß, daß Claudia Piñeiro eine tolle Schriftstellerin ist, wir wissen das auch, denn seit ihr Erstling aus dem Jahr 2003 „Ganz die Deine“ auf Deutsch erschien – unbedingt lesen! – , ebenfalls 2009 im Unionsverlag, wurde deutlich, daß diese Schriftstellerin beides kann: die ungeheuerlichen Tiefen in ganz normal erscheinenden Mensch auszuloten und diesen Geschichten dann auch noch eine jeweils passende literarische Form zu geben. Einfach großartig. Dazu gleich mehr. Denn erst einmal soll über die Preisübergabe und den Verleiher berichtet werden.

Ingeborg Kästner, die Vorsitzende des LiBeraturpreises im Ökumenischen Zentrum Christuskirche, eröffnete die Preisveranstaltung und wies auf die Tradition dieses Preises hin. Dieser jährliche Preis wird nämlich nur an Frauen vergeben, aber nur an die schreibenden Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien, da Autorinnen es im Literaturbetreib der einmal Dritte Welt genannten Länder schwerer haben als belletristische Stimme vernommen zu werden. Noch schwerer im Weltmaßstab als ihre männlichen Kollegen. Das ist die eine Besonderheit. Die andere ist die Prozedur der Preisauswahl. Da gibt es nämlich eine erste Stufe, wo Mitglieder und Freunde des LiBeraturpreises die in deutscher Übersetzung erschienen Werke der möglichen Preisträgerinnen sichten und eine Vorauswahl treffen, die dann von der Jury zu Ende geführt wird.

Der Preis selbst ist die Einladung zur Buchmesse und eine symbolische Preissumme von 500 Euro, die ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge des Vereins und Spenden zusammenkommen. Überblickt man die 23 Preisträgerinnen ist man von der weltumspannenden Auswahl hingerissen. Von Guadeloupe im Jahr 1988 über Pakistan, Puerto Rico, Vietnam, Neuseeland, Libanon, Mexiko, Kuba, Ägypten, Zimbabwe und so viele andere Länder bis Argentinien in diesem Jahr. Aber erst einmal fing es an diesem Sonntagnachmittag in der Christuskirche mit zwei Männern an!

Die beiden Mitglieder des Buenos Aires Tango Duos leben seit den 80 Jahren in Frankfurt am Main, aber Bandoneon- und Tangospielen, das haben sie aus der Heimat mitgebracht und lieferten dreimal ein Potpourri mit wunderschönen Übergängen, wie nämlich aus der einen elegischen Melodie eine andere erwächst, dann starke Rhythmen eine neue Seite aufziehen und das Bandoneon dem Klavier mal antwortet, mal strikt begleitet. Frau Kästner hob dann in ihrer Einführung hervor, daß für sie das Besondere sei, was die Autorin über ihr Schreiben selber sage: „Die Geschichte selbst bestimmt den Schreibstil“ und wenn sie äußerte: „Ich konnte kaum beim Lesen noch den Kopf heben“, und die Lacher auf ihrer Seite hatten, dann wissen die Eingeweihten, daß sie auf die parkinsongeschädigte Elena im gleichnamigen Buch anspielte, die die Welt nur noch aus der Perspektive des gesenkten Blickes betrachten kann. Denn das unter die Haut Gehende in diesem Buch ist auch, daß tragische Situationen einen komischen Kern haben können, aber nicht aufgesetzt von außen, sondern hier von der handelnden Elena selbst.

Die Vorsitzende freute sich auch über die zwanzig Jahre lange gute Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag, denn dieser Schweizer Verlag fördert seit jeher auch die noch unbekannten Schriftstellerinnen aus den südlichen Ländern, weshalb schon ihre Autorinnen aus Algerien, Indien und Neuseeland mit dem Preis ausgezeichnet wurden und begrüßte ausdrücklich den Verlagsleiter Lucien Leitess, der den Weg aus Zürich für seine Autorin nicht gescheut hatte. Die ganze Veranstaltung hatte eine andere, eine geradezu persönliche Atmosphäre, als sonstige, oft stärker formalisierte Preisverleihungen haben. Das drückte sich auch in den folgenden Grußworten der Stadt Frankfurt durch Stadträtin Ursula Fechter und Nina Klein von der Frankfurter Buchmesse aus, die darauf aufmerksam machte, daß noch nie für den Auftritt eines Gastlandes so viele belletristischen Titel übersetzt wurden. Von den rund 300 argentinischen Neuübersetzungen sind 170 aus dem Bereich der Belletristik, von denen wiederum sich ein Drittel mit den Zeiten der Diktatur beschäftigen.

Die Laudatio hatte Geoffrey Davis halten sollen und wollen, aber krankheitshalber nicht können, weshalb seine schriftliche Fassung Bettina Höfling-Semnar vortrug. Da wurde einerseits der Inhalt des Romans zusammengefaßt, diese Elena, ein einfacher Mensch, aber lebenstüchtig und froh, mit einer Willensstärke und dem Mutterwitz, die Krankheit zu überlisten, was ihr immer wieder gelingt. Dazu im Gegensatz ihr starre Tochter, die ihre religiösen Prinzipien lebt und als sie von der baldigen Verschlimmerung des Leidens ihrer Mutter erfährt, sagt: „ Es reicht, es reicht wirklich“ und sich das Leben nimmt, wogegen die Mutter weiterwurstelt und ihr Leben in Tabletten einteilt. So heißt das erste Kapitel auf Seite 9 „Morgen (Zweite Tablette), das auf Seite 77 „Mittag (Dritte Tablette)“.

Er verweist darauf, daß der Roman wie ein Krimi aufgebaut sei, mit einem Mordfall und der Spannung, ob die Polizei mit dem Selbstmord recht habe oder die Mutter, die schließlich ihr Kind am besten kennt und von einem Mord ausgeht. Immer wieder taucht ein freundlicher und skeptischer Polizist auf und die Handlung wird in eine Sprache eingebunden, die das Unsagbare mitsage. Nach der Preisverleihung sprach Claudia Piñeiro, die äußerlich ein wenig an die junge Joan Baez der Sechziger Jahre erinnert, kurz und knapp, daß sie das Wesentliche, was sie zu sagen habe, in ihren Büchern sage. Aber dann brachte sie in einigen Sätzen ebenfalls viel Wesentliches unter, erinnerte an Georg Steiner, für den die Leser die Neuinterpreten des Textes waren und befand die Kultur Argentiniens zu allen Zeiten als kräftig und aussagefähig, auch zu Zeiten der Diktatur oder der Wirtschaftskrisen.

Zum Buch selber kam sie auf die Besonderheiten zu sprechen, die bei „Elena weiß Bescheid“ auffallen, auf die detaillierte Schilderung eine an Parkinson Erkrankten, die unter die Haut gehen und die quasi diametral einhergehen mit einem ungeheuren Lebenswillen der Geschwächten, deren Tochter die Folgen nicht mehr aushält und sich das Leben nimmt. Ihre eigene Mutter habe Parkinson gehabt, zwar sei Elena nicht ihre Mutter, aber viele der Szenen im Buch, wo die Krankheit die ungewöhnlichsten Reaktionen nötig mache, habe sie selbst erlebt, wie zum Beispiel das in den Zug Hineinschieben der Elena.

Wir wollen zum Buch hinzufügen, daß wir versprechen, daß derjenige, der es noch nicht kennt, es in einem Ruck durchlesen wird. Denn es ist ein nicht nur spannend geschriebener Roman, sondern einfach einer, dessen Geschichte einen so hineinzieht ins Geschehen, daß man unbedingt wissen möchte, wie das ausgeht, sei es Mord oder Selbstmord. Zu dieser Auflösung ist eine dritte Person nötig, eine dritte Frau, die die kranke Elena in der Stadt aufsuchen will, was sie eigentlich der Krankheit wegen nicht kann, aber mit minutiöser Planung und den Tabletten hinbekommt. Dort bei Isabel eingetroffen, will sie von ihr das Gegenpfand für die Schuld, vor der Tochter Rita und auch Mutter Elena sie vor zwanzig Jahren bewahrten, und erfährt, welches schreckliche Leben sie durch ihre Einmischung dieser Isabel aufgezwungen hatten. Das ist ein Roman, in dem am Schluß alles anders ist, als am Anfang gedacht, aber im Nachhinein vollzogen sinnvoll und einsichtig, zudem einfach grandios erzählt.

Claudia Piñeiro, die auch in Argentinien alle möglichen Preise ’abgeräumt` hat, hat inzwischen einen weiteren Roman auf Deutsch vorliegen: Die Donnerstagswitwen, mit dem sie am Dienstag in München auftritt. Danach ist sie auf der Buchmesse vom 5. bis 8. Oktober in mehreren Veranstaltungen zu hören, nimmt teil an der ARD-Radionacht der Bücher, ist wieder am 10. auf der Buchmesse und in Marburg und am 12. Oktober in Leipzig. Es lohnt sich immer, sie zu hören.

www.liberaturpreis.org

www.unionsverlag.com

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