Mit frischer Brise durch die Krise – Das 53. Filmfest in Thessaloniki

Das ist prima, denn so sind fast alle Vorstellungen voll – selbst die Werkschauen von Aki Kaurismäki, Andreas Dresen, Bahman Ghobadi und Christian Mungiu und einige ausgewählte Filme von Theo Angelopoulos. Dieser kam bei einem Autounfall während der Dreharbeiten zu seinem neuen Film "The Other Sea" Anfang des Jahres ums Leben. Ihm zu Ehren gab es ein Konzert der Thessaloniki Philharmoniker, die Motive aus seinen berühmtesten Filmen spielten, vom "Bienenzüchter" über "Die Reise nach Kythira" bis zu "Die Ewigkeit und ein Tag" – einer der emotionalsten Momente des Festivals, der ergänzt wurde durch ein Gespräch am runden Tisch, an dem sich Freunde und Mitarbeiter an einen der wichtigsten zeitgenössischen griechischen Filmemacher liebevoll gemeinsam erinnerten.

Politisch war das Filmfest in Saloniki schon immer, aber die nun bereits einige Jahre andauernde Krise führt dazu, dass die hier gezeigten griechischen Produktionen noch politischer und aufrüttelnder geworden sind. Es ist überhaupt ein Wunder, wie sich die Filmemacher organisieren und wie sie ihre Filme finanzieren, denn die Förderung ist ja schon seit Jahren pleite. "A.C.A.B.- All Cats Are Brilliant", von Constantina Voulgari verwendet als Titel eine Abkürzung, die in der linken Szene international als "All Cops Are Bastards" übersetzt wird. Der Film erzählt von Electra, einer getriebenen, Anfang 30-jährigen Künstlerin aus Athen. Sie ist ein Zoon Politicon, kann gar nicht anders als politisch sein. Politisches Bewusstsein ist ihr Motor im Alltag der Krise: ihre Fotografien klebt sie an Hauswände, damit alle in deren Genuss kommen und sie nicht Teil des Kapitalismus wird. Ihre linksliberalen Künstler-Eltern, ein kleiner Junge aus gutem Hause, auf den sie aufpasst, und Freunde – alle werden permanent mit politischem Bewusstsein gefüttert. Schließlich muss Electra stark sein: Ihr Freund sitzt im Knast, weil er eine radikale Vereinigung gegründet hat.

Anders radikal ist der Debütfilm von Ektoras Lyzigos: Er folgt seinem Helden, einem 23-jährigen Jungen durch die Straßen Athens. Yorgos ist so arm, dass er kein Geld zum Essen hat. Er wühlt in Mülltonnen, stiehlt von Toten und frisst seinem Vogel die Körner weg, wie der Titel schon verrät: "Boy Eating the Bird’s Food". Mit Handkamera und zahlreichen Großaufnahmen setzt Lyzigos seinem jungen Helden ein Denkmal, inspiriert durch die aktuelle Situation auf den Straßen Athens wie auch durch Knut Hamsuns Roman „Hunger“. Diesen schrieb Hamsun 1886 aus der Ich-Perspektive – basierend auf eigenen Erfahrungen – und macht das Seelenleben seines Protagonisten, seine Irrungen und Wirkungen nahe des Wahnsinns zum Gegenstand seiner Betrachtungen. Der erste Satz des Buchs beschreibt bereits in konzentrierter Form die Atmosphäre, die das ganze Buch durchzieht und die in ähnlicher Form Lyzigos Film beherrscht: "Es war in jener Zeit, als ich in Kristiana umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist."

Gezeichnet von Lakonie sind alle Filme des Finnen Aki Kaurismäki, der eine Werkschau mit einem knappen Dutzend seiner wichtigsten langen Filme zeigt, inklusive seines letzten Werks, "Le Havre" (2011), der in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme zu sehen war. Mit diesem Film kehrt Kaurismäki zum französischsprachigen Film zurück, und besetzt erneut die Hauptrolle des Marcel Marx mit André Wilms, wie er dies bereits vor zwanzig Jahren in seinem Film "Das Leben der Bohème" getan hat. Der Name bezieht sich auf den Regisseur Marcel Carné ebenso wie auf Karl Marx. Der erfolglose Schriftsteller Marcel Marx hat sich mittlerweile mit seiner Erfolglosigkeit abgefunden, er lebt in Le Havre mehr schlecht als recht. Dennoch nimmt er sich Idrissas an, eines illegalen Flüchtlingsjungen, der versucht, sich ohne Papiere bis nach London durchzuschlagen. "Le Havre" ist mehr Märchen als Sozialdrama oder soziale Utopie, im Alter wird der Pessimist Kaurismäki versöhnlicher und verzaubert mit seiner ganz eigenen, magischen Perspektive auf die Dinge. Festivaldirektor Dimitri Eipides und Kaurismäki kennen sich seit über 30 Jahren. Kaurismäki wird es nicht müde zu beteuern, dass jeder Film sein letzter Film ist, aber wir können hoffen, dass er uns noch viele Märchen schenken wird.

Ein weiterer Fokus des Festivals lag auf der kompletten Werkschau des rumänischen Regisseurs Cristian Mungiu, der vor fünf Jahren für sein Abtreibungsdrama "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" die Goldene Palme in Cannes gewann und für seinen neuesten Film "Beyond the Hills" für das Beste Drehbuch in Cannes ausgezeichnet  wurde. Seine beiden Hauptdarstellerinnen Cristina Flutur und Cosmina Stratan teilten sich dort den Preis für die Beste Darstellerin. Wieder erzählt Mungiu von einer Grenzen überschreitenden Frauenfreundschaft: Der Fall eines 24-jährigen Mädchens, das 2005 in ein rumänisches Kloster eintrat und wenige Wochen später nach einem Exorzismus tot war, bildet die Grundlage für die 2,5-stündige Geschichte, die in langen Einstellungen und fast ganz ohne Musik erzählt wird. Mungiu zeichnet seine Charaktere meisterhaft, nach dem Film bleibt man lange irritiert zurück, denn es ist alles andere als einfach zu urteilen über das, was man gesehen hat. Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Der Film hallt noch lange nach, auch wenn man auf einem Festival ist und täglich mehrere Filme sieht. Insgesamt wurden 150 Filme aus 54 Ländern gezeigt.

Nach zehn Tagen Auszeit von der Krise kehrt der Alltag wieder ein, der auch während des Festivals durch einen mehrere Tage andauernden Generalstreik und mehrere Demonstrationen unterbrochen wurde. Bei der feierlichen Preisverleihung im Olympion auf dem Aristoteles Square stürmt ein Trüppchen Demonstranten vor Beginn der eigentlichen Veranstaltung die Bühne, wirft Flyer in die Luft und klärt mit einem Transparent in griechischer Sprache über Missstände auf. Das nimmt ihnen keiner übel, sie nutzen die Präsenz der Medien und bald schon wird die Krise dort wieder Tagesthema sein. Dennoch, und das ist mehr als beruhigend, wüsste man nicht, dass sich das Land in einer tiefen Krise befindet, vielleicht würde man es nicht einmal merken. Klar, ca. 20 % der Läden in der Innenstadt sind geschlossen, aber die Bars und Cafés sind voll wie immer, das Leben wird gelebt und gefeiert, heute, hier und jetzt.

Die Preise des Festivals finden sich hier:
http://tiff.filmfestival.gr/default.aspx?lang=en-US&page=1071&newsid=1731

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